Fußball und Politik sind (un-)trennbar – der Fall Jackson Irvine

Krach im Kiezclub

ARCHIV - 29.08.2025, Hamburg: Fußball: Bundesliga, Hamburger SV - FC St. Pauli, 2. Spieltag, Volksparkstadion, Jackson Irvine (FC St. Pauli) vor dem Spiel. (zu dpa: «Konflikt mit St. Pauli: Irvine spricht erstmals öffentlich») Foto: Christian Charisius/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Jackson Irvine ist mehr als ein Fußballer: Er ist ein Prüfstein für den Anspruch des Fußballvereins FC St. Pauli, politisch zu sein. Dass sein Engagement zu Konflikten führt, zeigt, wie schwierig es ist, Haltung im Profifußball ernst zu nehmen, meint FINK.HAMBURG-Redakteur Hendrik Heiermann.

Wer Haltung vorlebt, sollte sie auch dann aushalten, wenn sie unbequem wird. Daran scheitert der Fußballclub St. Pauli in der aktuellen Debatte um seinen Spieler Jackson Irvine. Sicherlich würden viele Fans des Vereins meinen: „Politik gehört zum Fußball wie Jackson Irvine zum FC St. Pauli.” Der Australier, Kapitän des FC St. Pauli, galt lange als Symbolfigur eines Vereins, der Haltung zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Der Hipster mit Schnauzbart und langen Haaren, der den Kiezclub in die Bundesliga köpfte. Kaum vorstellbar, dass diese Heldengeschichte einmal bröckeln könnte. Doch genau das passiert gerade.

Kurz zur Lage, denn sie ist kompliziert: Seit Monaten gärt es in dem Verein. Ausgelöst wurde die Debatte durch ein Social-Media-Posting im Juni diesen Jahres, in dem sich Irvine mit Zivilopfern in Gaza solidarisierte. In dem Post trägt er ein T-Shirt des FC Palestine, auf dem eine Karte der Region ohne die Landesgrenzen von Israel zu sehen war. Das Bild wurde auf dem Instagramkanal von Irvines Frau Jemilla Pir während eines Auftritts der irischen Punk-Band Fontaines D.C. postete. Das Thema kochte medial hoch und Irvine wurde auf Social Media angefeindet, weshalb das Foto kurze Zeit später gelöscht wurde.

Was als Solidaritätsbekundung gemeint war, wurde als Verkürzung des Konflikts verstanden und als implizite Leugnung des Existenzrechts Israels. Irvine zeigte sich anschließend verletzt über die Kritik, ließ aber die Chance verstreichen, sich klar zum Existenzrecht Israels zu bekennen. “Ich habe direkte Nachrichten mit diesem Vorwurf [des Antisemitismus] erhalten und ich bin froh, mal was dazu sagen zu können. Ich habe das als zutiefst beleidigend und verletzend empfunden, so abgestempelt zu werden”, sagte er in einem Interview in der Hamburger Morgenpost im Juli.

Niemand ist größer als der Verein

Der Konflikt wurde schnell größer und vielschichtiger. Neben der politischen Ebene kam eine zweite hinzu: Irvines Rolle im Stadtteil. Gemeinsam mit seiner Frau Jemilla Pir betreibt er den Webshop Ursocool, der St.-Pauli-Stadtteilmerch anbietet, visuell eng an den Verein und das Viertel angelehnt. Diese Form der Selbstvermarktung kommt offenbar nicht bei allen gut an. Denn wenn ein Spieler das Image des Vereins auch kommerziell nutzt, verschwimmen die Grenzen zwischen Identifikation und Eigeninteresse.

Als Aufsichtsratsmitglied René Born vor zwei Wochen unter einem der Merchandiseposts von Jemilla Pir kommentierte: „Nobody is bigger than the club”, eskalierte die Situation endgültig. Er fügte hinzu: „Das ist unser Klub, nicht deiner. Du wirst in wenigen Monaten weg sein und für einen Euro mehr woanders spielen. Wir werden immer hier sein, während du nicht mehr als eine Fußnote bist.”

