Der Friseursalon als sozialer Treffpunkt – das gibt es auch noch in Hamburg. Besonders schrill geht es in der Schnitt Ecke zu. Ein Besuch bei Stefan, der in dritter Generation Haare schneidet.
Fotos: Sophie Rausch
Es ist ein Donnerstagmorgen kurz vor zehn Uhr im Hamburger Schanzenviertel. Am Ende einer Querstraße des Schulterblatts liegt an einer Straßenecke der Friseursalon Schnitt Ecke. Ein klobiger Zigarettenautomat hängt neben der Eingangstür, darüber ist das große pink-rote Logo des Ladens angebracht.
Öffnet man die Tür, hat man das Gefühl in die Maske eines Theaters gestolpert zu sein: Ein großer Spiegel, beklebt mit vielen Bildern und Stickern hängt an der Wand, darüber eine hellerleuchtete Lichterleiste. Die zwei alten Friseursessel und das Waschbecken in der Mitte des Raumes passen perfekt in diese Kulisse.
Aus dem Hinterzimmer ertönen Stimmen. Jil und Manfred, deren Altersunterschied um die 50 Jahre beträgt, warten auf einem in die Jahre gekommenen Sofa auf ihre Kund*innen. Stefan, der Salonbesitzer, raucht eine Zigarette lässig auf dem Stuhl zwischen Waschbecken und Fenster sitzend. Kurz vor zehn betritt der erste Kunde die Schnitt Ecke – der Arbeitstag beginnt.
Während sich Manfred und Jil schnell in Richtung Frisierraum bewegen, drückt Stefan gemütlich seine Zigarette aus. Er wirkt, als könne ihn nicht viel aus der Ruhe bringen. Der großgewachsene Mann ist Friseur in dritter Generation. In den 1980er Jahren riet ihm sein Vater das Handwerk bei Manfred zu lernen, den er aus der Zeit seiner eigenen Ausbildung kannte. Offensichtlich traute er ihm mehr zu als sich selbst. 18 gemeinsame Jahre in Manfreds ehemaligen Friseursalon folgten. Im Jahr 2009 nahm Stefan allen Mut zusammen und eröffnete seinen eigenen Laden im Hamburger Schanzenviertel. Dort bildet er seit sieben Jahren selbst aus und gibt sein handwerkliches Wissen an die nächste Generation weiter. Sein ehemaliger Chef Manfred hat seinen eigenen Salon vor Jahren aufgegeben, kann das Friseurhandwerk allerdings nicht ruhen lassen und arbeitet daher einmal die Woche bei Stefan im Salon.
Aylin war seine erste Auszubildende, darauf folgte Jil, die einer Frau gerade blonde Strähnen färbt. Im Moment ist eine weitere Auszubildende in der Lehre.
„Beruf und Integration Elbinsel gGmbH“
Alle drei Frauen wurden von der Beruf und Integration Elbinsel gGmbH, kurz BI, an den Salon vermittelt. Der Träger bereitet seit 1984 benachteiligte Jugendliche aufs Berufsleben vor und bildet sie aus. Die Einrichtung wird unter anderem von der Hamburger Behörde für Schule und Berufsausbildung gefördert. Bereichsleiterin Bera Bischoff erklärt: „Die jungen Erwachsenen haben meist multiple Schwierigkeiten, die sowohl familiär, psychisch oder im Lernbereich auftreten können.“
Die Jugendlichen mit Förderbedarf können in verschiedenen Berufen ausgebildet werden, unter anderem im Friseurhandwerk. Dafür durchlaufen sie zunächst für eineinhalb Jahre eine Ausbildung im eigenen Friseursalon der BI. Anschließend sieht das Programm Praktika in externen Friseursalons vor. So haben die Auszubildenden und die Salonbetreiber*innen die Gelegenheit zu testen, ob sie zueinander passen.
Bischoff sagt: „Unsere Leute sind Menschen mit Schwierigkeiten. Da kann es sein, dass sie morgens auch mal nicht pünktlich sind oder zwischendurch einen Hänger haben.“ Ein Szenario, mit dem die beteiligten Friseurbetriebe umgehen müssen. Wenn die Zusammenarbeit allerdings funktioniert, geht das Praktikum in die zweite Kooperationsphase über. An diesem Punkt übernehmen die externen Friseursalons die Ausbildung der jungen Erwachsenen.
Durch die Corona-Pandemie veränderte sich die Situation für Bischoffs Team und die Auszubildenden. Schon vorher sei es nicht leicht gewesen, Betriebe zu finden, die die Geduld und das Verständnis für die Jugendlichen mitbrachten. Hinzu kamen die finanziellen Einbrüche, mit denen die Friseur*innen durch die Pandemie zu kämpfen hatten. Heute haben Bischoff und ihre Kolleg*innen große Probleme, die angehenden Friseur*innen in die zweite Kooperationsphase zu vermitteln und damit ihre Ausbildung zu beenden.
