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In Hamburg wird gecornert – und das oft bis spät in die Nacht. Dann wird ein öffentlicher Platz zum Szene-Treffpunkt und ein Kiosk zur hippen Bar. Nicht jedem gefällt das. Aber was sind die Auswirkungen? Sieben Mythen im Check.

Es riecht nach Bratfett, wenn man aus der Sternschanze kommend in die Straße Beim Grünen Jäger einbiegt. Die beste Currywurst soll es hier geben, das behauptet ein Aufkleber am „Imbiss bei Schorsch“. Das Umfeld ist szenig: Totenköpfe liegen in einem Schaufenster aus, und Schlüsselanhänger mit der Aufschrift „Heimat St. Pauli“. Irgendwo dröhnt Musik aus einem Handylautsprecher, man hört Stimmen und Gelächter.

Schon am frühen Abend tummeln sich etwa 30 Leute auf dem freien Platz, in den die schmale Straße mündet – sie cornern. Der Begriff ist vom englischen Wort „corner“ für Ecke abgeleitet und beschreibt eine Ansammlung von größeren Gruppen im Freien. Auf der Straßenseite gegenüber der Tabakbörse, einem Kiosk, haben es sich drei Männer auf einem blauen Sofa unter einer Laterne gemütlich gemacht. Der Platz ist zum Hotspot geworden. Corner-Primetime ist hier vor allem donnerstags bis sonntags, eben dann, wenn die feierwütige Masse unterwegs ist.

Im Sommer stehen hunderte Menschen hier und warten in einer Schlange auf ihre Getränke. Das Bier am Kiosk ist schließlich günstiger als in der Kneipe und die Bars werden das schon überleben. Oder? Wir unterziehen sieben Corner-Mythen dem Faktencheck.

Mythos 1: „Cornern“ ist eine Hipster-Erfindung

Das ist falsch. Die Geschichte des Cornerns reicht weit zurück. Ansammlungen von Menschenmassen auf offenen Straßen hat es schon immer gegeben. So bezeichnet wurde das Ganze spätestens in William Foote Whytes Fallstudie „Die Street Corner Society“ im Jahr 1943. Der US-amerikanische Soziologe verbrachte Jahre in dem amerikanischen Slumviertel Cornerville und beschreibt das Leben der überwiegend italienischen Einwanderer. Er teilte die jüngeren Bewohner in zwei Hauptkategorien: die corner boys und die college boys. „Die corner boys, die Eckensteher, sind Gruppen von jungen Männern, deren gesellschaftliche Aktivitäten sich an bestimmten Straßenecken konzentrieren […], Imbißbuden, Billardsalons oder Clubs.“ College Boys hingegen zeichne eine bessere Ausbildung aus, „sie versuchen, sich Positionen in besseren Berufen zu schaffen“.

Auch in den 80er Jahren wird das Leben auf der Straße in der Bronx, New York, als cornern bezeichnet. Hier werden erstmals Musik und Hip Hop mit dem Begriff assoziiert. Das ist also keine Erfindung des modernen Hipsters. Neu ist allerdings, dass heute die „College Boys“ cornern. Was damals noch eine Beschäftigung der Arbeiterklasse war, wird nun auch von Akademikern betrieben. Von überall her kommen sie mit der S-Bahn extra in die Schanze angereist.

Mythos 2: Nur junge Leute cornern

Beim Cornern geht es um das gesellige Miteinander, betrunken oder nicht. Auf den ersten Blick sind es in St. Pauli vor allem junge Leute, Studenten, die sich auf der Straße tummeln. Kim (25) ist hier häufiger: „Ich mag cornern, weil es ein ständiges Kommen und Gehen ist. Wie ein kleines Open Air, nur mitten in der Stadt!“ Sehen und Gesehen werden, das geht vielen so. Cornern ist hip. „Es ist ein bisschen wie der Londonstyle, alle, die nach der Arbeit draußen auf der Straße trinken.“, ergänzt die Berliner Studentin Tisa (23). Dennoch sind nicht nur Studenten vor der Tabakbörse zu finden. Auf die Frage, weshalb er sein Hefeweizen in einem Glas draußen statt in der Bar trinke, antwortet Andre (41): „Genau deshalb, um ohne Zwang, einfach so ins Gespräch mit anderen zu kommen.“ Er und seine Freunde kommen gerade aus der Toast Bar. Mick (46) kommt aus München und kennt das Cornern auch von dort: „Ich finde es draußen viel angenehmer als in der Bar, der Preis ist erst einmal egal.“

Mythos 3: Die Getränke am Kiosk sind viel billiger als in den umliegenden Bars

Das stimmt. Ein Blick in die Getränkekarte der Tabakbörse zeigt: die Preise sind unschlagbar. Wein und Sekt gibt es für unter 3 Euro. Einen halben Liter Astra kriegt man für 1,30 Euro, das teuerste Bier auf der Karte kostet 2 Euro. Für den großen Durst wird auch in Sixpacks verkauft. Zum Vergleich: In den meisten Bars kostet ein 0,4l Astra fast das Dreifache.

