Sie stemmen nicht nur Shows, sondern einen 24-Stunden-Betrieb. So hart das Tourleben ist: Beim Zirkus Frank würde man es für nichts eintauschen – ein Blick hinter das rot-weiße Zelt, wo Arbeit und Leben eins sind.
Im Zirkuszelt ist es dunkel als ein zischendes Geräusch ertönt. Nebel steigt auf und breitet sich langsam aus. Eine Gestalt bewegt sich in der Manege – schemenhaft, nur zu erahnen. Dann setzt Musik ein, das Publikum beginnt zu klatschen. Licht flutet das Zelt – in Blau, Lila und Rot. Hoch oben schwebt eine Artistin in einem Reifen über der Manege. Die Show beginnt!
In Hamburg-Osdorf steht das rot-weiß gestreifte Zelt des Zirkus Frank an diesem Nachmittag im Mai auf einem ehemaligen Baumarkt-Parkplatz. Seit 80 Jahren tritt der Zirkus auf, inzwischen in achter Generation. Die genaue Zahl der in Deutschland aktiven Zirkusse ist nicht bekannt. Der Verband Deutscher Circusunternehmen (VDCU) schätzt sie auf rund 250. Patrick Sperlich leitet den Familienbetrieb Zirkus Frank gemeinsam mit seinem Schwager. Sperlich ist seit 26 Jahren dabei. Aufgewachsen ist der 42-Jährige in einer Schaustellerfamilie mit Marionettentheater. Den Weg in die Manege findet er über seine Frau Charleen; sie stammt aus der Zirkusfamilie Frank.
Im Zirkus Frank packen alle mit an
Ein Junge nimmt Tickets entgegen. Zwei Mädchen, sie sind Cousinen, begrüßen lächelnd die Menschen am Eingang. Ein Artist läuft durch die Reihen und verkauft bunte Leuchtstäbe. Weitere Zirkuskinder verkaufen Zuckerwatte und Popcorn. Bis zu 25 Personen arbeiten im Zirkus Frank, die meisten sind miteinander verwandt. Es werde auch mal gestritten. Am Ende halte die Familie aber immer zusammen. „Sonst läuft gar nichts”, sagt Zirkuschef Sperlich. „Familie ist das Wichtigste.“

Der Jüngste ist gerade einmal zwei Jahre alt. Sperlichs Sohn Alejandro ist acht, seine Tochter Marylou 15. Beide treten regelmäßig im Zirkus auf. Heute zeigt Marylou eine Hula-Hoop-Nummer und macht Luftakrobatik. Dass sie später im Zirkus bleiben möchte, ist für sie keine Frage. Erst vor zwei Tagen hat sie eine neue Nummer einstudiert, weil ihre Tante wegen eines Bandscheibenvorfalls nicht wie geplant auftreten kann. „Jeder muss für jeden einspringen“, sagt Sperlich.
Auch jenseits der Manege ist das Zirkusleben durchgetaktet. Von Mitte März bis Mitte November tourt die Truppe durch Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Bei Wittenburg hat die Familie ihren festen Standort in der Winterpause. Dann bauen sie ihre Buden auf Weihnachtsmärkten auf und verkaufen Crêpes und Mutzen. Die Zirkusfamilie lebt auch in der Winterpause in Wohnwägen: „Wir können uns gar nicht vorstellen, in einem Haus zu leben“, sagt Sperlich schulterzuckend.
Ein Job, ohne festen Feierabend und ohne Stundenlohn
Der Wecker klingelt um sechs Uhr. Vormittags gehen die Kinder zur Schule – immer gerade in dem Ort, in dem der Zirkus gastiert. Am Wochenende laufen zwei Shows am Tag, jeweils rund zwei Stunden. Wenn das Publikum das Zelt verlässt, wird aufgeräumt und abgebaut. Über Nacht zieht der gesamte Zirkus weiter, am nächsten Morgen wird wieder aufgebaut. Ein 24-Stunden-Job ohne festen Feierabend und ohne Stundenlohn.
Das Publikum sieht nur einen Bruchteil der Zirkusarbeit. Und viele haben mehr als nur einen Job. Charleen Sperlich kümmert sich nebenbei um Make-up, Kostüme und Choreografie. Alle zwei Wochen wird intensiv geworben: Patrick Sperlich und sein Schwager bringen Plakate an Zäunen und Laternenmasten an. Seine Frau und seine Schwägerin werben in Kindergärten und Schulen, bespielen Social-Media-Plattformen.
Eine große Herausforderung sei laut Verband Deutscher Circusunternehmen die Vergabe von Standplätzen sowie die behördlichen Genehmigungsverfahren in Städten. Diese würden zunehmend komplexer und zeitaufwendiger. Auch deshalb tritt der Zirkus Frank seit zwei Jahren ohne seine Ponys auf. „Es gibt viele Plätze, an denen sich keine geeigneten Gehege mehr aufbauen lassen“, erklärt Sperlich.
