Nach 24 Jahren muss die Kultkneipe „Querbeet“ in Hamburg-Altona schließen. Damit verschwindet ein Stück Ottensen. Betreiber und Stammgäste erzählen, wie sich das anfühlt.

Es ist bunt im Querbeet. Teelichter stehencheinen auf den Holztischen, auf den Stühlen liegen Sitzkissen und Fließdecken, Lichterketten hängen von der Decke. Ein Gast winkt mit dem Bierglas, woraufhin ein Barkeepeer mit weißen Haaren ihm zunickt. „Wie immer?“ Er bedient den Mann, dann setzt er sich selbst.

Horst steht schon lange hinter der Bar, wie lange genau, weiß er selbst nicht mehr. Seine Haare sind schulterlang, sie fallen ihm ins Gesicht, als er sich zu seiner Kaffeetasse beugt. Nervös spielt er am Griff herum. Seine Hände sind rau. Er ist Schauspieler. Jahrelang schlüpfte er in einem kleinen Theater in Hamburg in verschiedenste Rollen. Kommt er zu seiner Schicht ins Querbeet, streift er die Maske ab. Hier kann er sein wie er ist. Der echte Horst. Er lebt seine Arbeit hinter dem Tresen und von ihr. Nun muss die Kultkneipe schließen. In wenigen Monaten wird er arbeitslos.

Horst ist einer der ältesten Mitarbeiter, er ist fast von Anfang an dabei. „Mindestens 17 Jahre. Aber das spielt eigentlich keine Rolle, mittlerweile sind wir alle gleich eng.” Das ist der Betreiberin Afra wichtig. Es gibt kein älter, jünger, besser oder schlechter. Im Querbeet ist der Name Programm.

Das Lokal befindet sich mitten in Hamburg-Ottensen. Umringt von hohen Häusern, kleinen Bars und Restaurants, versteckt sich ein kleines Häuschen, einstöckig, einfach, rustikal: Das Querbeet. Tagsüber Café, abends Kneipe. Seit 24 Jahren kehren die Menschen in dem Lokal nahes des Altonaer Bahnhofs in Hamburg ein – noch bevor die Gegend zum In-Viertel wurde.

Afra selbst ist vor 30 Jahren aus dem Iran geflohen. Eine Kämpferin war sie schon immer, doch sprechen möchte sie darüber nicht. “Es geht nicht um mich. Es geht hier ums Querbeet, um das Team.” Die Betreiberin bezeichnet ihre sieben Mitarbeiter als Familie. „Und die Familie schützt man.“

„Ich habe immer versucht, den Kampf vor meinem Team zu verheimlichen. Aus Schutz vor der Ungewissheit und den Existenzängsten.“

Schützen wollte Afra sie auch am 30. Dezember 2015. Einen Tag vor Silvester erhielt sie den Anruf. Die Kündigung sei unterwegs. Vorher hatte sie monatelang nichts von den Vermietern gehört, war überrascht über die angenehme Ruhe. Vor ihren Mitarbeitern schwieg sie, setzte eine Maske auf – sie wollte ihnen den Jahresanfang nicht vermiesen. „Ich habe immer versucht, den Kampf vor meinem Team zu verheimlichen. Aus Schutz vor der Ungewissheit und den Existenzängsten.“ Erst einige Tage später, im Januar, eröffnete sie ihrem Team die Nachricht.

Sie sprach mit ihrem Anwalt und legte Widerspruch ein. Das Verfahren kannte sie bereits, immerhin war es die vierte Kündigung. Nur dass die anderen rechtswidrig waren, Form und Frist stimmten nicht. Wieder hörte Afra ein halbes Jahr lang nichts. Die Ruhe vor dem Sturm, wird sie im Nachhinein sagen. Im Juli kam dann die Antwort. Aber nicht vom Vermieter, sondern in Form einer Vorladung vors Gericht. Afra erinnert sich genau an diesen Tag. „Da wusste ich, dass es vorbei ist.“

Gewerbe wird in Deutschland gesetzlich weniger geschützt als Wohnraum. So ist eine Kündigung nach Beendigung des Mietvertrages mit einer Frist von sechs Monaten jederzeit möglich – auch ohne Begründung. Nach längeren Mietverträgen wird die Nennung eines Kündigungsgrundes zwar empfohlen, rechtlich ist sie allerdings nicht zwingend notwendig.

„Ich denke sie wollen nur selbst Geld machen. Es geht nur ums Geld. Und um die Gier.“

Fest steht: Ein neuer Mieter wird einziehen und das schon bald. Gerüchte über einen Abriss des Gebäudes bestätigen sich nicht. Der Vermieter selbst ist nicht erreichbar. Die große Frage, die bleibt, ist somit die nach dem Warum. „Ich weiß es nicht. Ich denke sie wollen nur selbst Geld machen. Es geht nur ums Geld. Und um die Gier.“ Afra sieht das Phänomen bei ihren Nachbarn. Geschäfte wechseln wie am Fließband. Ein Restaurant wird innerhalb kurzer Zeit vom Italiener zum Libanesen. Kioske schließen. Und was wird aus dem Querbeet? “Vielleicht wieder irgendeine Dönerkette.“

Das ist das Paradoxe: Je mehr neue Ketten aus dem Boden Ottensens sprießen, desto beliebter wird das Querbeet, ein Stück Persönlichkeit inmitten der Neubauten. Ein Viertel braucht diese Orte mit Seele. Prinzipiell ist jeder willkommen – solange er freundlich und höflich ist. „Selbst HSV- und Paulifans trinken bei uns zusammen ihr Bier. Das ist schon selten.“, sagt Horst.

