Streit gehört zum Leben. Das Streitmobil fährt durch Hamburgs Straßen und schafft einen Raum für Ärger, Gespräch – und ein bisschen Frieden.
Zwischen Bäumen, Wiesen und Spaziergänger*innen steht ein weißer Van. Daneben ein Pavillon mit bunten Fähnchen, auf dem Boden liegen 26 handbeschriebene bunte Keramikfliesen mit Aufschriften wie: „Augenhöhe“, „Wertschätzung“, „Zugehörigkeit“. Es ist das fünfjährige Jubiläum des Streitmobils. Katja Kaiser sitzt auf einem Stuhl vor dem Van und lächelt ihre Gäste an. Auf einem aufgeklappten Schild steht in großen Buchstaben: „Ärgerst du dich?“
Wer mag, kann hier darüber ins Gespräch kommen.
Katja Kaiser ist die Initiatorin des sogenannten Streitmobils, eines weißen Vans, den sie wöchentlich an drei festen Orten in Hamburg parkt. Kaiser ist Sozialwissenschaftlerin, Friedensaktivistin und Botschafterin der Gewaltfreien Kommunikation. Seit 2020 steht sie ehrenamtlich– gefördert vom Bezirksamt – in Altona und bietet Menschen in Konflikt oder Frustsituationen eine neutrale Gesprächsalternative. Die Gespräche sind freiwillig, manche Menschen buchen sich gezielt Termine, andere kommen spontan vorbei.
Rund 300 Gespräche hat das Streitmobil bisher ermöglicht. Meist sind es Einzelpersonen, seltener Paare oder Kinder. Ein Kind war bei Kaiser mit familiären Problemen. „Das Mädchen war zehn und kam mit ihrer Mutter. Es ging um die Patentante, die dem Mädchen immer respektlose Kommandos gab, welche Aufgaben ihr Patenkind erledigen soll. Die Mutter brach darauf den Kontakt zur Patentante ab. Im Streitmobil suchten sie gemeinsam nach einer Lösung. Am Ende fand das Mädchen den Mut ihrer Patentante zu erklären, dass sie so gerne zu Besuch kommt, aber eben nur wenn sie respektvoll behandelt wird.“
Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) geht auf den Psychologen Marshall B. Rosenberg zurück, der sich intensiv mit friedlichen Formen der Konfliktlösung befasste. Sein Modell umfasst vier zentrale Schritte: beobachten, ohne zu bewerten; Gefühle ausdrücken; Bedürfnisse erkennen; konkrete Bitten formulieren. Im Zentrum steht die Verbindung zwischen Menschen, nicht Schuldzuweisung, sondern Beziehung. Die Methode geht davon aus, dass alle Menschen grundlegende Bedürfnisse teilen, etwa nach Sicherheit, Anerkennung oder Zugehörigkeit. Emotionen wie Wut oder Rückzug gelten dabei nicht als Störung, sondern als Hinweise auf diese unerfüllten Bedürfnisse.
Anwendung findet die Methode der gewaltfreien Kommunikation heute in Schulen, sozialen Einrichtungen oder in der Mediation. Hier setzt auch das Streitmobil an. Es lädt Menschen ein, Konflikte konstruktiv zu lösen, für ein friedvolles Miteinander. Zielgruppen sind alle, die in einen Streit geraten sind oder Wut gegen andere Gruppen hegen.
Konflikte verstehen, nicht gewinnen
Ursprünglich lernte Katja Kaiser die Methode im beruflichen Kontext als Sozialpädagogin kennen, später probierte sie sie privat aus, mit spürbarem Effekt. „Streit ist nicht schlimm, aber wie wir streiten, das ist entscheidend.“ Also entwickelte sie das Konzept, kaufte einen Van, ließ ein Logo entwerfen und stellte sich mit ihrem Bus einfach dahin, wo Menschen ohnehin sind: vor den Supermarkt, auf den Marktplatz, in den Park. Auf dem Van steht: „Zuhören und sich verstehen.“
Beim Jubiläum im Volkspark ist die Stimmung gelöst. Menschen sitzen im Schatten, trinken Limo, ein Hund liegt neben dem Pavillon. Auf dem Tisch stehen Plastikbecher, daneben bunte Fliesen und Filzstifte. Es wird gelacht und erzählt. Katja Kaiser geht zwischen den kleinen Tischen umher, hört zu und bleibt immer wieder stehen. „Ich erinnere mich noch an einen der ersten Gäste“, sagt sie. „Ein Corona-Leugner auf einem Motorrad. Der war wütend und hat laut über die Einschränkungen und Masken gemeckert. Wir haben zwei Stunden intensiv gesprochen, am Ende hat er sich bedankt.“

Ein offenes Ohr für Hamburg
Das Streitmobil ist regelmäßig in Hamburg unterwegs: montags in Bahrenfeld, sonntags im Volkspark, mittwochs nach Vereinbarung. Neu ist ein monatlicher Termin in der Hafencity.
