Die Buchhandlung Christiansen in Ottensen hat zwei Weltkriege und eine Wirtschaftskrise überlebt. 1878 gegründet, ist sie die älteste Buchhandlung Hamburgs, die noch in Familienbesitz ist.
Knappe 15 Grad, Mitte Juni. Eine dichte Wolkenschicht verdeckt den Himmel. Durch einzelne Lücken bricht das Blau. Ein ähnliches Farbspiel weist das Schild der Buchhandlung Christiansen in Ottensen auf. Weiße hervortretende Buchstaben auf blauem Hintergrund. Angestrahlt von vier darüber befestigten Lampen, die in einem gleichmäßigen Abstand nebeneinander hängen – eine ähnliche Ordnung herrscht auch in der Buchhandlung. Unter dem Familiennamen die Worte „Bücher seit 1878″, daneben ein schnörkelloses Bücheremblem.
1878, das sind 146 Jahre bis heute. Seit 146 Jahren ist die Buchhandlung im Besitz der Familie Christiansen und damit die älteste familiengeführte Buchhandlung Hamburgs. Dieses Alleinstellungsmerkmal rettete das Geschäft einst vor der Auflösung und machte es erneut konkurrenzfähig.
Begonnen hat es neben Büchern mit Schulheften, Landkarten und in Spiritus eingelegten Amphibien für die Sammlungen der umliegenden Schulen. Heute liegt der Schwerpunkt auf Belletristik sowie Kinder- und Jugendliteratur. Aktuell wird die Buchhandlung in vierter Generation von Sönke Christiansen und seiner Frau Nicole geführt.
Eine Generationen-Buchhandlung
Zwei Stufen hinauf, Schuhe abtreten und eine blau-umrahmte Tür durchqueren. Sobald man in die Buchhandlung Christiansen eingetreten ist, riecht es nach frisch bedrucktem Papier. Der Blick fällt auf bunte Buchrücken, eingereiht in hölzernen Regalen an der Wand. Über den gesamten Raum erstreckt sich ein kastanienbrauner Parkettboden. Nur in der Kinder- und Jugendabteilung, ganz am Ende, ist der Boden mit einem rot-gräulichen Teppich bedeckt.
Es ist warm. Nicole Christiansen durchquert den Laden. Gekleidet in eine dunkelblaue Cordhose, Ohrringe in demselben Blauton. Dazu trägt sie einen beigefarbenen Strickpullover mit Zopfmuster. Die Treppe hinauf, in den Aufenthaltsraum des Teams, weiter durch eine Tür, hinein in das Büro. Bücher seien schon von klein auf ihre Leidenschaft gewesen, berichtet Nicole Christiansen. Heute ist sie Miteigentümerin der Buchhandlung. Wie sie selbst sagt, ist sie “das Gesicht der Buchhandlung”, ihr Mann kümmere sich vornehmlich um die Organisation und Finanzen. Sie streicht über den Schreibtisch neben sich: „Das ist sein Schreibtisch”.
Dass ihr Mann Sönke die Buchhandlung erbt, wäre, trotz einer älteren Schwester, immer klar gewesen. „Das war noch dieses alt herkömmliche Denken. Es gab zweimal Theodor, dann gab es den Günther, das war der Vater meines Mannes und jetzt halt Sönke. Also vier Männer”, sagt Christiansen. Im Gegensatz zu den Christiansen-Ehefrauen der vorherigen drei Generationen widmet sich die heutige Mutter von zwei Kindern allerdings mit viel Zeit und Leidenschaft dem Geschäft.
Zwischen Buchstaben und Zahlen
In die Decke der Buchhandlung sind Leuchten integriert, die ein warm-weißes Licht abgeben. Die an den Rändern befindlichen Leuchten sind leicht angeschrägt, wodurch die einzelnen Regale gezielt angestrahlt werden. Über den Regalen sind Schilder angebracht – weiße Schrift auf blauem Hintergrund. Romane A-Z. Krimis. Neuheiten. Junge Erwachsene. Mangas etc.
Ständig kommen neue Bücher ins Haus, erklärt Christiansen. Das helfe, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben und den Wünschen und Interessen der Kundschaft nachzukommen. Lesungen von Autor*innen wie Saša Stanišić oder Olga Tokarczuk, Literaturkreise für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie weitere Veranstaltungen fördern den Bekanntheitsgrad der Buchhandlung.
