
Musik eignet sich besonders gut, um Menschen mit Demenz emotional zu erreichen, Erinnerungen zu aktivieren und ihre soziale Teilhabe zu fördern. Ein Klangzeitkonzert in der Elbphilharmonie verfolgt genau diesen Ansatz.
„Wir haben es geschafft“, sagt die Begleiterin und blickt zufrieden auf vier Seniorinnen. Sie überprüft, ob alle bequem sitzen, dann lächelt sie und klatscht mit jeder der vier Seniorinnen nacheinander ab. Die Damen lachen leise und schauen zur Bühne. Immer mehr Besucher*innen nehmen ihre Plätze ein, Stimmen mischen sich zu einem leisen Murmeln, während jung und alt nebeneinandersitzen. Warmes Licht fällt auf die Holzwände im kleinen Konzertsaal der Elbphilharmonie. Die Lichter werden gedimmt, die ersten Töne einer Violine erfüllen den Raum. Ein Mann schließt die Augen. Eine Frau klopft im Rhythmus auf die Armlehne. Das Klangzeitkonzert beginnt.
Aktionstage „Demenz – Mensch sein und bleiben“
Ende September fanden in Hamburg die Aktionstage Demenz unter dem Motto „Demenz – Mensch sein und bleiben“ statt. Anlass war der Welt-Alzheimertag, der weltweit auf die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Demenz aufmerksam macht. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leben in Deutschland derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung.
Demenz ist ein Oberbegriff für verschiedene Erkrankungen des Gehirns, die zu einem fortschreitenden Verlust geistiger Fähigkeiten führen. Dazu gehören Symptome wie Gedächtnisverlust und Orientierungsprobleme. Alzheimer ist die häufigste Form der Demenz. Dabei lagern sich Eiweißstoffe im Gehirn ab, die die Nervenzellen schädigen und zu Gedächtnisverlust sowie Persönlichkeitsveränderungen führen. Kurz gesagt: Nicht jede Demenz ist Alzheimer, aber jede Alzheimer-Erkrankung ist eine Form von Demenz.
Mit Vorträgen, Workshops und Kulturveranstaltungen richteten sich die Aktionstage Demenz sowohl an Betroffene als auch an ihre Angehörigen und alle Interessierten. Ziel ist es nicht nur, über die Krankheit zu informieren, sondern die soziale Teilhabe von Menschen mit Demenz zu stärken. Musik eignet sich besonders gut, um Menschen mit Demenz emotional zu erreichen und Erinnerungen zu aktivieren.

Klangzeitkonzert bildet musikalischen Auftakt
Das Klangzeitkonzert bildete die Auftaktveranstaltung der Aktionstage Demenz in der Elbphilharmonie in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Resonanz. Menschen aller Altersgruppen können während der Konzerte zuhören, mitsingen, sich bewegen. Die Konzertreihe gibt es bereits seit über zehn Jahren. „Wir haben sie damals entwickelt, um Menschen mit Demenz Teilhabe, Musik und Konzerterlebnisse zu ermöglichen“, sagt Anke Fischer, Leiterin des Bereichs Musikvermittlung an der Elbphilharmonie. „Es ist ein speziell konzipiertes Format mit gezielt ausgewählten Stücken und Mitsing-Anteilen, das an verschiedenen Orten in Hamburg stattfindet“, erklärt sie.
Eine Stunde voller Musik und Teilhabe
Die Musik der Klangzeitkonzerte soll auch Erinnerungen wecken. „Wir suchen nach Liedern, die Erinnerungen wachrufen – traditionelle Volkslieder oder bekannte klassische Melodien, die wiedererkannt und mitgesungen werden können“, sagt Anke Fischer. Dass dieses Konzept funktioniert, erlebt sie regelmäßig. „Meistens kennen die Menschen sogar die zehn weiteren Strophen auswendig und singen mit, ohne aufs Programmheft zu schauen“, sagt Fischer. Die Konzerte sind auf eine Stunde begrenzt, um Überforderung zu vermeiden, und finden nachmittags statt. Das hilft jenen, die abends keine Kraft mehr hätten. Die Konzerte finden in barrierefreien Räumen statt. Ein Ticket gibt es ab zehn Euro.