Auch ein beliebter Corner-Treffpunkt: der Schanzenpark

Mythos 4: Der Lärmt sorgt für ein erhöhtes Aufkommen an Beschwerden

Was für die einen eine schöne Trinkatmosphäre ist, ist für die anderen quälender Lärm. Cornernde berichten von Wasserbomben im Sommer und Schreien aus den Fenstern der Nachbarn. Markus*, Ende 50, wohnt in der Wohlwillstraße und ist von der steigenden Lärm-belästigung vor seiner Wohnung genervt. Er hat eine deutliche Meinung zu der gut gelaunten Masse: „Laut, müllig und nervig! Provinzler lassen die Sau raus und machen, was sie sich zu Hause nicht trauen!“ Rene Schönhardt von der Pressestelle der Polizei Hamburg versteht die Anwohner. Es gebe mal ruhige, mal weniger ruhige Zeiten. Die Stimmung aber sei friedlich, auch gegen-über der Polizei. Ein erhöhtes Einsatz- oder Straftatenauf-kommen könne die Polizei nicht verzeichnen. „Bisher liegen“, so Schönhardt, „zwei schriftliche Beschwerden über Lärmstörungen und Verkehrs-behinderungen vor“.

Mythos 5: Die Straßen sind durch das Cornern dreckiger als sonst

Leere Glasflaschen, ausgedrückte Kippen, Bierdeckel. Das Cornern verdreckt Hamburgs Straßen, sollte man meinen. Reinhard Fiedler, Pressesprecher der Stadtreinigung Hamburg, sieht das gelassen: „Die damit verbundene Verschmutzung ist erheblich. Allerdings sind dies Bereiche, die sowieso intensiv von uns gereinigt werden. Es macht dabei kaum einen Unterschied, ob viel oder noch mehr Müll auf der Straße liegt, da sowieso jeder Quadratmeter gefegt wird.“ Problematisch sei etwas ganz anderes: das Urinieren.

Mythos 6: Alle pinkeln in die Büsche

Jedes weitere Getränk drückt auf die Blase, eine öffentliche Toilette gibt es in der Nähe nicht. Während es viele Frauen auf die Toiletten der umliegenden Bars verschlägt, kürzen Männer den Weg häufig ab – das dunkle Gebüsch liegt der Tabakbörse direkt gegenüber und bietet manch einem Schutz vor neugierigen Blicken. Erledigt, weiter geht’s. Das kann auch Matze Knoop bestätigen. Der Betreiber des Grünen Jägers bekommt die Konsequenzen des Cornerns direkt mit. Auf die Toilette kommen die Trinklustigen bei ihm aber nicht: „Ganz einfach. Hier finden Veranstaltungen statt, die Eintritt kosten. Möchtest du auf Toilette, dann musst du den Eintritt zahlen.“

Mythos 7: Bars sterben durch das Cornern langsam aus

Ob die Tabakbörse zu einer Konkurrenz für die umliegenden Bars wird, dazu möchten sich die Mitarbeiter nicht äußern. Matze Knoop stellte in den vergangenen Jahren einen Rückgang der Besucherzahlen fest. Im Grünen Jäger merke man das schon. „Früher hieß es Vorglühen. Heute ist aus dem Cornern eine Art „Gesamtglühen“ geworden, im Sommer bleiben die meisten draußen“. Das betreffe die Clubs nicht so stark wie Bars. „Wir bieten Partys und auch kulturelle Angebote an. Wer auf eine bestimmte Party möchte, der geht auch nach dem Cornern noch in den Club. Umliegende Bars haben es da schwerer.“ Darüber hinaus hätten Lokale gesetzliche Bestimmungen einzuhalten, ein Kiosk brauche sich damit nicht zu befassen. Heike Lehmann vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA Bundesverband) weiß von Klagen der Gastronomen wegen der Lärmbelastung. „Statistische Erhebungen über die Auswirkungen dieser Partys auf die Besucherzahlen in Clubs haben wir nicht.“ Trotz fehlender Zahlen ist vom Unmut der Barbetreiber auf St. Pauli häufiger zu lesen. Der Focus berichtet beispielsweise von der Daniela-Bar, die für einen Abend zum Kiosk umfunktioniert wurde – mit Plastikbechern und Dixi-Klos. Die Protestaktion sollte die Gäste für die zu schützende Barkultur sensibilisieren.

Und dennoch: Tabakbörse und Bars in der Schanze sind kein „Entweder-Oder“. Man kann an einem Abend auch beides machen. Den Abend gemütlich in einer Bar beginnen und bei einem weiteren Bier in immer wechselnder Gesellschaft draußen ausklingeln lassen. Schließlich macht das die Hamburger Schanze aus: unterschiedliche Lokale dicht beieinander, jung und alt auf gleicher Fläche. Und wenn der Hunger kommt, dann gibt es irgendwo auch immer eine Currywurst.

* Name von der Redaktion geändert

Yasmin Turk