Illustration: Lars Krause

Weil sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, arbeiten Menschen mit Behinderung oft in Werkstätten. Das Unternehmen Das Geld hängt an den Bäumen zeigt, dass inklusive Konzepte auch auf dem regulären Arbeitsmarkt möglich sind.

­­­Dreißig junge Obstbäume in zweieinhalb Stunden: Das Tagesziel ist erreicht. In Arbeitskleidung und mit großen Schaufeln in der Hand kommt das Gartenteam zurück von der Grünfläche. Etwa eine Dreiviertelstunde braucht man aus der Hamburger Innenstadt, um diesen Ort in Curslack zu erreichen – mit der S-Bahn und dem Bus. Darius, Marcel, Timo, Gina und Stefan haben sich heute hierher auf den Weg gemacht, um die Fläche aufzuforsten.

Das Team arbeitet bei Das Geld hängt an den Bäumen. Grundgedanke des sozialen Unternehmens ist, Obst zu sammeln, das nicht genutzt würde – etwa aus privaten Gärten oder von Streuobstwiesen. Das Obst wird dann bei einer Familienmosterei zu Direktsäften und Schorlen verarbeitet, welche die Firma an Restaurants und Cafés verkauft.

Auf einer Grünfläche, die von großen Bäumen umgeben ist, stehen junge, noch kahle Obstbäume.
Auf der Wasserwerksfläche Curslack stehen dreißig neue Obstbäume. Foto: Emelie Hollmann

Nancy Menk, Geschäftsführerin von Das Geld hängt an den Bäumen erklärt, dass das noch nicht alles ist. Nachhaltigkeit stehe für sie im Dreiklang. Zur ökologischen und ökonomischen Seite gehöre auch eine soziale. Deshalb arbeiten mit ihr Menschen, die in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt „nicht gesehen werden“, wie sie sagt.

So ging es zum Beispiel Gina Pfeiffer. Die gelernte Friedhofsgärtnerin ist seit etwa zwei Jahren im Team dabei. Davor war sie im Garten- und Landschaftsbau tätig. Da sei es nicht immer leicht für sie gewesen: „Die Leute kommen manchmal nicht mit Leuten klar, die eine Schwäche haben“, sagt sie und meint ihre Behinderung. Pfeiffer hat einen anerkannten Behindertenstatus. Und sie wirkt überhaupt nicht schwach. Sie lacht viel, wenn sie von ihrer Arbeit und ihren Kolleg*innen erzählt. Von sich selbst spricht sie als eine der „Powerfrauen“ im Team. Mit ihrer braunen Arbeitshose und der grünen Fließjacke trifft sie genau die Farben der Bäume in ihrer Umgebung.

Die Geschäftsführerin und eine Mitarbeiterin von Das Geld hängt an den Bäumen mit einer gelben Fruchtschorle in der Hand.
Nancy Menk (links) und Gina (rechts) mit ihrer Apfelschorle in der Hand. Foto: Emelie Hollmann

Der zweite Arbeitsmarkt: Eine Langzeit-Rehabilitation?

Auf den ersten, dem regulären Arbeitsmarkt, scheinen Menschen mit Behinderung oft nicht zu passen. Deshalb arbeiten sie zum Großteil in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Das sind Einrichtungen, über die behinderte Menschen einer Arbeit nachgehen können mit dem Ziel der Eingliederung auf den Arbeitsmarkt. Dementsprechend sind Werkstätte keine Erwerbsbetriebe, sondern Orte zur beruflichen Rehabilitation, also zur Teilhabe am Arbeitsleben.

In der Theorie sieht das so aus: „Menschen absolvieren eine Ausbildung oder lernen einen Arbeitsbereich so gut kennen, dass sie an den Integrationsservice Arbeit (isa) vermittelt werden können“, sagt Martina Fredersdorf, die die Werkstatt Alsterspectrum leitet. Dieser Integrationsservice soll den Klient*innen dann Arbeitsplätze auf dem regulären Arbeitsmarkt vermitteln.

In der Realität kommt es dazu nur selten: Seit September 2020 gibt es die integrierten Werkstätten Alsterspectrum in Bahrenfeld, bei der sich vier einzelne Betriebsstätten dieser Art zusammengeschlossen haben. 102 Menschen sind hier aktuell beschäftigt. Von September 2020 bis April 2023 wurden drei Beschäftigte auf den ersten Arbeitsmarkt integriert. „Das zu schaffen, ist wirklich schwierig“, sagt Fredersdorf.

