
Improvisation, Fantasiearbeit und Tanz: Das und noch viel mehr wird im Vorsemester-Kurs der Schule für Schauspiel in Hamburg Altona gelehrt. Wer daran teilnimmt, will irgendwann auf der Bühne oder vor der Kamera stehen.
„Live your dream, Bitches!“, ruft Schauspieldozent Tino Führer von der einen Seite des Raumes. In der Hand hält er einen Tennisball, den er wie einen Startschuss auf den harten Boden prallen lässt. 15 Minuten später füllt das Geräusch von endlosen Schritten an diesem Abend den Kursraum drei der Schule für Schauspiel Hamburg (SfSH) in Altona. Die Kursteilnehmer*innen gehen umeinander herum, winden sich mal schnell, mal langsam aneinander vorbei, ehe immer wieder ein paar von ihnen stehen bleiben.
Tanz, Sprechtechnik und Improvisation
Von April bis Juni arbeiten die 14 Schüler*innen im Vorsemester-Kurs an Sprechtechnik, Schauspiel auf der Bühne und für Film, Improvisation, Fantasiearbeit und Tanz. Insgesamt neun Stunden pro Woche. Das Vorsemester kann eine Aufnahmeprüfung für die dreijährige Schauspielausbildung an der privaten Schauspielschule ersetzen.
Tino Führer ist einer der vier Dozent*innen an der SfSH, die den aktuellen Vorsemesterkurs leiten. Der 44-Jährige unterrichtet den Schauspiel-Block. Er ermutigt und fordert.

Zwischen „Fuck off“, „Hey Sunshine“ und „Say what you mean!“
Außer einem Tisch und circa 20 Stühlen, ist der Kursraum leer. Auf eine Körperübung zu Musik folgt an diesem Abend das Bewegen im Raum – als erstes schweigend.
Dann fordert Führer die Schüler*innen auf sich beim Gehen durch den Raum anzusprechen. Auf „Hey Sunshine!“ könne keine Reaktion, „Hey Sunshine!“ oder „Fuck off!“ folgen. Die Reaktion ist wählbar, ehrlich müsse sie aber sein. „Mean it“, ruft Führer eindringlich.
Führer selbst hat durch einen Vorsemesterkurs seine Leidenschaft für das Schauspiel entdeckt, berichtet er. Ursprünglich hat er Hotelfachmann gelernt. “So als junger Mensch Ende 20 habe ich viel gekifft und getrunken,“ sagt er. Zu dem Zeitpunkt habe er keine berufliche Perspektive gesehen. Seine Mutter habe ihn schließlich ermuntert: “Bevor du gar nichts machst, verwirklichst du deine Träume.“ 2007 schließt er seine Schauspielausbildung an der SfSH ab.
Keine Altersgrenze, Quereinstieg möglich
Ein Schauspiel-Quereinstieg sei nicht unüblich, sagt Führer. Viele der Kursteilnehmer*innen arbeiten bereits oder absolvieren ein Studium. Dieser Vorsemesterkurs wird zweisprachig auf Deutsch und Englisch unterrichtet.
Yener Agca kann dadurch am Kurs teilnehmen. Der 26-Jährige ist in der Türkei geboren und kam für sein Bachelor-Studium in Electrical and Electronic Engineering nach Deutschland. Nach seinem Master in Business & Project Management arbeitet er jetzt in Hamburg im Bereich Business Intelligence als Projektmanager.

Schon mit elf Jahren interessierte er sich fürs Schauspielen. „Schauspieler werden ist mein langfristiges Ziel, meinen aktuellen Job möchte ich nicht komplett aufgeben.“ Im Alltag merke er, sagt Agca, wie er durch den Schauspiel-Kurs selbstsicherer werde. „Ich arbeite mit Zahlen. Es hilft, die Seite zu entwickeln, die oft verborgen bleibt, wenn ständig vor dem Computer gearbeitet wird.“
Eine Altersgrenze von 27 Jahren gibt es für die Ausbildung seit sechs Jahren nicht mehr. Katharina Jann, CEO und kaufmännische Leitung der Schauspielschule, begründet dass damit, dass es gute Quereinsteiger*innen gibt und sie in keiner Form diskriminieren wollen.
Die meisten der 14 Kursteilnehmer*innen sind zwischen 20 und 26 Jahre alt. Annika S. ist mit 42 Jahren die Älteste im Kurs. Wegen ihres Lehrberufs möchte sie anonym bleiben.
„Mach etwas Vernünftiges“
Seit ihrer Kindheit will Annika S. Schauspielerin werden. Sie entscheidet sich lange nicht, ihren Traum zu verfolgen. Spricht sie darüber, werden ihre Augen glasig. Sie sei davon geprägt gewesen, dass sie „etwas Vernünftiges“ machen müsse. „Ich bin so groß geworden.“
Annika S. studierte Lehramt. Heute unterrichtet sie Englisch, Sport und Darstellendes Spiel. „Ich habe versucht, mich in der Schule mit den Kindern ein bisschen auszuleben“, sagt sie. 2022 probiert sie sich ein halbes Jahr als Stand Up Comedian, wird Teil einer Improvisations-Gruppe. Ihr fehlte jedoch der Mut, einen Schritt weiterzugehen, sagt sie. „Ich wusste schon immer, ich will das und ich kann das. Aber ich habe mich nie getraut zu sagen okay, ich will wirklich Schauspielerin werden.“

