Verscheucht, getreten, gejagt: Tauben haben es in Hamburg nicht leicht. Einige Ehrenamtliche widmen ihnen beinahe ihre gesamte Freizeit.
Andrea Scholl liebt Tauben. Deswegen stiehlt sie ihre Eier, kocht sie ab und legt sie in fremde Nester. Der Zweck: Weniger Tauben auf Hamburgs Straßen. Südlich der Elbe macht sich die 57-Jährige an diesem Sonntag mit ihrem Mann Thomas Scholl (63) auf den Weg. In einem Parkhaus nahe der S-Bahn-Haltestelle Neu Wulmstorf sucht das Ehepaar nach Nestern. Tagesprogramm: Eier tauschen. In ihrem Kofferraum: Drei Leitern aus Metall, mit denen sie auch an Tankstellen-Dächer kommen, und abgekochte Tauscheier. Die Scholls tragen schwarze Stoffhosen, Arbeitsstiefel, Handschuhe. Auf Andrea Scholls T-Shirt prangt eine Taube in schwarz-weiß. Daneben der Schriftzug: „We are their voice“.
“Haben wir es hier mit godzilla zu tun oder wovor muss man sich schützen?”
Metallstacheln auf Kameras, Snackautomaten, Auskunftsschildern: An einem Bahnhof zeigt sich, wie Tauben vertrieben werden sollen. Dazwischen aber nisten die Tiere, denn sie sind sehr ortstreu. Notfalls würden sie sich laut Andrea Scholl auch auf die Spikes setzen und brüten. „Eine Vergrämung mit Spikes bringt einfach nichts“, sagt sie. „Haben wir es hier mit Godzilla zu tun oder wovor muss man sich schützen?“
Mit zehn Jahren habe Andrea Scholl bereits ein Taubenküken von einem Nachbarn großgezogen und später ausgewildert. „Wir hatten immer Tiere“, sagt sie. Vor allem Vögel. 2013 gründete sie zusammen mit anderen den Hamburger Stadttauben e.V.. Ihr Mann hilft, wo er kann. Um 9 Uhr morgens starten sie an diesem Tag, ihre Tour dauert etwas über vier Stunden. Laut Peta sollte ein ausgetauschtes Ei nicht älter als vier Tage oder beim Durchleuchten keine dunkle Füllung deutlich erkennbar sein, damit der Kükenembryo noch nicht ausgebildet ist. Danach richten sich auch Andrea und Thomas Scholl, durchleuchten an diesem Tag regelmäßig Eier, die sie aus den Nestern sammeln.
Der Taubenschlag im Hamburger Hauptbahnhof
Direkt unterm Dach des Hamburger Hauptbahnhofs ist es stickig und warm. Samstagmittag im Mai, es sind über 20 Grad. Die Luft ist staubig, es riecht nach Holzspänen. Und es ist still, alle Tauben, die hier sonst nisten, sind ausgeflogen. Nur vereinzeltes Picken und Rascheln einiger verletzter Vögel ist aus Transportboxen zu hören. Und das Fegen und Kehren der Mitarbeiter*innen.
Claudia Voß steht im Vorraum des Taubenschlags. Sie ist die Schlagleitung in der „Casa Stefan“, benannt nach einem Fürsprecher der Deutschen Bahn. In dem Raum liegen Eimer, Kehrbleche, Besen. Braune Futtersäcke stapeln sich in einer Ecke – 25 Kilogramm wiegt ein Sack. Zwei Helfer*innen schleppen sie regelmäßig quer durch den Bahnhof die Treppen hinauf bis unters Dach. Um kurz nach 12 Uhr mittags ist an diesem Samstag bereits fast alles erledigt, was täglich anfällt: Kot abkratzen, Eier tauschen, Futter und Wasser auffüllen, verletzten Tauben helfen.
Eine von ihnen schaut neugierig aus einer Box. Voß hebt sie heraus. „Schmusi“ pickt ihr Kerne direkt aus der Hand, lässt sich in die Arme nehmen, genießt Streicheleinheiten. Die Taube hat Paramyxovirose (PMV), eine Krankheit, die das Nervensystem der Vögel angreift. Nach zu langer Gewöhnung an Menschen kann sie wohl nie wieder komplett ausgewildert werden. Für sie wird ein dauerhafter Platz gesucht.
Einen Raum weiter befindet sich der Schlag für die Stadttauben am Hauptbahnhof. Ausgelegt ist er für rund 140 bis 200 Stadttauben, täglich tummeln sich hier laut Voß etwa 600 bis 800 Tauben zum Futtern. Der Hamburger Stadttauben e.V. betreut noch zwei weitere Schläge in Mümmelmannsberg und Norderstedt.
Runter von Hamburgs Straßen
Im Taubenschlag am Hauptbahnhof sind große Holzgestelle mit Nestboxen an den Wänden angebracht. In ihnen liegen ausgetauschte Gipseier und ein paar spärliche Tabakstängel. Die Zweige sind ein beliebtes Nistmaterial für die Tiere. „Tauben sind keine guten Nestbauer“, sagt Voß. Für diesen Tag ist die Arbeit beendet und sie entfernt ein Gitter vom Fenster vor dem Schlag, das daneben öffnet sie. Hunderte Tauben quetschen sich durch zwei kleine Eingänge hinein, picken, gurren, nisten sich ein und verteilen mit ihrem Flügelschlag den Staub aus ihrem Gefieder im Raum. Weg von Hamburgs Straßen, weg vom Hauptbahnhof, weg von den hunderttausenden Schuhen und entnervten Schritten.
