Sozialarbeiter Julian Einfeldt steht vor dem Fanladen St. Pauli.
Julian Einfeldt vom Fanladen St. Pauli (Foto: Hendrik Heiermann)

Anders als Ärzt*innen können Sozialarbeiter*innen aktuell eine Aussage vor Gericht nicht verweigern. Im Fokus des neu aufflammenden Diskurses um das Zeugnisverweigerungsrecht: Die Fankurven Deutschlands.

Ein Heimspiel gegen St. Pauli, dichte Rauchschwaden über den Rängen, Pyrotechnik im neuen Stadion. Was als spektakuläre Choreografie gedacht war, endete mit Verletzten und einem Gerichtsverfahren. Doch im Mittelpunkt stand am Ende nicht die Fangruppe, sondern die Sozialarbeiter*innen des Karlsruher Fanprojekts. Sie hatten im Nachgang vermittelt, Gespräche zwischen den Ultras und den Verletzten organisiert, so wie es ihre Aufgabe ist. Dann kam die Vorladung der Staatsanwaltschaft: Die Sozialarbeiter*innen sollten aussagen, wer an den Gesprächen beteiligt war.

Für viele in der Sozialarbeit war dieser Moment ein Schock. Denn er zeigt ein Dilemma, das im Alltag oft übersehen wird: Sozialarbeiter*innen unterliegen zwar einer beruflichen Schweigepflicht, ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht wie Ärzt*innen, Anwält*innen oder Journalist*innen haben sie aber nicht. Konkret geht es um eine mögliche Erweiterung des Paragraphen 53 der Strafprozessordnung (StPO), der das Zeugnisverweigerungsrecht für Berufsgeheimnisträger*innen regelt. Die Schweigepflicht verpflichtet Fachkräfte, vertrauliche Informationen ihrer Klient*innen nicht weiterzugeben. Das Zeugnisverweigerungsrecht erlaubt ihnen zusätzlich, vor Gericht die Aussage zu verweigern, also ihre Schweigepflicht auch rechtlich zu wahren.

Was bedeutet das, wenn Vertrauen die Grundlage der Arbeit ist? Und warum gibt es bis heute kein Gesetz, das sie schützt? Die Sozialarbeiter*innen in Karlsruhe entschieden sich, nicht auszusagen. Aus Loyalität zu den Jugendlichen, mit denen sie arbeiten. Damit riskierten sie rechtliche Konsequenzen, bis hin zu einer Geldstrafe oder Haft. Erst Monate später stellte das Gericht das Verfahren ein. Doch die Entscheidung, vor Gericht nicht auszusagen, hatte Symbolkraft: Sie machte sichtbar, wie wenig rechtliche Sicherheit die Soziale Arbeit hat, wenn sie zwischen Vertrauen und Wahrheitspflicht steht.

Gesetzesänderung nicht nur für Fanhilfe entscheidend

Julian Einfeldt war 2022 nicht live im Stadion beim Auswärtsspiel in Baden-Württemberg. Aber er ist Sozialarbeiter beim FC St. Pauli in der Fanhilfe und verfolgt die Diskussion rund um das Zeugnsiverweigerungsrecht. Für ihn wäre eine solche Gesetzesänderung entscheidend, um das Vertrauen zu den Klient*innen nicht nur im Fußballkontext zu gewährleisten: „Eine Person sucht sich Hilfe, wendet sich Hilfe suchend an eine Institution, die auch noch von der Gesellschaft dafür bezahlt wird.” Er erklärt, dass seine Institution vor Gericht alles offenlegen müsse, weil es kein Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeitende gebe. „Das führt dazu, dass viele Menschen gar nicht erst unsere Hilfe suchen oder, wenn wir ihnen sagen, dass unsere Schweigepflicht Grenzen hat, sehr verunsichert sind, was sie uns überhaupt sagen können und wollen.”

Die Bundesregierung lehnt ein Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter*innen ab. In ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Januar 2024 erklärt sie, dass laut Bundesverfassungsgericht die Strafverfolgung und die vollständige Wahrheitsfindung im Strafverfahren Vorrang hätten. Um die Funktionsfähigkeit der Justiz zu sichern, müsse der Kreis der Berufsgruppen mit Zeugnisverweigerungsrecht auf das unbedingt notwendige Maß begrenzt bleiben. Die Arbeit von Sozialarbeiterinnen, auch in Fanprojekten, erfülle laut Bundesregierung nicht die Kriterien, die für gesetzlich geschützte Berufsgeheimnisträger*innen gelten.

Bundesweites Bündnis will die Forderungen sichtbarer machen

Georg Grohmann vom Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit betont, dass es dabei nicht nur um Fanprojekte gehe, sondern um die gesamte soziale Arbeit. „Man kann ja auch in einem Jugendtreff oder in Wohngruppen arbeiten, wo Jugendliche vielleicht mit Drogen handeln oder kleine Straftaten begehen“, erklärt er. In solchen Fällen seien vertrauliche Gespräche nur möglich, „wenn klar ist, dass das Personal nicht im Nachgang als Informationsquelle angezapft wird“.

