Obdachlosigkeit gehört in Hamburg leider zum Stadtbild wie der Hafen und die Elbphilharmonie. Muss das so sein? Organisationen, die sich für Menschen ohne Obdach engagieren, und ein Betroffener erzählen, was Obdachlosen hilft.
Text: Mana Gheybi und Sophia-Maria Kohn
Der eiskalte Wind lässt die Schneeflocken um die Figuren tanzen, die auf dem Platz vor der Hamburger Zentralbücherei stehen. Es ist ein kalter Wintertag im Januar, als sich langsam eine Gruppe auf dem Arno-Schmidt-Platz versammelt.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Bachelor-Projektseminars „Digitale Kommunikation“ an der HAW Hamburg entstanden. Mehr zu den Autor:innen findet ihr unten.
Sie warten auf ihren heutigen Stadtführer. Er wird ihnen Hamburg aus einer anderen Perspektive zeigen. Tagesaufenthaltsstelle statt Alster. Caritas statt Rathaus. Obdachlosigkeit statt Einkaufspassagen. Ihr Stadtführer heißt Chris, ein sogenannter Hinz&Künztler. Er war lange obdachlos, inzwischen hat er einen Job und eine Wohnung gefunden.
Chris trifft ein. Er trägt eine dunkle Jeans und eine Jacke von Jack Wolfskin, dazu einen Schal und eine Cap gegen die Kälte – allesamt aus der Kleiderkammer. Nur die Schuhe hat er sich selbst gekauft. Füße sind unterschiedlich, und daher sei es wichtig, Schuhe selbst einzutragen. „Auf der Straße trägst du die Schuhe bis zu 18 Stunden am Tag. Da sind gute Schuhe wichtig!“
Eine Studie im Auftrag der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration von 2018 (S. 12) ergab, dass in Hamburg fast 2.000 Personen auf der Straße leben. Hinzu kommen rund 4.600 Menschen ohne eigene Wohnung, die in öffentlich-rechtlichen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe unter kommen.
Gutes Schuhwerk für die Straße
Hinz&Künztler:innen werden die Mitarbeiter:innen des gemeinnützigen Verlag Hinz&Kunzt GmbH genannt. Das Hamburger Straßenmagazin wird von obdach- oder wohnungslosen Menschen verkauft. Es existiert bereits seit 1993 und zählt zu den Pionierprojekten seiner Art.
„Leute gehören nicht auf die Straße, die haben ein Anrecht auf eine eigene Wohnung“, ärgert sich Sonja Norgall im Gespräch mit FINK.HAMBURG. Sie ist die langjährige Projektleiterin vom Mitternachtsbus in Hamburg. Jeden Abend fährt der Mitternachtsbus durch die Straßen Hamburgs und sucht den Kontakt zu obdachlosen Menschen. Es gibt warme Getränke und Schlafsäcke – manchmal auch nur ein kurzes Gespräch.
Auf der Straße lebt Chris seit einigen Jahren schon nicht mehr, aber ein gutes Schuhwerk ist ihm dennoch wichtig. Denn Chris leitet die Hinz&Kunzt-Stadtführung „Hamburger Nebenschauplätze“. Bis zu 400 Touren pro Jahr hat er vor Corona gemacht.
Auf Wohnungslosigkeit folgt oft Sucht
„Ich bin Chris, im Ruhrpott geboren. Wundert euch daher nicht über meine manchmal etwas direkte Sprechweise…“. Nach der Begrüßung geht es um die Zentralbücherei herum zum sogenannten Drob Inn. Die Beratungsstelle für Drogenabhängige mit integriertem Drogenkonsumraum liegt direkt an den Gleisen.
Neben dem Magazin hat Hinz&Kunzt weitere Projekte, wie die Stadtführung „Hamburger Nebenschauplätze“ und „BrotRetter“. Darüber hinaus sollen dauerhaft Wohnraum und Arbeitsplätze vermittelt werden. Ziel des Verlages ist es, dass Hinz&Künztler:innen ihre schwierige Lebenssituation überwinden, sich individuell entwickeln und wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Chris berichtet, dass die meisten Menschen zwischen 12 und 13 Jahren das erste Mal mit Drogen in Kontakt kämen – häufig mit den legalen Einstiegsdrogen Alkohol oder Nikotin. Über diese kämen dann die meisten zwischen 18 und 22 Jahren das erste Mal in Kontakt mit härteren Drogen. Medikamentenmissbrauch sei total unterschätzt, meint Chris. Das Bundesministerium für Gesundheit schätzt auf seiner Homepage, dass 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig sind. Rund 600.000 Menschen weisen einen problematischen Konsum von Cannabis und anderen illegalen Drogen auf.
