Was beschäftigt Menschen unter 30? Wir haben in unserer Community nachgefragt. Geld verdienen, Freizeit gestalten, Haushalt schmeißen – FINK.HAMBURG-Redakteurin Antonia Fiedler fragt sich, wie man alles unter einen Hut bekommt. Stichwort: Work-Life-Balance.
Titelbild: Illustration von Giulia Maesaka, Icon: Illustration von Elizaveta Schefler
Wir stehen jeden Morgen auf und gehen los. Zur Uni, zur Arbeit, zum nächsten Termin. Im Durchschnitt meist acht Stunden, mit Hin- und Rückweg – oft mehr. Mehr heißt bei mir fast 11 Stunden an einem normalen Unitag. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es die Devise „Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit“ schon. Aber ist das echt noch zeitgemäß?
Den Begriff Work-Life-Balance (WLB) gibt es in Deutschland seit den 1990er Jahren. In den USA und Großbritannien schon zehn Jahre länger. Ursprünglich ging es bei der WLB vor allem um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei Frauen. Mittlerweile geht es um viel mehr. Work-Life-Balance heißt, Job und Privatleben so zu kombinieren, dass beides gut zusammenpasst. Es geht darum, Karriere zu machen, ohne Familie, Freunde oder die eigene Gesundheit zu vernachlässigen. Dinge wie flexible Arbeitszeiten und Homeoffice können dabei helfen.
Leben bedeutet mehr als arbeiten, einkaufen, essen und schlafen. Diese Forderung stellt nicht nur die Gen Z, sondern vor allem die Millennials. Zusammen machen sie fast 30 Prozent der deutschen Bevölkerung aus – und einen entscheidenden Teil der Arbeitswelt. Arbeit soll das Leben finanzieren, nicht gestalten, generationenübergreifend – so ihre Devise.
Okay, Realitycheck: Selbst mit gutem Zeitmanagement bleibt der Alltag ein Balanceakt. Ein Arzttermin ist schwer wahrzunehmen, wenn man zu den Praxisöffnungszeiten arbeitet. Supermärkte und Fitnessstudios haben sich der 40-Stunden-Woche angepasst. Man kann fast rund um die Uhr einkaufen oder trainieren. Aber will ich das? Und „das bisschen Haushalt“ hat sich bei mir auch noch nie von allein gemacht: ich war das, ich schrubbe das Bad und hänge die Wäsche auf.
Work Life Balance? Mir fehlt die Zeit für alles – Freizeit, Freunde, Haushalt. Es ist zu viel Arbeit.
Arbeiten, aber anders
Die Diskussion um Arbeitszeiten ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert wurde hart für den Achtstundentag gekämpft. Jetzt, zwei Jahrhunderte später, sind die Fragen nach einem Leben jenseits der Arbeit dieselben. Nur die Ansprüche sind neu.
Das liegt an mehreren Faktoren: Wir leben in einer digitalisierten Welt – besonders durch die Pandemie, haben wir gelernt digital zu arbeiten. Das ist Lösung und Problem: Wir sind immer erreichbar – aber sollten wir das auch sein? Niemand sollte außerhalb der Arbeitszeiten seine Emails checken müssen, finde ich. Doch wenn die Arbeit zu Hause auf dem Tisch liegt oder auf dem Handy mit dabei ist, passiert das eher, als wenn man ins Büro müsste.
Balance ist kein besseres Zeitmanagement, sondern ein besseres Grenzmanagement.
Außerdem hat sich das Bewusstsein für psychische Gesundheit verändert. Ein Burn-Out ist kein Beweis mehr für Durchhaltevermögen, sondern ein Alarmsignal. Psychische Belastung wird nicht mehr totgeschwiegen, nicht mehr abgetan mit einem „Stell dich nicht so an“.