„So hart unser Zirkusleben auch ist, würden wir es nie für ein anderes geben.“ – Patrick Sperlich
In der Manege geht es um Technik und Präzision: Patrick Sperlich ist auch Feuerspucker. Begleitet von orientalischer Musik und Tänzerinnen in wehenden Gewändern betritt er die Fläche – mit brennenden Fackeln in den Händen. Im Zelt ist es still. Er greift zum Becher mit Pyrofluid, einer brennbaren Flüssigkeit. Keinen Tropfen darf er verschlucken. In dem Augenblick, in dem die Flammen aus seinem Mund schießen, ist die Hitze selbst im Publikum spürbar. Sperlich muss die Luft anhalten. Es darf kein Windstoß ins Zelt ziehen.
Er hat sich beim Feuerstunt schon mehrmals verbrannt. „Wenn du Angst hast, brauchst du gar nicht erst anzufangen“, hat sein Bruder zu ihm gesagt, als er sich das Feuerspucken beibrachte. Alles was im Zirkus Frank gezeigt wird, haben die Artist*innen selbst gelernt oder von Generation zu Generation weitergegeben. Für Artistik-Schulen fehlen sowohl das Geld als auch die Zeit.
Was braucht ein Zirkus, um heute erfolgreich zu sein?
„Zehn unzufriedene Zuschauende können mit einer negativen Google-Bewertung tausend andere vom Besuch abhalten“, sagt Sperlich. Gerade wenn längere Zeit kaum Geld reinkommt – zum Beispiel, weil in Hamburg viele Veranstaltungen gleichzeitig laufen, dürfe man nicht die Nerven verlieren. Ruhig bleiben, weiter Werbung machen, ein gutes Programm zeigen und auf persönliche Empfehlungen hoffen.
Ralf Huppertz, Vorstandsvorsitzender des Verbands Deutscher Circusunternehmen (VDCU), warnt davor, sich allein auf traditionelle Werbung zu verlassen. Plakate und Flyer allein reichten heute nicht mehr aus. Selbst kleine Zirkusse müssten sich auf Plattformen wie TikTok und Instagram einlassen, um sichtbar zu bleiben. Vom oft beschworenen „Zirkussterben“ sei schon vor Jahrzehnten die Rede gewesen – doch „der Zirkus lebt heute immer noch“, sagt Huppertz.
Staatliche Kulturförderung erhält der Zirkus Frank keine. Feste Gehälter gibt es nicht. Bleibt am Monatsende nichts übrig, arbeitet man umsonst. Und selbst wenn sich Rücklagen bilden, ist das Geld oft schnell wieder aufgebraucht – etwa für eine LKW-Reparatur oder notwendige Neuanschaffungen. Hinzu kommen laufende Kosten wie Strom, Wasser und Werbung. Die Standgebühren schwanken stark und liegen zwischen 200 und 5.000 Euro.
„So hart unser Zirkusleben auch ist, würden wir es nie für ein anderes geben“, sagt Patrick Sperlich am Ende der Vorstellung zum Publikum. Am meisten Spaß macht Sperlich am Job, dass sie den Zuschauenden, vor allem den Kindern eine Freude bereiten. „Wenn man in der Manege steht und sieht, wie die Kinderaugen strahlen – das ist schön“, sagt Sperlich. „Dann weiß man, wofür man das alles macht.“
Langsam leert sich das Zelt. Am Ausgang stehen Marylou und ihre Cousine, nehmen Komplimente entgegen. „Tschüss, es war so schön”, ruft eine Zuschauerin ihnen zu. Und drinnen, in der Manege, toben die jüngsten Zirkuskinder – als hätte es keine zweistündige Vorstellung gegeben. Im Zirkus geht es weiter, auch wenn der Applaus längst verklungen ist, denn Stillstand gibt es hier nicht.
Katharina Schöndorfer, Jahrgang 2000, servierte nach dem Abitur Bier und Brezn im Dirndl – in einem bayerischen Wirtshaus mitten in Melbourne. Als Kind überlegte Kathi als Astronautin zum Mond zu fliegen, bis sie merkte, dass Physik nicht ganz ihre Umlaufbahn ist. Heute will sie Journalistin werden. Sie studierte Journalistik, Strategische Kommunikation und Politikwissenschaft in Passau. Im Studium gelang Kathi ihr erster journalistischer Pitch an PULS zum Thema Nacktheit. Die BR-Redaktion kaufte ihr und ihrer Studienkollegin die Themenidee für die PULS Reportage “7 Tage nackt” ab. Nach ihrem Auslandssemester in Estland absolvierte sie Praktika beim BR und dem Münchner Radiosender Gong 96.3. Einen Podcast auf Estnisch? Parem mitte (Besser nicht). Kürzel: kat