Miriam Richter ist Professorin für Pflegewissenschaft an der HAW Hamburg. Warum es Pflegefachkräfte mit Bachelor-Abschluss braucht und was ihr trotz Pflegenotstand Hoffnung macht, sagt sie im Interview mit FINK.HAMBURG.

Interview: Laurenz Blume

Laut Statistischem Bundesamt benötigt Deutschland in den kommenden 25 Jahren hunderttausende zusätzliche Pflegefachkräfte. Eine alternde Bevölkerung, fehlender Nachwuchs und teils widrigste Arbeitsbedingungen in der Pflege tragen ihren Teil zur Personalnot bei. Miriam Richter, Professorin für Pflegewissenschaft an der HAW Hamburg, beschäftigt sich täglich mit den Problemen in der deutschen Pflege – und auch mit möglichen Lösungsansätzen.

FINK.HAMBURG: Die Pflegenot war während Corona sehr präsent. Wie ist der aktuelle Ausblick?

Miriam Richter: Nicht so rosig. Es gibt zunehmende Herausforderungen. Durch Entwicklungen wie den demografischen Wandel werden wir immer mehr pflegebedürftige Menschen und einen hohen Bedarf an Pflegenden haben. Laut letzten Hochrechnungen des Statistischen Bundesamtes sind das 280.000 bis 690.000 Pflegefachkräfte, die bis zum Jahr 2049 zusätzlich gebraucht werden. Das ist ein erheblicher Mehraufwand, den man jetzt händeringend versucht, irgendwie zu kompensieren.

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In den kommenden 25 Jahren könnten Deutschland hunderttausende Pflegefachkräfte fehlen.

Statistisches Bundesamt (Destatis), 2024

Sie leiten den dualen Pflegestudiengang an der HAW Hamburg. Wofür braucht es in dieser Lage überhaupt studierte Pflegefachkräfte?

Miriam Richter: Nicht nur der demografische Wandel spielt eine Rolle, sondern die Pflege ist insgesamt hochkomplex geworden. Dadurch, dass Menschen multimorbider werden, mehr chronische Erkrankungen auftreten, Versorgungslagen komplexer sind. Da müssen Pflegefachkräfte in klinischen Einrichtungen eine Person pflegen, die operiert wird und noch zusätzlich eine demenzielle Erkrankung hat.

Und es braucht Pflegefachkräfte, die mit dieser Komplexität umgehen können. Die eine qualitativ hochwertige Pflege-Prozessplanung durchführen und die Pflege eben auch auf einem reflexiven und wissenschaftsbasierten Niveau anwenden können. Die also wissen, wie komme ich an Studien, damit ich auch wirklich weiß, welche evidenzbasierten Pflegemaßnahmen ich durchführen kann.

“Eigentlich liegen wir hinter dem internationalen Standard weit zurück.”

Und wenn wir ehrlich sind und uns international umschauen, ist es eigentlich in den meisten Ländern der Fall, dass Pflege durchgehend akademisiert ist. Deutschland geht einen Sonderweg und davon aus, dass uns ungefähr 80 bis 90 Prozent an Pflegefachkräften ausreichen, die eine Ausbildung haben und dann bleiben je nach Forderung zehn bis 20 Prozent an akademischen Pflegefachkräften. Eigentlich liegen wir hinter dem internationalen Standard damit weit zurück.

Sollte wirklich die gesamte Pflege in Deutschland akademisiert werden?

Miriam Richter: Ja, die Pflege sollte voll akademisiert werden. Die genannten Herausforderungen machen erweiterte pflegerische Kompetenzen auf einem erhöhten Niveau notwendig. Die meisten Länder sind bereits voll akademisiert, auch die mit einem schlechteren Gesundheitssystem wie in den USA, aber auch Länder mit deutlich besseren Gesundheitssystemen wie die skandinavischen Länder.

In diesen Ländern, das zeigen auch Studien, verbessern sich beispielsweise die Verweildauer im Krankenhaus und Sterblichkeitsraten, wenn Pflegefachkräfte mindestens einen Bachelor-Abschluss in der Pflegepraxis haben. Und auch kommunikative Fähigkeiten, Beratungskompetenzen wie die Entscheidungsfähigkeit und kritisches Denken von Pflegefachkräften werden durch ein Studium verbessert.

Verschlimmert es die Personalnot nicht nur noch mehr, ausschließlich auf studierte Pflegefachkräfte zu setzen?