Eine Werkstatt-Mitarbeiterin steht hinter einen großen, weißen Keramik-Schüssel.
Sabine, die seit vierzig Jahren in der Werkstatt arbeitet, hält ihre selbst gemachte Keramik-Schüssel in der Hand. Foto: Emelie Hollmann

Eine Mitarbeiterin der Werkstatt ist Sabine Müller. Sie arbeitet seit 40 Jahren mit Keramik. An einer Wand hängt ein altes Foto, dass Müller beim Drehen zeigt. Sie ist 60 Jahre alt und hat Angst, bald in Rente gehen zu müssen – weil ihr das Arbeiten Spaß macht, weil es sie beschäftigt hält. In Hopsern bewegt sie sich durch den Raum, in dem bunt lasierte Keramik in den Schränken steht. Müller greift zu einer Schüssel mit Katzenmotiv und erzählt von ihrer Liebe zu Tieren. Ursprünglich wollte sie Tierärztin werden, sagt sie und Tränen steigen in ihre Augen. „Aber wir sind doch hier auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Und beim Tierarzt, das ist der erste Arbeitsmarkt“, sagt sie.

In der Keramik-Werkstatt ist voll mit Keramik-Kunstwerken, Gläsern und Schüsseln, in der Mitte steht ein großer Holztisch.
Ein Blick in die Keramik-Werkstatt der WfbM Alsterspectrum in Bahrenfeld. Foto: Emelie Hollmann

Das System setzt Menschen und Unternehmen unter Druck

Der Weg zum ersten Arbeitsmarkt ist für Menschen wie Sabine voller Stolpersteine. „Übergänge sind noch sehr wenig verzahnt“, sagt Martina Fredersdorf. Die Werkstatt wird daher auch oft als Schutzraum wahrgenommen, so Marta Redondo Vara, Leiterin von Integrationsservice arbeit. Sie beschäftigt sich täglich mit der Begleitung von Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt. „Oft bringen sie Ängste mit, weil sie schon auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig waren und da krank geworden sind, sagt sie. Etwa unter dem dort herrschenden Druck.

Deshalb sei es den Menschen besonders wichtig, die Gewissheit zu haben, das sogenannte Budget für Arbeit zu beziehen. Dieser finanzielle Zuschuss ist dafür da, auszugleichen, was sie an Arbeit weniger leisten können. Das Geld wird an Arbeitgeber*innen geleistet, damit diese weniger gehemmt sind, Menschen einzustellen, die wegen ihrer Behinderung gegebenenfalls langsamer oder weniger arbeiten können. Wie hoch der Betrag ist, hängt von der individuellen Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer*innen ab. Er kann bis zu 75 Prozent des Gehalts betragen und wird monatlich ausgezahlt.

Aber die Behörde möchte auch sehen, dass sich die beziehende Person weiterentwickelt, so Redondo. Man geht davon aus, dass wenn eine Person länger einer Tätigkeit nachgeht, sie an Sicherheit gewinnt und auch an Leistungsfähigkeit.

Inklusion braucht Empathie und Geduld

16 Menschen arbeiten aktuell bei Das Geld hängt an den Bäumen – unter ihnen Menschen mit Autismus, Entwicklungsstörung, chronischen Erkrankungen und ehemalige Langzeitarbeitslose. Sie erhalten mindestens zwölf Euro die Stunde für ihre Tätigkeit, während es in den Behindertenwerkstätten keinen Mindestlohn gibt. Laut Zwischenbericht einer Studie des Bundestministerium für Arbeit lag das Einkommen in Werkstätten für behinderte Menschen im Jahre 2019 im Durchschnitt bei 220 Euro im Monat. Das entspricht 1,46 Euro die Stunde.

Menschen in eine Selbstbestimmtheit zu bringen und Selbstbewusstsein zu verankern sei ein Ziel des gemeinnützigen Unternehmens, sagt die Geschäftsführerin von Das Geld hängt an den Bäumen. Bei ihrer Arbeit gehe es ihr vor allem um Menschlichkeit, um Empathie. „Hier kommen ganz viele Personen zusammen, die woanders vermeintlich nicht zueinander passen und verstehen sich auf einmal, stehen füreinander ein. Das ist der Grund, warum ich das hier mache.“

Inklusion kann funktionieren, aber das Integrationssystem ist komplex und es braucht Geduld, bis Arbeitnehmende und Arbeitgebende so zusammenkommen, dass beide Seiten zufrieden sind. „Manche Unternehmen stellen sich den Prozess dorthin aber zu einfach vor und sind irritiert, wenn es ein bisschen dauert, bis wir die geeignete Person für ihre Stelle gefunden haben“, sagt die Leiterin des Integrationsservice, Marta Redondo Vara. Sie werden ungeduldig – auch weil die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt reichlich Druck auf Unternehmen ausübt. Es mangelt an Fach- und Arbeitskräften. Menschen sollen sich schnell in ihrem Arbeitsbereich einfinden. Darunter leidet die Möglichkeit zur Einarbeitung.