Nicht immer seien Drogen eine Ursache für Obdachlosigkeit, aber häufig sei Obdachlosigkeit die Ursache einer Suchterkrankung, erzählt Chris. Denn oft seien die Vorstufe der Obdachlosigkeit Depressionen oder Schicksalsschläge, die nicht verarbeitet werden. Und dann scheinen Alkohol und Drogen für viele der einzige Weg zu sein, um sich und den Schmerz zu betäuben.
Dann unterbricht sich Chris selbst beim Reden, als er sich eine Zigarette dreht, und scherzt: „Übrigens bin ich der Stiefsohn von Helmut Schmidt. Ich bin Kettenraucher. Also wundert euch nicht, wie viele Zigaretten ich hier so durchballer.“
Keine vier Wände, die Alkoholismus verbergen können
Er kommt ins Stocken, als er vom Teufelskreis aus Sucht und Kriminalität berichtet. „Hab ich doch schon… Meine Festplatte…“, schmunzelt er über seine Vergesslichkeit. Wegen seines langjährigen Alkoholkonsums habe er diese „Denkaussetzer“, wie er sie selbst nennt.
Chris war süchtig und ist es nach wie vor: Abhängig von Alkohol. Weit verbreitet ist das Stereotyp des alkoholkranken Obdachlosen. Dabei ist der einzige Unterschied zu Nicht-Obdachlosen: Das Obdach und die eigenen vier Wände, die diese Tatsache verbergen.
Durch Hinz&Kunzt fand Chris eine Wohnung, eine Arbeit und damit seine persönliche Therapie: „Am Anfang konnte ich nur eine halbe Stunde verkaufen, weil dann kam der Teufel Alkohol. Aber je häufiger ich losgegangen bin, desto mehr habe ich eine Struktur bekommen. Das heißt, ich habe automatisch immer weniger getrunken. Ich habe es nicht mal gemerkt!“ Anstatt drei Flaschen Wodka am Tag, wie er es zu seinen Hochzeiten getan hätte, trinke er jetzt nur noch gelegentlich Bier.
Obdachlosigkeit macht krank
Als Nächstes führt Chris die Gruppe zu einer Straßenecke an der Norderstraße. Hinter ihm ist ein großes Haus, an dessen Fassade mit satten Farben Obst gemalt wurde – das Del Monte Advertising Mural. Im Schatten der bunten Farben reihen sich hellgraue Container, in denen die Caritas den sogenannten Stützpunkt eingerichtet hat.
Die Caritas ist der Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche Hamburg. Menschen in existenziellen, psychischen oder seelischen Notlagen bietet die Caritas Unterstützung und Beratung. In der Einrichtung StützPunkt besteht für obdachlose Menschen ein Angebot über kostenlose Schließfächer, Toiletten und einen Aufenthaltsraum.
Chris erzählt von der medizinischen Versorgung auf der Straße: Vom Arzt- und Zahnmobil und von der noch recht neuen Gynäkologie-Praxis auf vier Rädern, die notwendig geworden sei, seitdem immer mehr Frauen auf der Straße leben. Obdachlosigkeit macht krank. Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” zitierte zu dem Thema Seena Fazel von der University of Oxford: „Obdachlose gehören zu den kränksten Menschen in unserer Gesellschaft. Wegen der schlechten Gesundheit sind sie Jahrzehnte früher alt.“
Das Rauschen der Automotoren ist von den Straßen zu hören, eine Frau geht an der Gruppe vorbei und ruft: „Bollberg, du Sack!“ Sie scheint psychisch krank zu sein. Ihre Kleidung ist ihr zu groß, an jeder Hand eine Plastiktüte mit ihren Habseligkeiten.
„Es gibt psychisch Kranke, die auch schon vorher psychisch krank waren. Und es gibt die Leute, die aus anderen Gründen auf die Straße rutschen und dann psychisch krank werden“, erklärt Sonja Norgall.
Ausweg aus der Lebenssituation
Auch Chris musste erst lernen, mit Schicksalsschlägen umzugehen.
Seinen Eltern wurde er mit eineinhalb Jahren weggenommen, danach folgte eine Heimkarriere. Kurz vor der Volljährigkeit landete er auf der Straße. Hilfe lehnte er lange Zeit ab. Zu groß war gegenüber Sozialarbeitern und Betreuern sein Misstrauen, sein Trauma. Chris gehört zu den Missbrauchsopfern der katholischen Kirche.