Autorin und Unternehmerin Betsy Jacobson hat mal gesagt: „Balance ist kein besseres Zeitmanagement, sondern ein besseres Grenzmanagement. Balance bedeutet, Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen zu genießen.“
Serie „Aus den 20ern”
FINK.HAMBURG hat Personen unter dreißig befragt, welche Themen sie grade beschäftigen. Diesen Themen wurde jeweils eine Folge der Serie gewidmet – um sie zu diskutieren, Lösungsansätze zu bieten und einen Raum zu kreieren. Sophie (26) hat gesagt: “Work Life Balance? Mir fehlt die Zeit für alles. Für Freizeit, Freunde, Haushalt. Es ist zu viel Arbeit. Früher ging das. Deswegen würde ich gern weniger arbeiten, eine 4-Tage-Woche und weniger als 40 Stunden.”
Die Serie erscheint jeden Donnerstag hier auf FINK.HAMBURG.
Leben > Arbeit
Ich will meine Arbeit an mein Leben anpassen können. Nicht aus Faulheit, sondern weil Menschen unterschiedlich funktionieren. Nicht alle sind für Nine-to-five-Jobs gemacht. Nicht alle arbeiten am besten in einem Büro. Es geht nicht darum, weniger zu leisten, sondern anders zu leben. Wenn ich meinen Job in 30 Stunden schaffe, kann ich danach auch Feierabend machen.
Ich wollte noch nie nicht arbeiten. Trotzdem habe ich genaue Vorstellungen davon, wie mein Arbeitsleben aussehen soll: Freie Zeiteinteilung, weil mir meine Hobbys wichtig sind. Viel Homeoffice, weil ich in einem digitalen Beruf auch digital arbeiten möchte. Und weil ich es verabscheue, mit der Bahn zu fahren.
Deutsche Leitkultur = Arbeit?
Unsere Generation wächst mit anderen Prioritäten auf als die unserer Großeltern. Wir sind mit Großeltern der Nachkriegszeit aufgewachsen. Meine Großeltern, besonders mein Opa, definiert sich bis heute über seinen Job. Der war wichtig. Er hat die Familie finanziert. Meine Generation lebt zwar auch mit Krisen und Kriegen, aber anders. Wir müssen keine Städte wiederaufbauen.
Die Forderung nach Work-Life-Balance ist oft auch eine finanzielle Frage. Die Vier-Tage-Woche klingt verlockend, aber nur mit vollem Lohnausgleich ist sie ein echter Vorteil. Ohne diesen bleibt sie für viele eine Utopie. Pilotprojekt zeigen, dass kürzere Arbeitszeiten nicht nur Arbeitnehmer*innen entlasten, sondern auch Unternehmen zugutekommen – durch höhere Produktivität und zufriedenere Mitarbeiter*innen. Ich finde, dass man Leistung nicht nur in Zeit messen sollte.
Erinnerungen fürs Leben – nicht für die Arbeit
Meine Oma erzählt mir immer wieder, wie froh sie ist, als junge Frau und agile Erwachsene viel erlebt zu haben. Sie ist jetzt weit über 80 Jahre alt und immer zu Hause. Reisen geht schon lange nicht mehr. Aber sie freut sich jedes Mal, wenn sie von einer früheren Reise oder einem Ausflug mit ihren Freundinnen erzählt. Sie spricht selten von ihrer Arbeit – obwohl sie ihre Arbeit mochte.
Ich möchte irgendwann, wenn ich alt und schrumpelig bin, auch schöne Geschichte von damals erzählen. Keine von einem Burn-out mit Mitte 30, weil ich Erwartungen erfüllen wollte. Ich möchte so viel arbeiten, wie es mir guttut. Das wär‘s!
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Egal, was im Kühlschrank steckt: Antonia Luca Fiedler, geboren 1999 in Winsen an der Luhe, verwandelt es in ein köstliches Menü. Kreativ sein liegt ihr, beim Bauer Verlag hat sie Grafikerin gelernt. Außerdem arbeitete sie für Hörfunk und Fernsehen: Sie schmierte vor der Kamera Brote für einen Margarine-Test beim ZDF Berlin, moderierte fürs Hitradio Namibia und sammelte O-Töne für Rock Antenne Hamburg. Für Antonia gilt: Einfach mal machen - auch bei der Jugendarbeit im Schützenverein oder im Eine-Welt-Laden. Studiert hat Antonia Medienwirtschaft und Journalismus in Wilhelmshaven. Kürzel: alf