Gaming bietet neue Möglichkeiten, um an die NS-Zeit zu erinnern. Ein Videospiel der Hamburger Gedenkstätten ermöglicht es jungen Menschen, sich auf spielerische Art mit der deutschen Geschichte zu beschäftigen.
„Warum können die Erwachsenen denn nicht einfach erzählen, wie es war?” Diese Frage stellt sich Karsten, nachdem weder sein Vater noch der Hausmeister seine Fragen beantworten wollen. Wieso wurden die Fenster seiner Schule einst zugemauert? Und warum verarbeiten sie heute im Werkunterricht die Überreste alter Stockbetten? Es ist Ende der 1970er Jahre und Karsten besucht die Schule am Bullenhuser Damm in Rothenburgsort, Hamburg.
„Mein Vater hat alles versucht, um Tuberkulose zu heilen.” Diesen Satz sagt der Doktor zu Akin. Doch dann erfährt Akin, dass eben dieser „liebevolle Vater” einst wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde.
„Und was ist dann passiert?”, fragt Kati ihre Oma. Sie stehen vor einer großen Synagoge. „Dann sind die Deutschen passiert.” Kurz darauf liegt der Platz in Trümmern.
Kati, Akin und Karsten sind fiktive Charaktere. Ihre Geschichten basieren aber auf wahren Geschehnissen. Die Schüler*innen sind Figuren im Videospiel „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm”. Entwickelt wurde das sogenannte Digital Remembrance Game von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte gemeinsam mit dem Berliner Studio Paintbucket Games. Das 2024 veröffentlichte Spiel war in diesem Jahr sogar für den Deutschen Computerspielpreis nominiert.
Den Hausmeister aus Karstens Geschichte gab es wirklich, ebenso die Stockbetten und die Tuberkulose-Experimente. Immer wieder reist man im Spiel in Erinnerungen aus der NS-Zeit. Doch das Spiel ist nicht düster und traurig. Die Geschichte spielt in bunten und liebevoll gezeichneten Szenen rund um das Jahr 1979 in Hamburg. Das Ziel: Kindern und Jugendlichen vermitteln, was Erinnern bedeutet und was wirklich in der Schule am Bullenhuser Damm passierte.

Die Geschichte der Schule am Bullenhuser Damm
Das massive rote Klinker-Gebäude steht noch heute inmitten eines Gewerbegebietes in Rothenburgsort. Im Zweiten Weltkrieg wurden die umliegenden Gebäude weitgehend zerstört. Die Schule am Bullenhuser Damm ist der Ort eines unglaublichen Verbrechens. In der Nacht zum 21. April 1945 ermordete die Schutzstaffel (SS) im Keller des Schulgebäudes 20 jüdische Kinder, ihre vier Betreuer, sowie mindestens 24 sowjetische KZ-Häftlinge. Die Nazis hatten die Kinder zuvor aus Auschwitz in das KZ Neuengamme gebracht, um pseudo-medizinische Menschenexperimente an ihnen durchzuführen. Kurz vor der Kapitulation sollten die Verbrechen vertuscht werden. Das Schulgebäude diente zu dieser Zeit als KZ-Außenlager.
Bereits wenige Jahre nach Kriegsende wurde die Schule wiedereröffnet. Eine Gedenktafel, die auch im Videospiel eine entscheidende Rolle spielt, gab es jedoch erst ab 1963. 1980 eröffnete durch eine private Initiative von Angehörigen eine Gedenkstätte in dem Gebäude. Fast 20 Jahre später wurde der Gedenkort dann in die KZ Gedenkstätte Neuengamme eingegliedert und wird seitdem von der Stadt Hamburg getragen. Die Mitarbeitenden der Gedenkstätte bieten auch Workshops für Schulklassen an.

Junge Menschen mit Geschichte nicht überwältigen
„Wir wollten die Taten der SS nicht nachspielbar machen, deshalb leben die spielbaren Charaktere im Jahr 1979, in einer Zeit, in der die Großeltern der heutigen Spieler jung waren. Es ist eine Zeit, in der man coole Klamotten trägt. Außerdem gab es zu der Zeit noch keine etablierte Erinnerungskultur, wie wir sie heute haben”, sagt Iris Groschek. Sie ist Historikerin und in der Stiftung Hamburger Gedenkstätten für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Sie hat auch die Ausstellung im Keller des ehemaligen Schulgebäudes kuratiert. „Für mich war es auch ungewöhnlich, ein Game zu entwickeln, aber ich hatte Lust darauf, weil ich neue Angebote für junge Leute machen möchte. Es ist toll, dass wir eine Ausstellung vor Ort haben, aber es ist auch wichtig, junge Menschen mit ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen.”

Insgesamt bietet das Spiel fünf spielbare Jugendliche, die alle auf verschiedene Arten mit der Vergangenheit konfrontiert werden. Es geht dabei nicht nur um die Geschichte der Schule selbst, sondern auch um den Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit Schuld und Erinnerung. Im Spiel selbst geschieht dies meist durch Dialoge, die man auslöst, indem man Gegenstände anklickt. Die Spieler*innen sammeln dabei in jedem Kapitel sechs Erinnerungen, die am Ende mit den realen Ereignissen verknüpft werden.
Kleine Momente verknüpfen zu einem großen Ganzen
Da ist zum Beispiel Kati, die einen Apfelkuchen für ihre Mutter backen will und dafür ihre polnische Oma anruft. Diese erzählt ihr, wie sie im Krieg nur noch in manchen Geschäften einkaufen konnte und ganze Stadtteile gesperrt waren. Und da ist Van, der leidenschaftlich gerne Briefmarken sammelt. Als er eine vietnamesische Briefmarke abholen will, erlebt er einen rassistischen Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft. Ein Journalist erzählt ihm von einem rechten Angriff, der seine eigene Schule getroffen hat. Aber warum sollte jemand Vans Schule angreifen?
Durch die spielbaren Geschichten entstehen Bezüge zu echten Ereignissen, die sich am Ende jedes Kapitels im sogenannten Erinnerungsraum in kurzen Videos entdecken lassen. Tatsächlich ist ein Briefmarkenalbum einer der wenigen persönlichen Gegenstände, die von den historischen Kindern vom Bullenhuser Damm geblieben sind. „Das ist ein emotionaler Moment, wenn die Jugendlichen während einer Führung entdecken, wo spielerische Elemente aus dem Game auf die Wirklichkeit treffen. Wenn ich eine Führung mit den Jugendlichen mache, die zuvor das Spiel gespielt haben, dann kann ich so in einen Dialog treten”, erzählt Iris Groschek.
Gaming als Teil der Erinnerungskultur

