Die Krankenkasse AOK veröffentlichte im Oktober den “Gesundheitsatlas Depression”. Demnach hat Hamburg einen Höchststand an Depressionen erreicht. Hanne ist eine von ihnen. Wie sieht die Lebensrealität von Betroffenen aus?

Triggerwarnung: Depressionen

Nicht traurig. Nicht glücklich. Auch nicht wütend oder enttäuscht. Wer an einer Depression erkrankt, fühlt häufig nichts, fühlt sich leer. Nun hat die Zahl der Menschen mit Depressionen in Hamburg einen Höchststand erreicht. 13,5 Prozent der Hamburger und Hamburgerinnen hatten 2022 eine ärztlich diagnostizierte Depression – das sind 227.000 Menschen. Die Krankenkasse AOK teilte dies im kürzlich veröffentlichten “Gesundheitsatlas Depressionen” mit.

Für Nichtbetroffene ist Depression häufig ein schwammiger Begriff oder sie verstehen unter der Erkrankung ein starkes Traurigsein. Das Krankheitsbild ist allerdings weitreichender: laut ICD-10, dem Klassifikationskatalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO), leiden Betroffene neben einer gedrückten Stimmung auch an vermindertem Antrieb und Interesse, an geringerer Freude und Konzentration. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach kleinsten Anstrengungen auftreten, auch Schlaf- und Appetitstörungen, Libido- und Gewichtsverlust zählen zu den Symptomen. Depressionen werden zudem in leichte, mittelgradige und schwere Episoden unterteilt.

Alles fällt schwer

Hanne* (33 Jahre), Lehramtsstudentin aus Hamburg, kennt diese Symptome gut. Sie hat bereits mehrere depressive Episoden in ihrem Leben erlitten. Und überstanden. 2017 wurde bei ihr zum ersten Mal eine schwere Depression diagnostiziert. “Eine Depression verläuft in Phasen, in denen ich häufig keine tieferen Empfindungen wie Glück oder Trauer gefühlt habe. Es ist wie ein luftleerer Raum”, sagt sie. “Einen Sinn für das Leben gibt es in dieser Zeit kaum. Alles fällt schwer.”

Frauen sind mehr Stressoren ausgesetzt

Kommen Depressionen laut der Analyse des Gesundheitsatlases bei Jugendlichen zwischen zehn und 14 Jahren noch selten vor, so zeigt sich mit zunehmendem Alter ein deutlicher Anstieg von Depressionen. In allen Altersklassen sind Frauen mit einer Prävalenz, also der Kennzahl für die Häufigkeit einer Krankheit, von 16,4 Prozent häufiger betroffen als Männer, bei denen die Krankheitshäufigkeit bei 10,4 Prozent liegt. Gründe dafür können laut Gesundheitsatlas physiologische Aspekte, zum Beispiel hormonelle Schwankungen, sein. Zudem sei es möglich, dass Frauen im Laufe ihres Lebens mehr Stressfaktoren ausgesetzt sind, die die Entstehung von Depressionen begünstigen.

Menschen mit Depressionen sind häufig nicht in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen. Psychische Erkrankungen lagen 2023 mit 16,1 Prozent auf Platz drei der Gründe für Arbeitsunfähigkeit. Im Vergleich zu anderen Erkrankungen fehlten Betroffene überdurchschnittlich lange am Arbeitsplatz. Laut AOK-Gesundheitsatlas lag der Durchschnitt 2022 in Hamburg bei 44 Tagen. Auch Hanne hatte große Schwierigkeiten, ihrem Alltag nachzugehen, wenn sie sich in einer depressiven Episode befand. Sie sagt, “aufgrund des fehlenden Sinns fällt einem bereits das Aufstehen am Morgen schwer. Gefolgt vom Duschen gehen, einkaufen und Essen zubereiten. Man zwingt sich zum Nötigsten.”