Über eine Arbeitskollegin erfährt Annika dann von der SfSH. Sie beginnt das dreimonatige Grundlagen-Modul 1 im Herbst 2024. „Schon in der ersten Stunde habe ich gemerkt: Ich bin hier genau am richtigen Ort“ sagt sie. „Nach der Stunde bin ich fast heulend nach Hause gefahren und dachte: Geil, endlich!“ Annika S. entscheidet sich nach einem Infoabend für den Vorsemester-Kurs.
Die Schauspiel-Ausbildung ist das Ziel
Der Vorsemester-Kurs kostet: 1017 Euro inklusive einer Aufnahmegebühr für die Schauspielschule. Mehr als 90 Prozent der Kursteilnehmer*innen wollen in die Ausbildung starten, schätzen Jann und Führer. Sie müssten schauen, wie viele Verträge sie am Ende des Kurses noch vergeben können und wie viele Ausbildungsplätze noch frei sind. Wie viele Personen aus dem aktuellen Vorsemester-Kurs einen Vertrag und damit eine Chance erhalten, ist also nicht festgelegt.
„Schauspiel ist ein Handwerk, das man lernen kann“
Wichtig sei der Umgang mit Text und wie nah die Bewerber*innen diesen an sich ranlassen, so Führer. Wie nimmt man Regieanweisungen an? Wie spontan gelingt es, diese umzusetzen? „Schauspiel ist ein Handwerk, das man lernen kann“, sagt Führer.
Sich mit seinen eigenen Themen auseinandersetzen
Doch warum sollte man den Kurs belegen? Führer sagt: Anders als bei der Aufnahmeprüfung würde im Vorsemester-Kurs die Entwicklung über die Zeit in einem geschützten Arbeitsraum begutachtet. Für die Ausbildung bräuchte man Neugierde und Mut, sich mit eigenen Themen auseinanderzusetzen.
Der Schauspieldozent beendet den Kurs an diesem Abend gegen 21:30 Uhr. Die vorletzte Übung dieses Abends sind kurze Einzelszenen bei einer Bahnfahrt. Beim Spiel ist es so ruhig, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Führer sitzt am Tisch, er lehnt sich oft nach vorne, als würde er die Spieler*in auf diese Art klarer wahrnehmen können.
Annika möchte, so sie eine Chance und einen Platz erhält, die Ausbildung im Herbst 2026 beginnen.
„Schauspieler betrachten einen anders“, sagt sie. „Sie sehen, was in einem drinsteckt.“



Seit 1992 bildet die staatlich anerkannte SfSH Schauspieler*innen aus. Die Schauspiel-Ausbildung umfasst eine 25-Stunden Woche. Monatlich kostet die Schule 550 Euro in den ersten zwei Jahren. Im dritten Jahr 570 Euro. Für die Ausbildung kann BAföG beantragt werden und ein Studienkredit ab dem zweiten Jahr der Ausbildung aufgenommen werden. Auch Stipendien werden vergeben.
Absolvent*innen der SfSH spielen in Stücken des Thalia Theaters oder auch der Deutschen Schauspielschule Hamburg. Aber auch in Serien wie „Notruf Hafenkante“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ sowie als Synchronsprecher*innen arbeiten einige später.
Zur Ausbildung führen drei Wege: Über einen ein- oder dreitägigen Orientierungskurs, ein Vorsemester oder eine kostenlose Aufnahmeprüfung. Wer Talent hat, erhält einen Vertrag. Pro Jahr kann die Schauspielschule 130 dieser Verträge vergeben. Der Vertrag bedeutet hier aber nicht, dass der Platz schon sicher ist, sondern dass die Chance auf einen Platz besteht. Nimmt man den Vertrag an, kann man sich innerhalb eines Jahres auf einen der 46 Plätze pro Jahrgang bewerben. Da gilt: first come, first serve.
Update: Annika hat mittlerweile an der Abschluss-Prüfung am Ende des Kurses teilgenommen. Dabei wurde ihr kein Vertrag angeboten, mit dem sie eine Chance auf eine Ausbildung gehabt hätte – offenbar aus Altersgründen. Vier Prüfende hätten für sie gestimmt, einer dagegen, erinnert sie sich. „Mir wurde in keinem Wort beim Feedback gesagt, dass es an meinen Leistungen gelegen hätte. Stattdessen wurde mir eindeutig rückgemeldet, ich sei zu alt“, schreibt sie auf Nachfrage von FINK.HAMBURG.
Auf Nachfrage antwortet Katharina Jann, die kaufmännische Leitung der Schauspiel-Schule, dass Alter sei im Feedback-Gespräch tatsächlich ein Thema gewesen. Die Aufnahme in die Ausbildung sei sehr individuell. Das Alter könne eine Rolle spielen, stehe aber nicht im Vordergrund. „Wir beobachten die Spielfreude, Kreativität, Durchlässigkeit und Neugier“, so Jann. Andere Schauspielschulen würden oft eine Altersgrenze setzen, um eine homogene Gruppendynamik zu fördern, jüngere Teilnehmende hätten „meist mehr Zeit, sich nach der Ausbildung im Beruf zu etablieren, und sind physisch oft belastbarer für das intensive Training“.
Bei Annika habe es zwei Empfehlungen und zwei Nichtempfehlungen gegeben, sodass eine fünfte Stimme nötig gewesen sei. „In diesem uneindeutigen Fall hat dann auch das Alter mit den Ausschlag gegeben“, so Jann.
Zwischen Annika und der Leitung der Schauspielschule soll ein klärendes Gespräch stattfinden. Man wolle den „Fehler korrigieren und es mit einer Entschuldigung verbinden”.