Eine öffentliche Auseinandersetzung auf Social Media, gefolgt von Entschuldigungen und Gegendarstellungen zwischen Irivines Frau, Born und dem Verein, ließ erahnen, wie tief die Spannungen reichen – innerhalb des Vereins, in der Fanszene und zwischen Verein und Spieler. Der Fall zeigt zugleich, wie sehr soziale Medien Konflikte zuspitzen: Sie machen komplexe Themen sichtbarer, aber auch flacher. Diskussionen, die eigentlich Differenzierung bräuchten, werden dort auf Schlagzeilenlänge verkürzt. Kein geeigneter Ort, um mehrdimensionale Konflikte auszutragen.

Irvine wird zur Belastungsprobe für den Club

Der FC St. Pauli versteht sich als politischer Verein, als Gegenmodell zum glattgebügelten Profifußball. Haltung ist Teil seiner Marke und genau daran scheitert er in diesem Fall. Sobald ein Spieler Haltung zeigt, die nicht hundertprozentig ins Vereinsbild passt, wird sie zur Belastung. Statt offensiv über Differenzen zu sprechen, bittet der Verein darum, Konflikte nicht öffentlich auszutragen. Das ist nachvollziehbar, aber auch bezeichnend. Wer Haltung predigt, muss sie auch dann aushalten, wenn sie unbequem wird.

Gleichzeitig steht Irvine für das, was im Fußball oft fehlt: Werte, Mut und Authentizität. Er ist kein austauschbarer Profi, sondern jemand, der gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt. Der 32-Jährige setzte auch abseits des Rasens Ausrufezeichen, die dem Verein und seinen Fans gefielen: Nicht zuletzt als Gewerkschafter oder LGTBQ-Aktivist, im hetero-normativ geprägten Fußballgeschäft. Auch durch seine langen Haaren mit wechselnden Farben, seinem Bart und seinen Outfits wurde Irvine zum Gesicht des Clubs.

Das passt eigentlich zum FC St. Pauli, einem Verein, der immer mehr als Fußball sein will. Dass ein Spieler mit Meinung plötzlich zum Problem wird, zeigt die Widersprüche eines Systems, das von Haltung lebt, aber Kontrolle behalten will. Der Fall zeigt aber auch, wie gespalten der Verein als Sinnbilld der linken Szene bei diesem Thema ist. 

Der Kapitän verpasst zweite Chance auf Schlichtung

Jüdische Menschen rund um den Verein wünschen sich sicherlich seit dem Vorfall ein erklärendes Statement des Kapitäns, bislang allerdings vergeblich. Anfang der Woche äußerte sich Irvine in einem Interview des australischen TV-Senders ABC. Darin wehrte er sich gegen die Kommentare von René Born: „So eine Nachricht zu bekommen, von einer Person, die in dieser Position ist, war natürlich tief verletzend. Wir hoffen natürlich, dass etwas dagegen getan wird”. Auch diese Äußerung zeigt, wie weit sich beide Seiten voneinander entfernt haben.

Am Ende gibt es in dieser Geschichte keine Gewinner. Weder den Verein, der an seinem Selbstbild kratzt, noch den Spieler, der zwischen Überzeugung und Verantwortung steht. Der Fall Jackson Irvine ist ein Lehrstück über die Grenzen von Social Media und über die Schwierigkeit, Mehrdimensionalität auszuhalten, im Fußball wie in der Gesellschaft.

Von Fanseite gab es sowohl Solidaritätsbekundungen als auch kritische Stimmen. Sportlich und persönlich ist es Jackson Irvine zu wünschen, dass der aktuell verletzte Mittelfeldspieler bald wieder spielen kann, um für sportliche Schlagzeilen sorgt. Sonst könnte sich bald selbst so mancher St. Pauli-Fan denken: „Kann der sich mal wieder auf Fußball konzentrieren und nicht auf Politik?“

Hendrik Heiermann, Jahrgang 1998, prokrastiniert nicht, er tut andere wichtige Dinge. Statt sich seiner Traumkarriere als Eisverkäufer im Sommer und Lokomotivführer im Winter zu widmen, hat er sich dem Journalismus verschrieben.
Hendrik ist in Plochingen bei Stuttgart aufgewachsen, er studierte Spanisch und Lateinamerikastudien in Hamburg. Während eines Praktikums in Mexiko in einer Migrant*innenherberge half er bei einer Geburt, später startete er in Kolumbien einen spanischsprachigen Podcast über Migration. Seit Sommer 2024 schreibt er für “kohero”, ein interkulturelles Hamburger Stadtmagazin. Den Artikel über Eiscreme schreibt er morgen. Ganz bestimmt. (Kürzel: hmh)

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