Im Inneren des Vans gibt es zwei gegenüberliegende Sitzbänke, davor stehen zwei weiße Klappstühle. Je nach Wunsch finden die Gespräche im Schutz des Mobils oder offener im Freien statt. Es geht um tiefe Themen wie Beziehungskrisen, Einsamkeit oder Überforderung und das Bedürfnis, verstanden zu werden. Dabei wird geweint, gelacht, geschwiegen, alles darf sein.
Das Streitmobil ist offen für alle und wird dadurch zu einem Ort der Intimität. Manche kommen regelmäßig, fast wie zu einer Freundin. Doch auch hier gibt es Grenzen: Wer regelmäßig Zuflucht sucht, wird freundlich, aber bestimmt daran erinnert, dass dieser Ort kein Ersatz für langfristige zwischenmenschliche Beziehungen oder eine therapeutische Begleitung ist. Dann verweist Kaiser an andere Ansprechpartner*innen. Aber: Wer mit ehrlichen Anliegen kommt, findet hier immer einen Raum.
Hinschauen statt wegschieben
Die friedliche Kommunikation beginnt nicht im Gespräch, sondern davor: innehalten, atmen, spüren. „Früher dachte ich, der Ruhige hat mehr Recht als der Laute“, sagt Katja Kaiser. Heute gilt im Streitmobil: Bedürfnisse sind gleichwertig. Es geht nicht ums Gewinnen, sondern ums Begegnen und Verstehen. Es gibt keine Bewertungen, sondern einen neutralen Raum für echte Auseinandersetzung.
Zwei Passant*innen bleiben zunächst zögernd stehen, lesen das Schild, schauen sich um. Katja Kaiser sitzt auf ihrem Klappstuhl vor dem Van, normalerweise mit einem Fachbuch in der Hand. Heute, zur Feier des 5-jährigen Jubiläums sind es stattdessen ein alkoholfreies Bier und eine Zitronen-Tarte.

Foto: Liliana Lütje
Als sie merkt, dass die beiden Interesse zeigen, geht sie freundlich auf sie zu. Manche fragen vorsichtig nach, andere setzen sich einfach dazu. Die Schwelle soll so niedrig wie möglich sein.
Ein Bus voller Bedürfnisse
Alle Fliesen stammen von Besucher*innen, die aufgeschrieben haben, was ihnen in Konflikten fehlt: Klarheit, Nähe, Sicherheit, Zugehörigkeit. Es sind dieselben Bedürfnisse, auf die das Modell der Gewaltfreien Kommunikation aufbaut. Eine Frau in schwarzer Regenjacke hockt sich auf den Boden und nimmt einen Stift in die Hand. Auf ihre rote Fliese schreibt sie: „Respekt“. Dann legt sie sie vorsichtig zu den anderen. Katja Kaiser schaut ihr über die Schulter und nickt.
Liliana Lütje, Jahrgang 2003, setzte als Kind die Küche ihrer Großmutter in Brand. Positive Erinnerungen hat sie hingegen an ihre Zeit als Kinderreporterin, weshalb sie später Digitale Medien mit dem Nebenfach Wirtschaftspsychologie in Hamburg und Lüneburg studierte. Ihre Stärke im Marketing beweist sie in der Betreuung von medizinischen Social Media Kanälen. Kreativ wird Lilli auch abseits des Bildschirms, am liebsten beim Basteln. Ansonsten hat sie fast immer einen guten Rat parat, das zeigte sie auch im “Eltern”-Magazin.
Für gute Geschichten brennt sie noch immer.
Kürzel: lit