Millionen Deutsche leiden an Demenz. Wohnen zehn Erkrankte in einer WG, kann das mehr als nur Pflege sein. Und auch Angehörige profitieren – werden aber auch besonders gefordert bei dieser alternativen Wohnform.

Sechs bis zwölf ältere Menschen wohnen zusammen in einer WG. Alle vergessen mal ihre Hausschuhe, das Portemonnaie oder auch die Namen der eigenen Kinder. Was heute war, ist morgen weg. Das ist Alltag in Demenz-WGs: Ein Ort, der für die immer größer werdende Zahl an Erkrankten in Deutschland mehr Selbständigkeit und passendere Pflege ermöglichen könnte.

Immer mehr Demenzpatient*innen

Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sind etwa 1,8 Millionen Deutsche dement. Bis 2050 könnten eine weitere Millionen Erkrankte hinzukommen. Die deutsche Bevölkerung altert schnell und mit zunehmendem Alter steigt auch das Demenzrisiko.

Diese Entwicklung ist für die Pflege eine Herausforderung. Für Menschen mit Demenz sind eine einfühlsame Fürsorge, Beständigkeit und eine vertraute Umgebung wichtig. Nicht immer können klassische Pflegeeinrichtungen eine so intensive Betreuung leisten.

Demenz-WGs: Die bessere Lösung?

Was ist ein ambulanter Pflegedienst?

Ein ambulanter Pflegedienst leistet die Pflege sowie die Unterstützung der Angehörigen von Pflegebedürftigen zuhause. Es handelt sich also um mobile Pflegedienste.

Johanna Grünhagen ist Koordinatorin für die WG-Begleitung in Demenz-WGs bei der Alzheimer Gesellschaft in Hamburg. In den Wohngemeinschaften wohnen etwa sechs bis zwölf Menschen mit Demenz zusammen, ein ambulanter Pflegedienst kümmert sich ganztägig um sie. Alles rund um die Wohnung, wer einzieht, Anschaffungen, Renovierungen, die Farbe der Gardinen und die Beauftragung des Pflegedienstes regeln die Angehörigen selbst. Sie müssen sich deswegen auch eng untereinander abstimmen.

Eine Demenz-WG kann für Erkrankte die beste Lösung sein, sagt Grünhagen: „Also ich finde, es ist die beste Möglichkeit für die meisten. Nicht für alle, aber für die meisten Menschen mit Demenz, weil sie einen ganz anderen Betreuungsschlüssel haben als in einer, sagen wir mal, normalen Wohneinrichtung.“

„Ein bisschen wie zu Hause bleiben“

Den Demenzerkrankten stehen sowohl private Räume als auch geteilter Wohnraum zur Verfügung. Die Alzheimer Gesellschaft unterstützt beim Aufbau von Demenz-WGs in Hamburg, vermittelt Wohnplätze und steht den Angehörigen beratend zur Seite.

Johanna Grünhagen von der Alzheimer Gesellschaft in Hamburg steht vor einem Plakat.
Johanna Grünhagen von der Alzheimer Gesellschaft in Hamburg ist Koordinatorin für die WG-Begleitung in Demenz-WGs. Foto: Laurenz Blume

Das Konzept der Demenz-WG stellt ein stärkeres Miteinander von Angehörigen bei gleichzeitiger intensiver Pflege in den Mittelpunkt. Die Bewohner*innen werden rund um die Uhr pflegerisch betreut. Durch die Zusammenarbeit der Angehörigen verteilt sich die Organisationslast außerdem auf mehrere Schultern.

Auch für die Familie würden die WGs viele Möglichkeiten bieten, das Leben mit ihren erkrankten Angehörigen selbst zu gestalten, sagt Grünhagen. „Es ist eigentlich ein bisschen wie zu Hause bleiben, bloß mit einer besseren Versorgung und mehr Menschen, die sich kümmern.“

Grünhagen sagt, viele Bewohner*innen seien in den WGs wieder „aufgelebt“. Oft käme es vor, dass Angehörige von Demenzerkrankten diese wieder aus anderen Pflegeeinrichtungen nehmen und in eine Demenz-WG geben würden, damit sie besser versorgt werden.