Miriam Richter: Ich würde sagen, es müsste dann über einen guten Skills-Mix beziehungsweise Kompetenzmodelle mit Pflegeassistenz, Bachelor- und Master-Absolvent*innen in der direkten pflegerischen Versorgung nachgedacht werden, so wie in anderen Ländern auch, und zum Teil auch hier in einigen Einrichtungen, um den pflegerischen Anforderungen gerecht zu werden.

Außerdem spricht eine Vollakademisierung auch andere Zielgruppen an und macht den Beruf wegen der Weiterqualifikationsmöglichkeiten attraktiver. Auch wenn eine Durchlässigkeit gewährleistet werden sollte. Allerdings wird das nicht kommen. Die Gesundheitspolitik in Deutschland zielt bisher ja auf eine Akademisierungsquote von bis zu 20 Prozent in der Pflegepraxis ab.

Fachkräftemangel, schlechte Arbeitsbedingungen, zahlreiche Überstunden: Wie kann bei so einem Zustand Pflege künftig noch funktionieren?

Miriam Richter: Ich glaube, die Pflege muss sich überlegen, wie sie mehr Menschen für den Beruf gewinnen kann. Wie Pflege zugänglicher wird für Zielgruppen, die vielleicht bis jetzt noch nicht so im Fokus waren. Zum Beispiel gibt es in der Pflege immer noch eine große Lücke zwischen den Geschlechtern. Pflege ist immer noch zu 80 Prozent weiblich dominiert. Man könnte sich beispielsweise nochmal überlegen, wie der Beruf für andere Zielgruppen attraktiver wird, die vorher noch nicht anvisiert wurden. Die Pflege ist hinsichtlich des Geschlechts, der Herkunft, des Aussehens noch sehr homogen.

82 Prozent der beschäftigten Pflegefachkräfte sind laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit Frauen.

Generell glaube ich, dass sich viele strukturelle Rahmenbedingungen verändern müssten. Zum Beispiel könnten über neue Arbeitszeitmodelle nachgedacht werden oder über Bereitschaftsdienste. Momentan bricht die pflegerische Versorgung schon zusammen, wenn eine oder zwei Personen im Dienst krank werden. Auch Einrichtungen selbst können sehr viel tun, um die Attraktivität des Berufes zu steigern, indem sie mehr in ihr Personal investieren. Sie sollten ihr Pflegepersonal als ihr höchstes Gut begreifen.

Ist die Situation in Hamburg grundsätzlich etwas entspannter als deutschlandweit?

Miriam Richter: Nein. Alle ringen um Bewerbungen, sowohl für die Ausbildung als auch fürs Studium. Vor allen Dingen auch um gute Bewerbungen. Das ist ein generelles Problem.

Trotz all dieser negativen Ausblicke: Gibt es etwas, das Ihnen für die Zukunft der Pflege Hoffnung macht?

Miriam Richter: Dass es eine Generation an Pflegenden gibt, die kritischer ihren Beruf ausüben. Die auch zu Recht mehr fordern, zum Beispiel hinsichtlich der Rahmenbedingungen, in denen sie arbeiten, und die sich stärker in der Berufspolitik engagieren. Ich kann mich noch erinnern, als ich die Ausbildung gemacht habe, waren wenige berufspolitisch aktiv. Dadurch, dass Pflegende sich mehr engagieren, können sie hoffentlich mehr bewirken und kritischer mit den Problemen in ihrem Beruf umgehen. Es macht auf jeden Fall Hoffnung, dass es kein „Wir machen weiter wie bisher“ gibt.

Laurenz Blume, Jahrgang 1999, behauptet von sich selbst, er mache die besten Zimtschnecken. Für die "Neue Osnabrücker Zeitung" schrieb er unter anderem über Schnecken im Garten, Schützenfeste im Norden und tickerte zu "Aktenzeichen XY". Während seines Praktikums bei Spiegel TV recherchierte er für das investigative Dokuformat "Die Spur", führte Vorgespräche mit Protagonisten und begleitete einen Dreh. In seinem Geburtsort Kiel absolvierte Laurenz den Bachelor in Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation. Ausgerechnet als Nordlicht stammt sein einziger Pokal von einem Skirennen. Die Zimtschnecken hätten aber auch einen verdient, sagt die FINK.HAMBURG-Redaktion. Kürzel: lab