Eben solche Maßnahmen sind essentiell, um eine Buchhandlung zu erhalten. Schließlich sank die Anzahl von Buchhandlungen in Hamburg zwischen 2016 und 2022 von 115 auf 102, wie aus einer Statistik des Marketing- und Verlagsservices des Buchhandels hervorgeht. Den Umsatz betrachtet, lag der sogenannte stationäre Bucheinzelhandel in Deutschland 2023 mit knapp 42 Prozent des Gesamtkuchens jedoch deutlich auf Platz eins. Der Internetbuchhandel folgte mit etwa 25 Prozent, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels berichtete. Im Gegensatz zum Internetbuchhandel sanken die Umsätze des Sortimentsbuchhandels seit 2019 jedoch stetig.
Konkurrenz schräg gegenüber
Buchrücken in den unterschiedlichsten Farben ragen aus den Wandregalen im Hauptgeschäftsraum heraus. Manche stehen etwas weiter vor als andere. In unregelmäßigen Abständen finden sich Bücher, deren Cover nach vorne ausgestellt sind. Tiere, Landschaften, Menschen, Illustrationen – Motive aller Art verzieren die Buchumschläge. Drei massive Holztische mitten im Raum bieten zusätzlichen Platz für dutzende Bücher, ordentlich nebeneinander gestapelt. Kunden treten durch die Tür in den Laden. Sie blättern durch die Seiten der Bücher. Im Hintergrund ertönt immer wieder der Kassenautomat.
Nicht immer war ein solch reges Geschäft in der Buchhandlung Christiansen selbstverständlich.
1994 übernahmen Sönke und Nicole Christiansen die etwa 100 Quadratmeter große Buchhandlung von Sönkes Vater Günther. Im darauffolgenden Jahr eröffnete nur etwa 200 Meter weiter das Einkaufszentrum Mercado. Darin enthalten: eine über 900 Quadratmeter große Buchhandlung. „Da konnten wir also zusehen, wie uns die Kunden alle verschwanden und die Umsätze extrem zurückgingen”, erinnert sich Nicole Christiansen. Um das Überleben des Geschäfts zu sichern, habe man sich verschulden müssen. Ihr Glück sei es gewesen, dass der Gründer Theo Christiansen das Haus gebaut hatte, in dem sich heute die Buchhandlung befindet. Da das Haus der Familie gehörte, konnten Sönke und Nicole Christiansen es bei ihrer Hausbank belasten. „Wir mussten also das Haus verschulden, verschulden, verschulden, damit wir diese Buchhandlung erhalten konnten”.
Die Vergangenheit rettet die Zukunft
„WENN ER DAS GESCHAFFT HAT, DANN BRAUCHEN WIR JETZT HIER NICHT JAMMERN”
Anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Buchhandlung plante die Familie Christiansen eine Feier. Aufgrund der schwierigen finanziellen Lage und des Todes von Günther Christiansen, dem Vater des jetzigen Inhabers Sönke Christiansen, war ihnen jedoch nicht zum Feiern zumute. Nicole Christiansen wollte zu diesem Zeitpunkt dennoch gerne mehr über die Familiengeschichte herausfinden. Sie suchte unter anderem auf dem Dachboden des Hauses und entdeckte einen Brief von Theodor Junior, dem Sohn des Gründers. Er schrieb von dem Ersten sowie Zweiten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise. Mit einhergehend: die Zerstörung des eigenen Hauses. Er schrieb, so erzählt es die Buchhändlerin, über seine Verzweiflung. Dennoch habe er das Erbe seines Vaters nicht aufgeben wollen und all seine Kraft zusammengenommen, um die Buchhandlung zu erhalten. Mit Erfolg.
Nicole Christiansen sagt, sie habe dank dieses Fundes damals neuen Mut gefunden: „Wenn er das geschafft hat, dann brauchen wir jetzt hier nicht jammern”. Sie und ihr Mann hielten das Geschäft am Laufen und konnten fünf Jahre später das 130-jährige Jubiläum feiern. „Normal macht man das eigentlich ja nicht, aber in dem Fall haben wir uns das gestattet”, sagt Christiansen.
In diesem Zuge habe die Familie letztlich herausgefunden, dass ihre die älteste, noch in Familienbesitz befindliche Buchhandlung Hamburgs ist. „Und das war die Rettung, weil durch dieses Alleinstellungsmerkmal kam dann die ganze Straße zu unserer Feier. Alles war voller Menschen.” Die zum Teil zur Konkurrenz übergelaufene Kundschaft kam zurück. Viele hätten davon erzählt, dass bereits die eigenen Eltern bei Christiansens einkauften. Zudem war auch die Presse dank des Alleinstellungsmerkmals zunehmend auf die Buchhandlung aufmerksam geworden. Dies habe wiederum zu neu gewonnenem Ansehen verholfen.