Professor Eric Jannot forscht an der HAW Hamburg zu Videospielen in der politischen Bildung. Außerdem ist er Leiter eines eigenen Entwicklerstudios für sogenannte Serious Games. „Spiele können einen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten als vollwertiges Medium, indem sie die eigenen erzählerischen Mittel zum Besten nutzen”, sagt er. Dies sei vor allem die Interaktivität: „Wie kann ich jetzt in dem Rahmen, der mir geboten wird, handeln? Was bedeutet das, was ich tue? Wo ich in Büchern oder Filmen eher darüber nachdenke, was andere tun und warum sie es getan haben, stehe ich bei Games mehr im Vordergrund. Games schaffen so mehr Nähe.”
Ein Problem in der Entwicklung von Serious Games sei aber, dass die Games-Förderung stark wirtschaftlich ausgerichtet sei. Entwickler*innen müssen teils vorher nachweisen, dass ihr Spiel kommerziell erfolgreich sein wird. „Natürlich erschwert es das deutlich, solche Projekte zu machen. Wir brauchen deshalb eine Förderung für gehaltvolle Spiele, die sich an Modellen wie der kulturellen Filmförderung orientiert”, sagt Prof. Jannot.
Auch Iris Groschek erzählt, dass sie mehrere Jahre nach einer Finanzierung für das Gedenk-Spiel suchen mussten. Die Förderung wurde am Ende von der privaten Alfred Landecker Foundation übernommen. „Es gibt keinen Stillstand in der Erinnerungskultur. Und gerade in der digitalen Welt, die ja per se schon so schnell ist, müssen auch Erinnerungsorte und Museen viel, viel schneller sein.”
Gemeinsam zocken im Unterricht
Das Spiel wurde für den Einsatz im Unterricht von der achten bis zur 13. Klasse konzipiert. Die fünf Kapitel sind unterschiedlich komplex und dauern jeweils etwa eine halbe Stunde. Iris Groschek wünscht sich, dass der Workshop in der Gedenkstätte noch öfter gebucht wird. Ein Grund hierfür mag sein, dass Lehrkräfte sich mehr Zeit nehmen müssten und das Format eher ungewohnt sei. Einige würden dann doch lieber auf die bekannten Führungen zurückgreifen.
Die Gedenkstätte hat auch eine Handreichung entwickelt für Lehrkräfte, die teilweise mehr Berührungsängste mit dem Thema Gaming haben. Prof. Jannot begrüßt dieses Zusatzmaterial: „Man fördert dadurch einerseits eben Erinnerungskultur, aber auch Medienkompetenz, indem man auch das Potenzial von Spielen im schulischen Kontext gemeinsam erkundet.”

Ein Spiel nicht nur für Jugendliche
Auch FINK.HAMBURG hat das Spiel getestet. Klar ist: es richtet sich an eine junge Zielgruppe. Dies zeigt sich vor allem in den simplen Aufgaben, die die Spieler*innen bewältigen müssen. Sie klicken sich meist durch Dialoge, wirkliche Herausforderungen gibt es kaum. Dennoch bietet das Videospiel auch für ältere Spieler*innen einen Mehrwert. Gerade wenn man sich niedrigschwellig mit der Hamburger NS-Geschichte beschäftigen möchte, schafft das Spiel spannende neue Zugänge. Das Besondere sind definitiv die gut durchdachten Geschichten, die von detaillierten und liebevoll gezeichneten Bildern begleitet werden.
So schaffen es die Entwickler*innen an vielen Stellen, eine interessante und wirklich nahbare Geschichte zu erzählen. Es bleibt ein berührendes Mitgefühl für die Opfer, aber auch für die jungen Protagonist*innen, die sich in einer Welt bewegen, in der ihr Umfeld so viel des Geschehenen einfach verdrängt. Gemeinsam mit den fünf Jugendlichen spielt man somit selbst gegen das Vergessen an und sorgt dafür, dass an die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm erinnert wird.
„Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm” gibt es kostenlos zum Download für Android und IOS..
Benjamin Possin, Jahrgang 2002, erzählt gern Geschichten, das hat ihn zu seinem Lieblingshobby gebracht: Pen & Paper. Mittlerweile hat er um die 300 Würfel angesammelt. Wenn er nicht am Spieltisch sitzt, diskutiert er gerne im Netz oder verliert sich im Digitalisieren von alten Dias. Seine Liebe zu Wikipedia hat den Spiesheimer dazu geführt, dass er bereits einen Artikel vertont hat. An der HAW studierte Benni Medien und Kommunikation und arbeitet aktuell in einem Forschungsprojekt zu Datenvisualisierungen. Bei STRG_F moderierte er während eines Praktikums einen Film zum Thema “Jugendgewalt auf TikTok”. Beruflich sind die Würfel noch nicht gefallen: Datenjournalismus ist aber eine Option. Kürzel: bip