Schwierigkeit des Wirtschaftens im sozialen Bereich

„Ganz ehrlich, hier ist keiner behindert. Die Welt da draußen ist behindert.“, sagt Fredersdorf. „Sie behindert uns, ein Leben zu gestalten, wie die Klienten es gerne hätten.“ Die Betriebsstättenleitung von Alsterspectrum beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit den Lebensumständen von Menschen. Sie war bisher als Kinder- und Jugenderzieherin, als Sozialtherapeutin, in der ambulanten Altenpflege, in einer Einrichtung für autistische Erwachsene und als Assistentin im sozialen Wohnen tätig.

Soziale Einrichtungen werden nur begrenzt vom Staat unterstützt, weshalb sie auf eigene Einnahmen angewiesen sind. Deshalb kam Martina Fredersdorf irgendwann an einen Punkt, an dem sie gesagt hat: „Im sozialen Bereich muss man wirtschaften können, gerade wenn man begrenzte Mittel hat.“ So hat sie BWL mit dem Schwerpunkt Controlling studiert. Eine ihrer Aufgaben als Leitung ist auf die Wirtschaftlichkeit der Werkstätte zu achten.

Wie schwierig das mit dem Wirtschaften in einem Sozialunternehmen sein kann, hat Nancy Menk von Das Geld hängt an den Bäumen besonders durch die Corona-Pandemie erlebt. Als gemeinnütziges Unternehmen darf die Firma keine Rücklagen bilden. Und da sie keine Investoren haben, müssen sie sich immer wieder auf Spendenakquise begeben, erklärt die Geschäftsführerin. Sich immer wieder von einem profitablen System freizumachen, das eben nicht alle gleichermaßen mitnehmen kann, sei für sie besonders herausfordernd.

Wegen der Pandemie musste sie mit ihren Angestellten darüber sprechen, wer in Kurzarbeit geht. Auch hier zeigte sich, wie besonders der Zusammenhalt unter den Kolleg*innen ist. „Es ging den Beschäftigten darum, zu schauen, wer das Geld am meisten brauchen wird und nicht wer am meisten leistet“, so Menk.

Wachstum und Fruchtschorlen: Was Inklusion schaffen kann

Zurück zur Grünfläche in Curslack: Nach dem Einpflanzen der Apfelbäume laufen Gartenchef Timo Fust und sein Kollege Stefan Möller über das Feld am Wasserwerk. „Ich sehe einfach gerne Wachstum. Wachstum in jeder Hinsicht“, sagt Fust. „Hah, schön!“, kommentiert Möller die geschickte Wortwahl und legt sich ins Gras für eine kleine Pause. Die ist aber auch schon wieder schnell vorbei. Stefan Möller kann nicht lange stillsitzen. Viel Bewegung gab es auch in seiner Biografie. Er hat schon in der Werbebranche, als Speditionskaufmann, in der Veranstaltungstechnik, im Catering und als IT-Techniker gearbeitet.

Mit seiner Erfahrung ist der 38-Jährige ein Bindeglieder zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen – wie der Gartenpflege und dem Vertrieb der Säfte. Auch ihm ist der Zusammenhalt im Team wichtig.  „Wir kommen ja alle irgendwo her und haben alle unseren Rucksack zu tragen. Der eine hat’s am Herzen, der andere an der Seele, und wieder andere am Kopf“, sagt Möller.

Zwei Mitarbeiter von Das Geld hängt an den Bäumen knien auf dem Boden des Obstfeldes und schauen in die Kamera.
Stefan Möller (links) und Timo Fust (rechts) auf dem Obstbaumfeld zwischen neuen Apfelbäume. Foto: Emelie Hollmann

Emelie Hollmann, geboren 1998 in Hanau, hat schon bei minus 31 Grad gebadet - in einem norwegischen Fjord oberhalb des Polarkreises. In München studierte sie Kommunikationswissenschaft und Pädagogik. Parallel synchronisierte sie mit Kindern Filme und arbeitete bei mehreren Radiosendern. Als Komparsin steht sie auch mal vor der Kamera: In der Dokutainment-Serie “Haunted – Seelen ohne Frieden” mit Sky Dumont zum Beispiel starb sie und erstand als Geist wieder auf. Für ihren Seelenfrieden braucht Emelie nur genügend Kaffee – am liebsten in Gesellschaft. Ist sie doch mal alleine, läuft immer Musik - von den Strokes bis Berlioz. (Kürzel: emi)