Gänsehautstimmung bei völliger Stille – Blindenfußball verbindet sportlichen Ehrgeiz mit Inklusion und Teamgeist. Der FC St. Pauli will als Titelverteidiger die deutsche Meisterschaft wieder nach Hamburg holen. Die Unterstützung der Fans ist dabei spürbar, aber nur selten zu hören.
Stell dir vor, du besuchst ein Fußballspiel der Bundesliga: FC St. Pauli gegen Schalke 04. Und es herrscht absolute Stille. Keine Fangesänge während des Spiels, Zuschauer*innen feuern sie Spieler*innen auf dem Feld nicht an, Jubel nur bei Toren. So ist jedes Spiel der Blindenfußballbundesliga. Auch an diesem sonnigen Samstag im Mai. Der FC St. Pauli, amtierender deutscher Meister in der Disziplin, richtet den zweiten Spieltag der Saison 2025 aus.
Das Spielfeld ist eingerahmt von Banden. Dahinter haben sich viele Zuschauer versammelt, davor stellen sich die Sportler*innen rechts und links von den Schiedsrichter*innen auf dem Feld auf. Die Stimmung am Rande des Hamburger Stadtparks ist gut vor dem Spiel. Zuschauer*innen applaudieren und besingen die Mannschaften.
Fangesänge auch beim Blindenfußball
Die Einlaufkinder, keines älter als zwölf Jahre, sitzen gespannt auf der Leichtathletikbahn um den Platz herum und schauen dem Spielgeschehen zu. Einige Minuten vor Anpfiff kommen drei Jungs in St-Pauli-Fanmontur die Treppen zum Rasen runter. Einer von ihnen hat eine selbstgebastelte Fahne aus Papier an einem Ast befestigt. Sie raschelt bei jedem seiner Schritte.
Vera Gutöhrle steht bereits vor Anpfiff mit ihren Freund*innen an der Bande, das Gesicht in die Sonne gedreht. „Wir haben unserem Freund zum Geburtstag ein Spiel von St. Pauli geschenkt, und da das mit einer Gruppe im Millerntorstadion schlicht unmöglich ist, haben wir gedacht, schauen wir uns das hier mal an.“ Eine der Freundinnen habe sich vorbereitet und in den Sport eingelesen. Sie erklärt der Freundesgruppe wie ein Blindenfußball-Spiel abläuft.
Ruhe bitte – jetzt wird gespielt
Blindenfußball ist in Brasilien entstanden, organisierte Wettbewerbe gibt es ca. seit den 1960er Jahren. Heute wird in über 20 Ländern kompetitiv gespielt.
Der Stadionsprecher bittet um Ruhe: „Während des Spiels bitten wir um absolute Ruhe, damit die Spieler sich konzentrieren können.“ Anpfiff. Blindenfußballer*innen orientieren sich über Stimme und Geräusche. Der Ball ist etwas kleiner und schwerer als ein regulärer Fußball und er hat eingebaute Rasseln. Sie helfen den Spieler*innen, ihm zu folgen. Wer sich dem Ball nähert oder ihn führt, ruft „voy“, das spanische Wort für „ich gehe“. Das verhindert Zusammenstöße und Unfälle.

Hinter dem gegnerischen Tor stehen die so genannten Guides. Sie können sehen und helfen den Spieler*innen, das Tor zu finden und das Spielgeschehen nachzuvollziehen. Während des Spiels rufen sie ihren Mannschaftskolleg*innen immer wieder Anweisungen und Kommentare zu. Es spielen vier gegen vier blinde oder sehbehinderte Feldspieler*innen, die beiden Torhüter*innen dürfen sehen. Um unterschiedliche Restsehfähigkeiten auszugleichen, werden die Augen aller Spieler*innen abgeklebt und mit Verdunklungsbrillen verdeckt. So sehen alle Spieler*innen gleich viel: gar nichts. Frauen und Männer spielen in der Bundesliga gemeinsam.
Getummel auf dem Trainingsplatz
Knapp zwei Wochen zuvor. Es ist ein warmer Frühlingstag im April, die Sportanlage des Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte Hamburg im Borgweg füllt sich langsam. Trainingszeit. Immer mehr Spieler*innen betreten den Platz, alle haben einen der rasselnden Bälle am Fuß und bewegen sich damit über das Feld. Es wird immer lauter, immer unübersichtlicher, das Rasseln der Bälle mischt sich mit immer mehr “Voy”-Ausrufen. Das Training der Blindenfußballmannschaft des FC St. Pauli beginnt in wenigen Minuten.
Trainer Wolf Schmidt leitet Aufwärm- und Dribbelübungen an, mit Ball und ohne, alleine oder zu zweit. Dafür gibt es anfangs einen Soundcheck, damit die Spieler*innen sich auf dem Trainingsplatz orientieren können und Anspielstationen und Wendepunkte kennen. Am Ende des Trainings wird gespielt – wie am Spieltag mit Torhüter*innen und Guides. Am Ende des Trainings stehen nochmal alle zusammen im Mannschaftskreis – Spieler*innen, Trainer*innen und Guides. Schmidt gibt eine klare Anweisung für den kommenden Spieltag: „Wir müssen uns zum Zusammenspiel zwingen.” Mit besserer Kommunikation könne man auf dem Feld cooler und entspannter bleiben, so der Trainer zu seinen Spieler*innen.