Generell bleibt es im Querbeet immer friedlich, trotz der vielen unterschiedlichen Charaktere, die aufeinandertreffen. „Der Unterschied ist: Wir hören zu. Und zwar nicht nur so mit halbem Ohr, sondern wir erinnern uns an die Schicksale. Zuhören hilft manchmal schon sehr viel, auch im Umgang, da werden alle netter zueinander.“ Man interessiert sich füreinander. Die Nachbarschaft trifft zusammen, an manchen Abenden kennen sich alle, an manchen kennt sich niemand, doch eins fühlt man sich nie: fremd. Das ist Horst sehr wichtig: „Wir sind das Wohnzimmer von Altona.“

„Ottensen ist nicht mehr das, was es mal war. Ich will hier nicht weg, aber bei den Veränderungen hier, weiß ich auch nicht ob ich bleiben will.“

Das Querbeet steht im Kontrast zu den Entwicklungen des Viertels. Es ist ein Teil des alten Altonas, ohne Neubauten, überteuerte Mieten und Bio-Ketten. „Ottensen ist nicht mehr das, was es mal war. Ich will hier nicht weg, aber bei den Veränderungen hier, weiß ich auch nicht ob ich bleiben will.“ sagt Horst. Alles wird modernisiert. Alte Häuser schwinden, neue werden erbaut. Je höher, desto besser. Nach und nach schließen kleine Läden, um einer Burger-Kette oder Kinder-Boutique zu weichen. Hauptsache hip. Für das Querbeet gilt das nicht. Dort ist es egal, was man trägt, wie man aussieht, wo man herkommt.

Vielleicht ist das der Grund, wieso das Querbeet überdurchschnittlich viele Stammgäste hat. Da ist der Mann mit der Kapitänsmütze, der jeden Sonntag kommt. Die Studentinnen, die sich auf einen Kaffee treffen. Und Ludwig, der Obdachlose, der sich auf seinem Stammplatz mit einer Tasse Tee aufwärmt. Sie alle sitzen nebeneinander im Kerzenlicht. Im Hintergrund hört man die raue Stimme der Barkeeperin. Andrea ist ebenfalls Mitglied im Team. Die 53-Jährige wirkt taff, sie kann sich durchsetzen. „Ist ja eh bald alles vorbei, dann bin ich euch los!“, wehrt sie sich. Der Satz lässt aufhorchen. Denn in ihrer schroffen Art liegt plötzlich etwas Verletzliches. Sie verstummt, streicht sich verlegen eine Strähne aus dem Gesicht, die aus ihrem Zopf gefallen ist, schaut auf den Tresen. Jetzt wird ihr das Kerzenlicht zum Feind. Sie will sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie das Ende der Kneipe mitnimmt. Doch in ihren Augen spiegelt sich plötzlich die Flamme des Teelichts, glänzender als noch wenige Minuten zuvor.

„Ich darf da gar nicht hingucken, da werden mir heute noch die Augen nass.“

Vor einigen Jahren ist Norbert, ein Teammitglied, verstorben. An der Bar hängt ein Foto eines hellhaarigen Mannes, der herzlich in die Kamera lacht. Als Horst zu ihm hochschaut, senkt er schnell wieder den Blick. „Ich darf da gar nicht hingucken, da werden mir heute noch die Augen nass. Aber naja, ich sach ja: auch daran sind wir gewachsen.“

Gewachsen ist das Wort, das auch Afra immer wieder benutzt. „An gemeinsamen Erfahrungen wächst man eben. Auch wenn diese mal negativ sind.“ Afra klingt frustriert, aber nie hoffnungslos. „Wir sehen ein, wenn es Zeit ist, aufzugeben. Doch das heißt nicht, dass wir nicht weiterziehen.“

Mit Glück wartet ein Umzug auf das Team. Auch wenn sie müde ist, Afra würde weitermachen. „Für das Team, für die Stammgäste und für den Laden. 24 Jahre kann man nicht einfach wegschmeißen. Man muss positiv denken. Und wer weiß: Vielleicht werden wir woanders noch viel glücklicher. Und wenn nicht, dann haben wir auf jeden Fall bis zuletzt gekämpft!“

Nachtrag: Ein Umzug des Querbeets konnte nicht realisiert werden. Daher öffnete die Café-Kneipe am 31.03.2017 zum letzten Mal.

Lena Frommeyer ist Journalistin und Dozentin für Online-Journalismus am Mediencampus der HAW Hamburg. Sie betreut hier den Newsroom von FINK.HAMBURG. Sie schreibt u.a. für das Mobilitäts-Ressort beim SPIEGEL über Mobilität der Zukunft, Fahrradkultur, öffentlichen Nahverkehr und Verkehrspolitik. Davor hat sie unter anderem für das Stadtmagazin HAMBURG SZENE und die ZEIT gearbeitet.

Mareike Dudwiesus