Plötzlich ein schlechter Mensch

Betroffene sind, auch wenn das öffentliche Bewusstsein für psychische Erkrankungen in den letzten Jahren gestiegen ist, noch immer Vorurteilen und Stigmata ausgesetzt. Auch, wenn die Episode bereits überwunden ist. Das belastet Erkrankte zusätzlich. “Als ich aus der tiefen Depression längst heraus war, kam es vor, dass ein normal schlechter Tag sofort auf meine Depression geschoben wurde. Außerdem wurde ich aufgrund meines Verhaltens wegen der Depression stigmatisiert. Wenn Außenstehende nichts von der Erkrankung wissen, wird man schnell abgestempelt: als schlechte Freundin, faul, verantwortungslos sich selbst und anderen gegenüber oder als unzuverlässig,” erinnert sich Hanne.

Das System versagt

Schnelle Hilfe in Form einer Psychotherapie ist im Fall einer Depression wichtig. Leider bleibt Betroffenen diese oft verwehrt. 2022 warteten über 50 Prozent der Suchenden mehr als einen Monat auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch. Dieses ist jedoch kein Garant für eine Therapie. Nach dem Erstgespräch empfehlen Therapeut*innen bei Bedarf eine Behandlung. Oftmals ist die in der eigenen Praxis aufgrund fehlender Kapazitäten nicht möglich und Frust und Verzweiflung nach Erstgesprächen groß. Die Wartelisten sind lang. Im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) warten oftmals bis zu 50 Menschen auf einen stationären Behandlungsplatz, sagt Dr. Gregor Leicht, Oberarzt im UKE. Auch das Telefonaufkommen sei hoch, führt er fort. Hanne fand 2017 zwar nach knapp drei Monaten Suche einen geeigneten Therapieplatz, bekam aber in ihrem Umfeld mit, wie hoch die Wartezeiten sind: “Teilweise warteten Freunde über eineinhalb Jahre auf einen Rückruf oder eine Zusage.”

Was tun, wenn’s brennt?

Wie können Betroffene die Zeit bis zum Therapiebeginn überbrücken? Einen immer funktionierenden Tipp hat Dr. Leicht für Betroffene nicht: “Im akuten Notfall, insbesondere bei Auftreten von Suizidgedanken, sollte in dieser Zeit eine sofortige Vorstellung in der zuständigen Klinik für Psychiatrie erfolgen. Im Fall unserer Klinik ist das Tag und Nacht über die Zentrale Notaufnahme des UKE möglich. In anderen Fällen sollte in der Wartezeit eine regelmäßige Vorstellung bei ambulanten Fachärzt*innen für Psychiatrie, Hausärzt*innen oder ambulanten Psychotherapeut*innen erfolgen.” Für Betroffene ist dies häufig nicht möglich. Jeder Anruf oder Arztbesuch kostet Kraft. “Es empfiehlt sich auch, falls noch nicht bestehend, schnell mit der Suche nach einem Psychotherapie-Platz zu beginnen, weil es bei einer bestehenden Unterversorgung häufig lange Wartezeiten gibt”, sagt Leicht. “Eine weitere Möglichkeit ist die überbrückende Anwendung von DIGAs (Digitalen Gesundheitsanwendungen), die zur Behandlung von Depressionen zugelassen sind.” Häufig werden diese von der Krankenkasse erstattet.

Hanne hatte Glück. Sie fand schnell die Hilfe, die sie brauchte. Viele andere Menschen nicht.

Telefonnummern für schnelle Hilfe:

Telefonseelsorge: 0800 111 0 111

Info Telefon Depression: 0800 334 4533

Hamburgisches Krisentelefon: 040 42811 3000

*Aus Schutz vor Vorurteilen und Stigmatisierung haben wir den Namen der Protagonistin geändert.

Karoline Gebhardt, geboren 1994 in Reinbek, ist Ex-Landesmeisterin im Bogenschießen. Zu dem Hobby kam sie durch den Film „Plötzlich Prinzessin“. Heute schaut sie lieber koreanische Filme mit Untertiteln. Bei Metal-Konzerten crowdsurft sie und landete dabei schon im legendären Club Logo auf der Bühne. Im Bachelor studierte sie Bibliotheks- und Informationsmanagement und recherchierte als Werkstudentin bei der dpa für die Katastrophen-Warn-App Nina. Für „Szene Hamburg“ testete Karo Restaurants und schmiedete für eine Reportage ein Küchenmesser. Karoline ist besessen vom Thema Quiz, ob im Pub oder im TV - sie selbst bezeichnet sich als Günther-Jauch-Ultra. Kürzel: kar

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