Ein Spieler ist Paul Ruge. Er hat dunkle Haare, ein schmaler, athletischer junger Mann, der eine dunkle Cap trägt. Er ist 26 Jahre alt und spielt seit 2013 für den FC St. Pauli. Seit der Hamburger Verein an der Blindenfußballbundesliga teilnimmt, hat er viermal die deutsche Meisterschaft gewonnen – 2017, 2021, 2023 und 2024. Ruge hat alle Titel miterlebt. An dem Trainingsabend im April steht er allerdings nur am Rand, Knieprobleme.
Blindenfußball wird intensiver
Laut Statistischem Bundesamt gab es im Jahr 2023 ca 328.000 Menschen mit Sehberinderung in Deutschland.
„Zu Anfang war es schwer, Orientierung zu finden, wenn man wie ich noch einen Sehrest von 10 Prozent hat. Man orientiert sich normalerweise mehr mit den Augen,“ sagt Ruge. Über die letzten Jahre habe sich der Blindenfußball verändert. „Er ist schneller geworden, er ist körperlicher geworden, es ist an manchen Punkten auch gefährlicher geworden.“ Studien belegen das allerdings nicht. Forscher*innen untersuchten die Blindenfußballspiele der Paralympischen Spiele 2016 und 2020. Sie stellten keine signifikanten Unterschiede in der Häufigkeit von Kopfverletzungen fest. Mehr Tore und weniger Unentschieden weisen jedoch darauf hin, dass der Sport intensiver geworden ist.
Der erste Titel der Blindenfußballbundesliga wurde 2008 verliehen, damals an die SF BG Blista Marburg. Die Universitätsstadt in Hessen gilt als Blindenhauptstadt Deutschlands. Seitdem wird der Sport immer bekannter. Der letzte Höhepunkt waren die paralympischen Spielen in Paris. „Das paralympische Finale hatte im Stadion 15.000 Zuschauer. Das war nochmal ein riesiger Push für den Sport“ sagt Paul Ruge. Einen größeren Andrang beim Training sieht der Fußballer aber nicht, das könnte vor allem an der Härte des Sports liegen: „Der Sport ist nicht ungefährlich, grade Jüngere schreckt das ab.“ Um sich vor Kopfverletzungen zu schützen, tragen Spieler*innen zwar Polster an ihren Verdunklungsbrillen. Doch Zusammenstöße mit der Bande und Gegenspieler*innen sind beim Blindenfußball ganz normal. Auch an jenem Trainingstag hört man immer wieder ein lautes Krachen, wenn Spieler*innen beim Dribbeln oder im schnellen Lauf gegen die Bande rennen.

St. Pauli feiert den nächsten Sieg
Zurück zum Spieltag. Die zweite Hälfte der Partie läuft bereits, es steht 2:1 für den Titelverteidiger FC St. Pauli. Trainer Schmidt wechselt Paul Ruge ein, auf seinem Trikot steht “Paulinho”. Und der Joker zieht. Ruge läuft auf das Tor zu, den Ball sicher und kontrolliert am Fuß. Kurze, aus der Ferne schwer zu verstehende Anweisungen vom Guide und schon ist es geschehen: Ruge schießt das 3:1 und baut den Vorsprung seiner Mannschaft aus. Die Zuschauer*innen jubeln, für Ruge das Signal, dass sein Schuss im Netz gelandet ist.
Julius Kolbek, der junge blonde Guide vom FC St. Pauli, läuft zum Jubeln auf ihn zu. Doch Ruge hält sich die Nase, vor dem Tor hatte er sich bei einem Zusammenstoß im Gesicht verletzt. Trainer Schmidt muss ihn nach seinem Treffer wieder auswechseln. Aber das Tor ist spielentscheidend: der FC St. Pauli gewinnt 3:2. Ein Zeichen dafür, dass das vom Trainer geforderte Zusammenspiel heute gut geklappt hat.
Nike Mosa, Jahrgang 2003, war mehr als zehn Jahre im Fechtverein, heute feuert sie lieber regelmäßig ihren Herzensverein St. Pauli im Stadion an. Dagegen spricht auch nicht, dass sie in Regensburg geboren ist, denn Nike ist in Hamburg aufgewachsen. Dort studierte sie Journalismus im Bachelor. Bei ihrem Praktikum bei der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” hat sie sich gefragt, warum auf Twitch Jugendliche Millionärinnen und Millionären ihr Taschengeld spenden und schrieb darüber einen Hintergrundartikel. Aktuell ist sie Teil des Social Media-Teams der Tagesschau. Trotz ihres Bezugs zur digitalen Welt kann Nike auf den Videoassistenten im Fußball verzichten. Dessen Entscheidungen würde sie oft gerne anfechten.
Kürzel: nim