Er fing an zu trinken, betäubte seinen Schmerz. Hilfe suchte er nicht, lehnte diese vehement ab. Heute ist ihm wichtig, sich selbst einzugestehen, „dass man eigentlich Hilfe braucht. Durch die Depression, Suchtverhalten holt man sich keine Hilfe. Heute würde ich mir Hilfe holen. Ich sehe auch nüchtern die Welt, hatte ich damals aber nicht.“ Inzwischen vertraue er anderthalb Personen, meint Chris. Hinz&Kunzt habe ihm einen Ausweg aus seiner Lebenssituation geboten.
Was benötigt ein Obdachloser zum Leben?
Die Norderstraße entlang geht es weiter zum „herz as“, einer Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose. Sie können das „herz as“ auch als Postadresse nutzen, erzählt Chris. So können sie Hartz IV beantragen und sich versichern.
„Wie viel Geld braucht denn ein Obdachloser, wenn er keine Drogen kauft?“, fragt Chris in die Runde und beantwortet die Frage gleich selbst: Etwa 1000 Euro im Monat würde ein Obdachloser benötigen. „Haben tun sie’s natürlich trotzdem nicht“. Es sei außerdem nicht so, dass wohnungslose Menschen nicht arbeiten wollen, sie fänden lediglich keinen Einstieg. Dabei ginge es gar nicht darum, das große Geld zu verdienen, sondern viel eher darum, eine Struktur und Unterhaltung zu haben. „Reich wirst du durchs Zeitungverkaufen nicht.“ Aber die Struktur und das soziale Umfeld, haben dazu beigetragen, dass Chris sich stabilisieren konnte.
Sorge vor dem Nichts zu stehen
Doch die Sorge davor, irgendwann wieder mit Nichts dazustehen, ist tief in Chris verankert. Er kann sich nur sehr schwer von Leergut trennen. „Das ist immer in meinem Kopf so, das ist mein Notgroschen, falls ich mal pleite bin.“ Erst in diesem Monat habe er gemeinsam mit Stephan 800 Flaschen weggebracht.
Stephan Karrenbauer ist Chris Sozialarbeiter und politischer Sprecher von Hinz&Kunzt. Außerdem sieht er, wie Chris findet, aus wie Jürgen Drews. Seit 1995 arbeitet Stephan Karrenbauer bei Hinz&Kunzt, leitet dort die Arbeits- und Wohnprojekte.
Struktur und soziales Umfeld sind wichtige Faktoren
Die Gruppe folgt Chris die Treppen hinunter in eine große Halle im unteren Bereich der Zentralbibliothek. Nach dem kalten Spaziergang stellt sich die Gruppe an die Heizung, während Chris sich vor sie stellt und seine persönliche Geschichte erzählt.
Sieben Jahre lang hat Chris auf der Straße gelebt. Die ersten zweieinhalb Jahre ist er noch arbeiten gegangen. Er hat Tagesjobs übernommen. In dieser Zeit wurde er zum Vollalkoholiker. Am Ende konnte er nicht mehr arbeiten. Als er schließlich nach Hamburg kam, wurde er auf Hinz&Kunzt aufmerksam. Seit dem 4. Oktober 1995 ist er als Hinz&Künztler tätig. Heute lebt Chris in einer Einzimmerwohnung und ist festangestellt bei Hinz&Kunzt.
Wünsche an die Stadt
Auf der Straße müsse man immer Angst haben, sagt Chris. In Ruhe schlafen könne man nicht. Das ginge nur, wenn man eine Tür habe, die man schließen und hinter der man zur Ruhe kommen könne. Gerade deswegen sei es für Obdachlose so wichtig, neben der Berufstätigkeit auch Einzelwohnraum zu schaffen – bezahlbaren Einzelwohnraum. Das wünscht sich Chris von der Stadt.
Stephan Karrenbauer geht sogar noch weiter: „Ich glaube [Housing First] ist ein gutes Zusatzinstrument, also die Leute nicht erst bei Fördern&Wohnen unterzubringen und zu sagen: ‘Du musst erstmal beweisen, dass du wohnfähig bist.’“ So müssen obdachlose Menschen nicht erst viel zu hohe Anforderungen erfüllen, um eine Wohnung zu erhalten.
Ist eine Zukunft ohne Obdachlosigkeit in Hamburg möglich?
Begleitung statt Betreuung. Darauf legt Chris viel Wert. Für ihn bedeutet Betreuung Kontrolle, Begleitung sei freiwillig. Das ist auch wichtig bei Menschen, die aufgrund psychischer Krankheiten auf der Straße landen. Sie bräuchten eine Person an ihrer Seite, die sie beim Prozess begleitet, den Weg aus der Obdachlosigkeit zu finden.