„Lehn dich zurück und entspann dich“
Die Scheinwerfer an der Decke werfen Licht auf die kleine Bühne. Das Ensemble Resonanz stimmt die ersten Takte von „Zum Tanze da geht ein Mädel“ an – sofort klatschen Zuhörer*innen im Takt. Währenddessen sagt eine junge Frau zu einem älteren Mann: „Lehn dich zurück und entspann dich, damit du auch bloß den Ton triffst.“ Beide fallen in leises Gelächter. Immer mehr Menschen erheben sich von ihren Stühlen. Vorne spielt ein junger Mann den Kontrabass, ein älterer Herr begleitet ihn auf der Laute. Die blonde Frau auf der Bühne legt ihre Violine beiseite, tritt an den Rand der Bühne und beginnt zu singen: „Zum Tanze da geht ein Mädel mit güldenem Band…“. Im Saal entsteht ein Chor. Manche folgen den Zeilen auf einem Liedblatt, andere schließen die Augen. Ein vielstimmiger Gesang erfüllt den Konzertsaal.

Musik gegen das Vergessen
Emotionale Fähigkeiten und Bedürfnisse bleiben bei Demenzerkrankten noch lange erhalten, obwohl die Denk- und Sprachfähigkeiten eingeschränkt sind. Vertraute Melodien und Lieder aus der Jugend und Kindheit aktivieren Hirnareale, die oft länger funktionsfähig bleiben als Sprachzentrum oder Kurzzeitgedächtnis. Einer Meta-Analyse von Frontiers Medicine aus dem Jahr 2020 zufolge, kann Musiktherapie die kognitiven Fähigkeiten bei Menschen mit Demenz verbessern. Besonders das passive Hören von Musik stärke kognitive Funktionen, was einen positiven Effekt auf das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und Sprache habe.
Eine weitere Meta-Studie im „Journal of the American Geriatrics Society“ zeigt, dass aktives Musizieren – also Singen, Instrumentalspiel oder Improvisation – das emotionale Wohlbefinden fördert. Demenzerkrankte würden sich nach der Musiktherapie ausgeglichener und wacher fühlen, zeigen mehr Freude und soziale Offenheit. Zwar hält dieser Effekt laut den beiden Studien nicht dauerhaft an, doch regelmäßige musikalische Impulse scheinen langfristig depressive Symptome zu lindern.
Das Langzeit-Musikgedächtnis bleibt erhalten
Demenzerkrankte können Musik weiterhin wahrnehmen. Im Vergleich zu anderen Teilen des Gedächtnisses bleibt das Langzeit-Musikgedächtnis von Demenzerkrankten oftmals lange funktionsfähig. Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften haben ein Gehirnareal entdeckt, das für diese Fähigkeit entscheidend ist.
Mit Hilfe von vertrauter Musik können Betroffene wieder an Erinnerungen anknüpfen, Emotionen erleben und Eindrücke wachrufen. Manchmal gelingt es ihnen sogar, ganze Liedzeilen mitzusingen, obwohl das Sprechen sonst kaum noch möglich ist. „Dies ist die erste neurowissenschaftliche Studie, die eine anatomische Erklärung für den Erhalt des Musikgedächtnisses liefert“, so Jörn-Henrik Jacobsen vom Max-Planck-Institut in Leipzig und der Universität Amsterdam.

Konzerte an wechselnden Orten
Die Klangzeit-Konzertreihe findet an wechselnden Orten in der Stadt statt. „Für eine Woche sind wir unterwegs, spielen in verschiedenen Einrichtungen, begegnen Menschen dort, wo sie leben“, erklärt Fischer. Die Konzertreihe für die Saison 2025 ist beendet. „Im Frühjahr wiederholen wir dieses Format, sodass wir zwei Blöcke haben, in denen wir jeweils eine Woche lang die Konzertreihe spielen können“, sagt Fischer.