Ein neues Kapitel
Herausforderungen begegnen Nicole Christiansen auch im heutigen Buchhandlungsalltag. Eine, der sie und ihr Mann sich erst kürzlich gestellt hätten, sei die Übergabe der Verantwortung für das Tagesgeschäft des Ladens an ihre Mitarbeitenden gewesen. Daran würden viele Buchhandlungen scheitern, sagt sie. Christiansen selbst freut sich, dass es so gut klappt. Jetzt, wo sie nicht mehr tagtäglich im Geschäft stehe, könnten sie und ihr Mann besser neue Dinge anstoßen. Zudem habe sie nun endlich mehr Zeit zum Lesen.
Nicole Christiansens Lesetipp:
„Maror”, ein Thriller, geschrieben von dem Israeli Lavie Tidhar.
Die Geschichte stellt die Polizisten Cohen und Avi Sagi in den Mittellpunkt und spielt zwischen 1974 und 2008. In ihrer Heimat Israel bekommen es die Polizisten mit jüdischen, arabischen und türkischen Gangstern, mit der CIA und dem KGB, mit den Contras und den Kartellen und weiteren Playern zu tun. Ursprüngliche Grenzen scheinen immer wieder zu verschwimmen.
Die Buchhandlungsbesitzerin ist der Meinung, dass ihr Team einen wesentlichen Teil des Erfolgs der Buchhandlung ausmache. Sie hätten eine tolle Mischung, auch von der Altersstruktur. Zur Zeit beschäftigen sie zwei Vollzeitkräfte und sieben Teilzeit-Buchhändler*innen. Eine Auszubildende gibt es auch: Målin Kruse. „Ich habe schon immer gerne gelesen, aber ich wusste noch nicht so lange, dass ich Buchhandel machen will”, erklärt Kruse, deren hellbraune Haare zu einem lockeren Dutt am Hinterkopf zusammengebunden sind.
Laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung sind im Jahr 2020 – dem ersten Corona-Jahr – nur 390 neue Ausbildungsverträge im Buchhandel in Deutschland abgeschlossen worden. 2022 stieg die Anzahl auf 462 neue Verträge. Davon wurden lediglich 42 in Hamburg abgeschlossen. Knapp über die Hälfte der anderen Bundesländer konnte (deutlich) mehr Auszubildende verzeichnen. Nordrhein-Westfalen lag mit 270 an der Spitze.
„ICH GLAUBE, ES LOHNT SICH SOWIESO GRUNDSÄTZLICH IMMER, WENN MAN FÜR ETWAS BRENNT, DAS AUCH ZU TUN. DAS IST DIE BESTE VORAUSSETZUNG”
Nicole Christiansen wäre erfreut, würde die Buchhandlung eines Tages in fünfter Generation weitergeführt werden. Ihren Kindern wollen sie und ihr Mann jedoch keinen Druck machen. Tochter Stella sei der Bücherwelt, so beschreibt es Christiansen, bereits sehr nahe. Sie arbeite in einer großen Verlagsgruppe in München. Trotzdem wolle sie es ihrer Tochter freistellen, die Buchhandlung zu übernehmen.
Eine eigene Buchhandlung zu eröffnen oder zu übernehmen, diesen Traum kann Nicole Christiansen sehr gut nachvollziehen. Ein solches Vorhaben solle man aber nicht auf die leichte Schulter nehmen, rät sie. Es sei wichtig, betriebswirtschaftlich zu denken. Was die heute sechzigjährige Buchhändlerin rät: „Denkt auch an die Altersvorsorge!” Dann lacht sie. “Aber ansonsten würde ich sagen, traut euch! Ich glaube, es lohnt sich sowieso grundsätzlich immer, wenn man für etwas brennt, das auch zu tun. Das ist die beste Voraussetzung.”
Lara Kitzinger, geboren 1999, würde gerne mal in New York leben. Aber nur kurz, denn ihr eigentliches Ziel ist Sankt Peter-Ording. An der Nordseeküste würde sie nicht nur leben wollen, sondern auch eine Lokalzeitung gründen. Die ersten Erfahrungen dafür sammelte sie beim “Pinneberger Tageblatt”. Bei einem Bericht über die besten Cafés im Kreis bekam sie kein einziges Stück Kuchen. Kein Problem: Lara backt einfach selbst. Studiert hat sie Kommunikation und Medienmanagement an der Fernuni IST, nebenbei für Netzwelt.de über Filme und Serien geschrieben. Zu Hause in Buchholz hat Lara eine Holsteiner Stute. Mit der will sie irgendwann am Strand von Sankt Peter-Ording entlang zur Arbeit reiten. Kürzel: lak