Intensive Betreuung als Pluspunkt

Die intensive Betreuung in den überschaubar großen WGs kann die Angehörigen entlasten. Für Birgitt Sgonina war das ein Gewinn. Die 73-Jährige gründete 2012 für ihre erkrankte Mutter eine Demenz-WG in Hamburg Altona mit: „Die (Bewohner*innen) werden eben nicht nur versorgt mit Essen und Trinken und Sauberkeit, sondern vielmehr eben mit Beschäftigung und vor allen Dingen auch mit in den Arm nehmen und so weiter", sagt sie. Das sei der riesen Unterschied. "Ich war vom ersten Tag an das erste Mal wirklich richtig entspannt, seit sie da gewohnt hat“, so Sgonina.

„Ich war das erste Mal wirklich richtig entspannt, seit sie da gewohnt hat.“

Auch nach dem Tod ihrer Mutter ist sie heute weiterhin als sogenannte Wohnpatin ehrenamtlich in der WG tätig, die sie damals mitgegründet hat, und verbringt zwei Mal die Woche Zeit mit den Bewohner*innen. Sie unterhält sich mit ihnen, liest Geschichten vor, hört zusammen Musik, geht gemeinsam mit ihnen spazieren.

Alternative Wohn- und Pflegeformen

Demenz-WGs sind Teil neuer Wohnformen für ältere Menschen abseits klassischer Pflegeeinrichtungen, sogenannten Wohn-Pflege-Gemeinschaften. Sie gibt es, wie die von der Alzheimer Gesellschaft koordinierten Demenz-WGs, sowohl in Eigenverantwortung organisiert als auch in Zusammenarbeit mit Trägern.

Hierbei kümmert sich im Gegensatz zu der selbstverantworteten Variante der Träger um alles rund um die Wohngemeinschaften. Dazu gehören die Bereitstellung der Mieträume, die Betreuung, die Organisation der Pflege und die Versorgung im Alltag. Im Vordergrund steht, weiterhin einen privaten Lebensraum und auch Selbständigkeit zu erhalten – bei gleichzeitiger Gemeinschaft und passender Pflege.

Auch andere alternative Wohnformen im Alter wurden in den vergangenen Jahren beliebter. Einige Beispiele:

  • In Mehrgenerationenhäusern wohnen ältere und jüngere Menschen zusammen und helfen sich gegenseitig
  • Beim Wohnen für Hilfe erhalten Studierende bei älteren Menschen ein günstiges Zimmer und unterstützen im Gegenzug im Haushalt und Alltag
  • Es gibt auch Senior*innen-Häuser, in denen die Senior*innen in eigenen, altersgerechten Wohnungen leben, wobei ihnen Gemeinschaftsangebote und bei Bedarf jederzeit Hilfe zur Verfügung steht

Demenz-WG häufig teurer als das Pflegeheim

In den Demenz-WGs gibt es auch Hürden, die intensive Pflege kommt mit einem Preis. Die Kosten für die Bewohner*innen sind hier meist höher als in klassischen Pflegeeinrichtungen. Das liegt auch daran, dass Eigenanteile, anders als in Pflegeheimen, aktuell nicht gedeckelt sind.

Die Demenz-WG in der Hospitalstraße in Altona, die Sgonina mitgegründet hat, fächert die monatlichen Kosten für Bewohner*innen auf der eigenen Webseite auf: Etwa 600 Euro Miete, 415 Euro Haushaltskosten und individuelle Pflegekosten ab etwa 3500 Euro, abzüglich des Pflegekassenanteils. Die WG warnt auf ihrer Seite, dass für Selbstzahler*innen "die Kosten eventuell Ihr Erbe auffressen können". Im Gegensatz dazu beträgt die durchschnittliche Eigenleistung in stationären Pflegeeinrichtungen in Hamburg laut der Hamburger Sozialbehörde monatlich rund 3089 Euro.