Housing First ist ein Konzept, das Wohnungslosigkeit unmittelbar beenden soll. Der Wohnraum soll dabei das erste sein, was obdach- oder wohnungslosen Menschen ganz unabhängig von der Erfüllung gewisser Anforderungen geboten wird. So müssen Obdachlose nicht erst beweisen, dass sie wohnfähig sind. Entwickelt wurde das Konzept in den 90er Jahren in den USA.
Die Menschen brauchen eine Person, auf die sie sich verlassen können, eine Person, die einen im Blick hat, ohne kontrollieren zu wollen. Sonja Norgall wirft allerdings ein, dass der erste Impuls von dem Menschen selbst ausgehen muss, manche Leute wollen sich einfach nicht helfen lassen. Aber die Menschen, die bereit sind, Hilfe anzunehmen, denen sollte sie auch angeboten werden.
Darüber hinaus müsse mehr Wohnraum geschaffen werden. Eben deswegen hält Stephan Karrenbauer Housing First für ein wirksames Instrument. Dabei müsse allerdings nicht nur das „Dach überm Kopf“ gegeben sein, auch eine schöne Einrichtung, ein Fernseher, ein bequemes Bett gehören dazu.
Sonja Norgall betont die Herausforderung für Drogenabhängige, nach dem Entzug clean zu bleiben, wenn sie in ihr altes soziales Umfeld zurückkehren und wie schwierig es sei, sich ein neues aufzubauen. Berufstätigkeit ist demnach eine wichtiger Schritt Richtung selbstbestimmteres Leben: Einen Sinn zu haben, morgens aufzustehen. Ein neues soziales Umfeld und Struktur in den Alltag zu bekommen.
Was wirklich geholfen hat
Stephan ist inzwischen Chris` guter Freund geworden. Seine Begleitung, der eigene Wohnraum und die Berufstätigkeit haben Chris dabei geholfen, seinen Weg aus der Obdachlosigkeit zu finden. Dennoch muss er jeden Tag erneut darum kämpfen, nicht in alte Verhaltensmuster zu fallen. Sein Job, der ihm nach all den Jahren noch Spaß macht, gibt ihm die Motivation dafür.
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Chris ist am Ende der Führung und seiner Geschichte angelangt. Er bittet jeden, noch ein paar Worte zur Stadtführung zu sagen. Danach verabschiedet Chris sich und die Gruppe begibt sich nach einem Nachmittag voller neuer Eindrücke auf den Weg nach Hause.
Als Kind zerdrückte Mana Gheybi, Jahrgang 1999, heimlich Eier im Supermarkt. Diese kriminelle Vergangenheit ließ sie erfolgreich hinter sich und machte 2017 Abitur in Darmstadt. Anschließend entschied sich Mana für ein Jura-Studium in Mainz. Das war ihr schon nach kurzer Zeit zu trocken. Sie bewarb sich für den Studiengang Medien und Information in Hamburg und zog nach der Zusage in den Norden. Ihr Praktikum absolvierte sie bei der ProSiebenSat.1 Media im Cross Media Management. Dort war Mana für die interne Kommunikation zuständig, machte die Gästeplanung für das „Frühstücksfernsehen“ und koordinierte das Material für Sendungen wie „Joko und Klaas gegen ProSieben“ und „Germany’s Next Topmodel“. Als Höhepunkt durfte sie unter anderem bei einer Aufzeichnung von „taff – das Lifestyle-Magazin“ dabei sein.
Wer mit Sophia-Maria Kohn im Auto unterwegs ist und ihr eine Freude bereiten will, dreht am besten nicht am Lautstärkeregler: Denn der ist in der Regel auf eine gerade Zahl eingestellt. Ihre Vorliebe für gerade Zahlen wurde ihr quasi in die Wiege gelegt, geboren wurde sie nämlich im Jahr 2000 in Reinbek. Dort absolvierte sie 2018 auch ihr Abitur und war danach einen Tag lang für Rechtswissenschaften in Kiel eingeschrieben. Als aber die Zusage für Medien und Information kam, entschied sie sich für den kreativeren Weg. Im Rahmen des Studiums konnte sie erste redaktionelle Erfahrungen sammeln: Während ihres Praktikums bei einem Online Marketing Unternehmen verfasste sie Texten über Hundetreppen bis hin zu Bollerwagen. In ihrer Freizeit spielt Sophia schon seit Jahren Handball im Verein. Während ihrer drei Monate in Südafrika hatte sie sogar den Posten der Teammanagerin für die U19-Handball-Nationalmannschaft inne.