Auch in anderen Bereichen wie der Schuldnerberatung spiele Vertrauen eine zentrale Rolle sagt Julian Einfeldt: „Da ist es superleicht, unbeabsichtigt Straftaten zu begehen, etwa in der Privatinsolvenz. Aber natürlich müssen Schuldnerberater*innen offen mit ihren Klient*innen über Finanzverhalten sprechen können.“

Ein gesetzlich verankertes Zeugnisverweigerungsrecht würde laut Grohmann vor allem das Vertrauensverhältnis zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen schützen und zugleich Handlungssicherheit für die Fachkräfte schaffen. Auch von Seiten der Polizei oder der Justiz habe er bereits Stimmen gehört, die für eine Gesetzesänderung seien, schlichtweg weil man die Sozialarbeiter*innen dann gar nicht erst anfragen würde. „Gerade weil soziale Arbeit im staatlichen Auftrag stattfindet, ist es paradox, dass sie auf einer anderen Ebene torpediert wird“, sagt er. Das Thema sei seiner Meinung nach noch sehr niesichig und habe daher keine gesellschaftlich große Relevanz.

Sozialarbeiter*innen handeln nicht unabhängig

Die Sozialbehörde Hamburg argumentiert, dass Sozialarbeiter*innen, anders als Ärzt*innen, Anwält*innen oder Seelsorger*innen, nicht als unabhängige Interessenvertreter*innen ihrer Klient*innen handeln, sondern eher vermittelnd oder unterstützend tätig sind. Deshalb hätten sie keine vergleichbare Stellung, die ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht rechtfertigen würde.

Zudem weist die Behörde darauf hin, dass ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht automatisch eine Pflicht zur Aussageverweigerung bedeute. Sozialarbeiter*innen müssten also weiterhin selbst entscheiden, ob sie aussagen – und sich dafür ggf. rechtfertigen. Schließlich betont die Behörde, dass auch ohne Zeugnisverweigerungsrecht keine Anzeigepflicht für begangene Straftaten bestehe, außer in sehr engen Ausnahmefällen bei drohenden Verbrechen.

Julian Einfeldt vom Fanprojekt St. Pauli kann die Antworten auf das Thema kaum nachvollziehen. Für ihn klingen sie wie Ausweichmanöver, die das eigentliche Problem verschleiern: dass Sozialarbeiter*innen tagtäglich in einem rechtlichen Graubereich arbeiten. „Ich würde mir wünschen, dass die Politik das Thema ernster nimmt“, sagt er. „Das betrifft nicht nur Fanprojekte, sondern die ganze Soziale Arbeit.”

Parteien sind beim Thema zwiegespalten

Auf politischer Ebene stellte in Hamburg bislang nur die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft im Feburar 2025 einen Antrag zur Änderung des Gesetzes. Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Günter Krings, lehnt eine Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechts auf die Soziale Arbeit ab. Er betont, dass dieses Recht ein „gezielt eng gefasstes Privileg” sei, das nur für Berufsgruppen gelte, deren Vertrauensverhältnis gesetzlich besonders geschützt und anerkannt sei, wie Geistliche, Ärzt*innen, Anwält*innen oder Journalist*innen.

Eine Erweiterung auf Sozialarbeiter*innen sieht Krings „kritisch”, da sie Abgrenzungsprobleme schaffen und die Wahrheitsfindung in Strafverfahren erschweren könnte. Der Karlsruher Fall zeige zwar, dass es sensible Konflikte gebe, dennoch dürften Fachkräfte der Sozialen Arbeit „nicht außerhalb des Rechtsstaats stehen.” Statt einer Reform des Paragraphen 53 plädiert Krings dafür, Schutzbedarfe über Datenschutz- und Schweigepflichtsregelungen zu lösen.

Fall gesellschaftlich noch lang nicht abgeschlossen

Besonders der Fall in Karlsruhe habe Einfeldt gezeigt, wie dringend eine gesetzliche Regelung sei. Drei Sozialarbeiter*innen hatten sich dort geweigert, gegenüber der Polizei über vertrauliche Gespräche mit Jugendlichen auszusagen – und riskierten damit eine Vorstrafe. „In erster Instanz sah es tatsächlich so aus, als würden sie verurteilt werden”, erklärt Einfeldt. „Jetzt wurde das Verfahren in der nächsten Instanz gegen Geldauflage eingestellt. Das ist keine Schuldanerkennung, aber eben auch keine klare Entlastung.”

Für Einfeldt ist das nur eine „Hilfskonstruktion”, wie er sagt. Denn solange das Zeugnisverweigerungsrecht nicht gesetzlich festgeschrieben ist, bleibt der Schutz für Fachkräfte und Klient*innen unsicher. „Das Vertrauen, das unsere Arbeit überhaupt erst möglich macht, kann so jederzeit infrage gestellt werden.” So endet ein Fall, der zwar juristisch beigelegt, aber politisch und gesellschaftlich längst nicht abgeschlossen ist.

Hendrik Heiermann, Jahrgang 1998, prokrastiniert nicht, er tut andere wichtige Dinge. Statt sich seiner Traumkarriere als Eisverkäufer im Sommer und Lokomotivführer im Winter zu widmen, hat er sich dem Journalismus verschrieben.
Hendrik ist in Plochingen bei Stuttgart aufgewachsen, er studierte Spanisch und Lateinamerikastudien in Hamburg. Während eines Praktikums in Mexiko in einer Migrant*innenherberge half er bei einer Geburt, später startete er in Kolumbien einen spanischsprachigen Podcast über Migration. Seit Sommer 2024 schreibt er für “kohero”, ein interkulturelles Hamburger Stadtmagazin. Den Artikel über Eiscreme schreibt er morgen. Ganz bestimmt. (Kürzel: hmh)

Hinterlasse einen Kommentar

Please enter your comment!
Please enter your name here