Dass man einen Platz in einer WG bekommt, ist auch nicht klar. Wartelisten sind vielerorts lang. Wer in eine selbstverwaltete Demenz-WG einzieht, entscheiden die Angehörigen der WG-Bewoher*innen gemeinsam. Erkrankte und ihre Angehörigen sollten zur WG passen. Zwischen den Angehörigen sollte ein gutes Klima herrschen, sie müssen einiges gemeinsam organisieren. Zwischenmenschliche Probleme könnten sich auch auf die sensiblen Demenzerkrankten oder die Abläufe in der WG auswirken.

Pflegenot auch in Hamburg präsent

Auch mit all den alternativen Konzepten sieht sich die Pflege mit vielen Problemen konfrontiert. Das spürt auch Hamburg: Immer mehr Pflegeheimplätze fallen hier weg, bei gleichzeitig großer Nachfrage. 2024 haben bereits fünf Pflegeheime geschlossen, hunderte Plätze sind weggebrochen. Weitere Schließungen werden 2025 folgen. Über den Verlust von mehr als der Hälfte der Plätze in einem Eppendorfer Pflegeheim berichtete kürzlich die "Bild-Zeitung".

Meist sind finanzielle Probleme aufgrund fehlender Fachkräfte der Grund dafür. Denn fehlen ausreichend Fachkräfte, müssen die Heime auch ihre Bewohnerplätze reduzieren. Dabei gibt es den Bedarf. Fachkräfte sind das, was eine immer älter werdende Gesellschaft eigentlich dringend braucht. In der Pflege und in sozialen Berufen spüren die Einrichtungen bereits heute, wie schwierig es ist, Personal zu finden. Im schlimmsten Fall könnten in Deutschland bis 2049 bis zu 690.000 Pflegekräfte fehlen.

Neue Fachkräftequote in Pflegeheimen in Hamburg

Der Hamburger Senat hat Anfang Oktober 2024 Änderungen für die Fachkräftequote in Pflegeheimen beschlossen. Zuvor mussten 50 Prozent der Pflegekräfte Fachkräfte sein. Künftig kann diese Quote auch geringer sein, abhängig von der Qualität der Pflege in dem jeweiligen Heim. Heime mit einer guten Pflegequalität in den vergangenen zwölf Monaten können den Anteil der Fachkräfte auf 40 Prozent reduzieren, bei einer hohen Qualität sogar ganz frei entscheiden. Bei schlechter bewerteten Einrichtungen bleibt die Quote bei 50 Prozent.

Finanzierungsnot und Personalmangel in der Pflege

Mehr in den Arm nehmen, wie bei Birgitt Sgoninas Mutter – das wird in der Pflege in Zukunft schwieriger. Die Deutschen werden älter, die Bevölkerung schrumpft, eine passende Betreuung in erreichbarer Nähe wird für viele seltener. Auch die besten Pflegekonzepte benötigen schließlich Personal.

Johanna Grünhagen wünscht sich mehr Investitionen in den sozialen Bereich. Für die 48-Jährige bemisst sich der Wert einer Gesellschaft auch daran, wie sie mit denen umgeht, „die Unterstützung brauchen“. Daneben könnten auch alternative Pflegekonzepte und neue Wohnformen angesichts der Entwicklungen immer wichtiger werden. Passende Pflegekonzepte sind zusammen mit der Finanzierung und dem Personal wohl mit die wichtigen Stellschrauben, um den demographischen Herausforderungen zu begegnen.

Laurenz Blume, Jahrgang 1999, behauptet von sich selbst, er mache die besten Zimtschnecken. Für die "Neue Osnabrücker Zeitung" schrieb er unter anderem über Schnecken im Garten, Schützenfeste im Norden und tickerte zu "Aktenzeichen XY". Während seines Praktikums bei Spiegel TV recherchierte er für das investigative Dokuformat "Die Spur", führte Vorgespräche mit Protagonisten und begleitete einen Dreh. In seinem Geburtsort Kiel absolvierte Laurenz den Bachelor in Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation. Ausgerechnet als Nordlicht stammt sein einziger Pokal von einem Skirennen. Die Zimtschnecken hätten aber auch einen verdient, sagt die FINK.HAMBURG-Redaktion. Kürzel: lab

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