Viele Passanten fühlen sich von Tauben in den Städten gestört. Mythen, wie dass sie Krankheiten übertragen oder ihr Kot Gebäuden schade, halten sich hartnäckig. Dabei sei da nichts dran, sagt Voß. Die Hamburger Justizbehörde teilt auf Nachfrage mit, dass durch Taubenkot keine Schäden an Gebäuden zu erwarten seien und dass keine erhöhte Gesundheitsgefährdung von den Vögeln ausginge.
Durch Spikes oder Netze können sich die Tiere schwere Verletzungen zuziehen. Eine artgerechte Fütterung ist meist nicht möglich. Häufig sind Tauben laut Voß deswegen unterernährt und krank. Auf öffentlichen Plätzen in Hamburg gilt ein Fütterungsverbot. Die Stadt selbst möchte künftig sechs neue Taubenschläge fördern – drei am Hauptbahnhof und drei am Bahnhof Altona. Für die Menge an Tauben immer noch zu wenig, aber ein Schritt in die richtige Richtung, findet Voß. Freiwillig würden sich die Tauben nicht den Risiken auf Hamburgs Straßen aussetzen: „Alle Tiere, die du nachts auf der Straße triffst, die haben halt Hunger.“
„Für mich ist das ein Verbrechen“
Zuhause bei Ehepaar Scholl. Hier pflegt Andrea Scholl verletzte Tauben. Drei von ihnen laufen frei in ihrem Wohnzimmer herum. Sie sitzen vor der Fernsehkommode auf einer weißen Decke, die auf dem roten Teppichboden liegt. Andrea Scholl spricht sie mit Namen an: Oko, Malini, Benji. Nicht immer gibt es ein glückliches Ende für diese Tiere. Wenn es eines nach der Pflege nicht schafft, es eingeschläfert werden muss oder sie es tot in der Stadt wiederentdeckt, sei das nicht leicht. „Emotional kommt man sehr stark an seine Grenzen“, sagt Andrea Scholl. Wenn sie über die Schicksale der Tauben spricht, wie sie vergiftet, verscheucht, gejagt werden, wird ihre Stimme lauter, aufgeregter. Die Tiere würden teilweise mit schweren Verletzungen und Schmerzen herumlaufen „und keiner sieht das, keiner nimmt das wahr.“
Nicht überall erfahren die Tauben so viel Zuspruch. Die Stadt Limburg hatte Ende 2023 entschieden, ihre Stadttauben töten zu lassen. Der Grund: Es gebe zu viele von ihnen. Seitdem gab es auch Protest gegen diesen Beschluss. Am 09.06.2024 fand in Limburg parallel zur Europawahl ein Bürgerentscheid zur Taubenfrage statt. Andrea Scholl ist sichtlich angefasst, als sie über den Fall redet. „Für mich ist das ein Verbrechen“, sagt sie. Sie und ihr Mann haben in Limburg dagegen demonstriert. Die Routine aus ihrem Tageseinsatz ist verschwunden. Über das, worüber da debattiert wurde, spricht sie mit Tränen in den Augen. „Limburg ist wieder mal ein Paradebeispiel dafür, wie man sich an diesen Tieren vergeht.“ Mittlerweile steht das Ergebnis des Bürgerentscheids fest: Über 53 Prozent stimmten dafür, dass hunderte Tauben durch Genickbruch getötet werden sollen.
“Manchmal (…) habe ich das Gefühl, das kommt gar nicht an.”
Wenn sich Andrea Scholl etwas wünschen könnte, wären das flächendeckend betreute Taubenschläge mit artgerechter Fütterung und Fürsorge. 11 Jahre ist sie Mitglied im Verein. Mahnwachen, Präsentationen in Schulen, Infostände, Pressearbeit. Sehr viel getan hat sich nicht. „Manchmal, wenn ich auf die Straßen gehe, habe ich das Gefühl, das kommt gar nicht an.“ Am nächsten Wochenende startet ihre Tour erneut. Dann landen die abgekochten Eier von diesem Tag in neuen Nestern.
Laurenz Blume, Jahrgang 1999, behauptet von sich selbst, er mache die besten Zimtschnecken. Für die "Neue Osnabrücker Zeitung" schrieb er unter anderem über Schnecken im Garten, Schützenfeste im Norden und tickerte zu "Aktenzeichen XY". Während seines Praktikums bei Spiegel TV recherchierte er für das investigative Dokuformat "Die Spur", führte Vorgespräche mit Protagonisten und begleitete einen Dreh. In seinem Geburtsort Kiel absolvierte Laurenz den Bachelor in Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation. Ausgerechnet als Nordlicht stammt sein einziger Pokal von einem Skirennen. Die Zimtschnecken hätten aber auch einen verdient, sagt die FINK.HAMBURG-Redaktion. Kürzel: lab