Aylin und Jil schätzen die Möglichkeit, die sie bei Stefan in der Schnitt Ecke bekommen. Friseurin wollte Jil schon immer werden, genauso wie ihre Mutter und Oma. Da sie ein kleines Kind zuhause hat, war es über die BI und die Schnitt Ecke möglich, die Ausbildung in Teilzeit zu absolvieren. „Ich habe die Ausbildung verlängert, weil ich das Gefühl hatte, nicht mitzukommen. Auch wegen dem Kind, weil ich nicht so viel Zeit zum Lernen hatte wie die anderen“, sagt Jil.
Aylin ist seit über sieben Jahren in der Schnitt Ecke. Ihre berufliche Karriere begann sie mit einer Lehre zur Tischlerin. Doch aufgrund einer Allergie musste sie die Lehre abbrechen. Der Umschwung auf das Friseurhandwerk war eher ein Versuch als ihr Plan B. Doch er glückte: „Mir tut das super gut mit Menschen zu arbeiten“, sagt Aylin. Die junge Friseurin hat seit Jahren mit Depressionen zu kämpfen. Dadurch war sie zu kraftlos, um einen geeigneten Friseursalon für ihr Praktikum zu finden.
Die BI hatte sie damals bei der Kontaktaufnahme unterstützt und so absolvierte sie ihr erstes Praktikum in einer Friseurkette. Dort merkte sie schnell, dass der Ort nicht der richtige für sie war. Also ging die Suche nach einem neuen Salon in die nächste Runde. Mit der Hilfe der BI ist sie auf die Schnitt Ecke gestoßen. Dort ging es ihr direkt viel besser und sie konnte ihre Ausbildung beenden. Bei den Herausforderungen, mit denen Stefan als Ausbilder umgehen musste, ging es vor allem um die Kommunikation mit den Auszubildenden. Trotzdem hat ihn das nie davon abgehalten, Jugendlichen mit Schwierigkeiten immer wieder eine Chance zu geben.
Alltag in der Schnitt Ecke
Im Frisierraum geht es derweil munter zu. Die Termine sind eng getaktet, die Retro-Friseursessel durchgehend besetzt und nur mit Glück bekommen die nächsten Kund*innen noch einen freien Sitzplatz vor der geschmückten Wand. Das Geräusch des Rasierers ist laut, Alufolie raschelt, die fürs Färben von Strähnen gebraucht wird. Während einem älteren Mann die grauen Haare wieder in Form gebracht werden, wird einem Studenten auf dem Stuhl daneben der Vokuhila nachgeschnitten. Schickimicki gäbe es hier nicht, es gehe einzig und allein um die Haare, so Stefan.
Eine ältere Frau steht am Fenster der Eingangstür. Stefan sieht sie, hält ihr die Tür auf und sagt: „Komm kurz rein, hier ist die Presse.“ Aber sie winkt ab, drückt Stefan zwei Tüten mit Croissants in die Hand und geht. Stefan erzählt, die Nachbarin hätte vor einigen Jahren einen Schlaganfall erlitten. Sie rief zuerst Stefan an, er wusste was zu tun sei und informierte den Krankenwagen. Als Dankeschön bringe sie fast jeden Morgen süße Sachen für alle Mitarbeitenden.
Der Friseursalon als sozialer Treffpunkt
Nach zwei Stunden ununterbrochener Arbeit ergibt sich gegen zwölf Uhr eine kurze Verschnaufpause. Stefan nutzt die Zeit, geht vor die Tür und setzt sich auf die Fensterbank, um eine Zigarette zu rauchen. Er erzählt, es sei ihm wichtig, die Preise so anzupassen, dass sich auch der Bäckerlehrling um die Ecke und Sozialhilfeempfänger*innen einen Haarschnitt in der Schnitt Ecke leisten können. Und das scheint bei den Kund*innen heute anzukommen. Der Laden war voll, das Miteinander herzlich. Man wird das Gefühl nicht los, hier kommen Freund*innen einander besuchen.
Sophie Rausch, Jahrgang 1997, fühlt sich der Chemnitzer Band Kraftklub nicht nur musikalisch verbunden: Ihre Bachelorarbeit behandelt die Darstellung Ostdeutscher in “Spiegel” und “Zeit”, sie selbst stammt aus Brandenburg. In Bamberg studierte sie Kommunikationswissenschaft, Politologie und jüdische Studien. In Israel arbeitete sie in einem Wohnheim für autistische Menschen. Bei der Studierendenzeitschrift “Ottfried” war Sophie Chefredakteurin, privat wechselt sie ständig die Hobbys: Mal stickt sie, mal stellt sie Schmuck her, mal macht sie Badvorleger – der größte war so groß wie ein Topflappen. Kürzel: rau