Neben den Klangzeitkonzerten in der Elbphilharmonie finden auch in anderen Städten Konzerte für Menschen mit Demenz statt, organisiert von Kirchengemeinden, Pflegeeinrichtungen oder Konzerthäusern. Dazu gehören Mitsingveranstaltungen der Josef-und-Luisi-Kraftstiftung in der Isarphilharmonie München oder Musiktherapie-Projekte des Nordbayerischen Musikbundes wie „Länger fit durch Musik“.
Musik in einem persönlichen Rahmen
In den vergangenen Konzertwochen spielte das Ensemble nicht nur auf Bühnen, sondern auch in Senioreneinrichtungen. „Wir haben in kleinen Gruppen musiziert, manchmal sind Solist*innen auch in Räume gegangen und haben für Einzelpersonen gespielt“, erzählt Fischer. Gerade in Pflegeeinrichtungen sei das Erleben besonders intensiv.
In diesem Format sind die Musiker*innen des Ensemble Resonanz dem Publikum ungewöhnlich nah und jede Reaktion ist spürbar.
„Dann ist man mit Tränen, mit purem Glück, mit Tanzen, mit spontanen Äußerungen und manchmal auch mit Wut konfrontiert“ – Anke Fischer
Es erfordere viel Expertise und intrinsische Motivation seitens der Musiker*innen, um Menschen mit Demenz ein besonderes Konzerterlebnis zu ermöglichen. „Das macht diese Konzerte so besonders, weil Musik ganz viel mit Emotionen macht“, erklärt Fischer. „Dann ist man mit Tränen, mit purem Glück, mit Tanzen, mit spontanen Äußerungen und manchmal auch mit Wut konfrontiert”, sagt Anke Fischer.
Reden mitten im Konzert – ausdrücklich erlaubt
Während die Musik läuft, entstehen Gespräche – lang und laut. „Genau das ist es, was möglich sein darf und soll“, sagt Fischer. „Es ist schon vorgekommen, dass Menschen aufgestanden sind und getanzt haben. Andere möchten sich mitten im Konzert bedanken oder kommen danach auf uns zu, um uns zu umarmen“, sagt sie.
Die letzten Töne der Violine verklingen. Für einen Moment herrscht Stille – dann braust der Jubel der Besucher*innen auf. Manche Stimmen rufen „Bravo“, einige pfeifen, eine Frau flüstert: „Das war wirklich schön.“ Die Zuhörer*innen stehen auf, um die fünf Musiker*innen mit einem langen Beifall zu feiern. Diese stehen in einer Reihe vor der Bühne und verbeugen sich, ihre Gesichter erfüllt von Erleichterung und Freude. Eine ältere Frau in der vorderen Reihe greift nach der Hand ihrer Nachbarin; mit glänzenden Augen werfen sie sich einen Blick zu.
Die Besucher*innen verlassen langsam den Saal, umgeben von ihren Familien oder Begleiter*innen, die ihnen dieses Konzerterlebnis ermöglicht haben. Auch die vier Senior*innen werden von ihrer Begleiterin nach draußen geführt. Sie lächeln.
Paula Maria Coscia, Jahrgang 2000, kocht laut ihrer Freunde die beste Bolognese. Sellerie, Rotwein und (ihre italienischen) Wurzeln sind ihr Geheimnis. Passend zu ihrer Leidenschaft für Kulinarik berichtete sie als Videojournalistin für Sat 1 über die Torten einer familiengeführten Konditorei. Als sie 2019 in Hong Kong vor gewalttätigen Auseinandersetzungen fliehen musste, versteckte sie sich bei McDonalds. Dieses Erlebnis hat sie nicht davon abgeschreckt, die Welt weiter entdecken und darüber berichten zu wollen. Erst einmal geht sie nach Hamburg – nicht weit von ihrer Heimatstadt Kiel, wo sie Deutsch und Philosophie studierte. Kürzel: cos







