Ein Schild der staatlichen Gewerbeschule für Tischler und Raumausstatter. Darunter in Kreppband angebracht:
Aktionstag des Azubihilfe Netzwerks. Foto: Azubihilfe Netzwerk.

Überstunden, schlechte Betreuung, ausbildungsfremde Tätigkeiten: Fast 30 Prozent aller Azubis brechen ihre Ausbildung ab. Samantha Dessington kämpft mit dem Azubihilfe Netzwerk für Veränderungen. Ein Interview über Missstände und Lösungen.

Fast ein Drittel aller Ausbildungsverhältnisse in Deutschland wird abgebrochen. Laut dem Azubihilfe Netzwerk zeigen sich die Probleme vor allem im Handwerk: Überstunden, geringe Ausbildungsqualität und eine mangelhafte Kontrolle durch die zuständigen Stellen erschweren den Alltag vieler Azubis. Gleichzeitig werden die Rufe nach Fachkräften immer lauter. Inmitten dieser Schieflage wurde das Azubihilfe Netzwerk 2022 unter anderem in Hamburg gegründet. Es ist ein Zusammenschluss junger Menschen, die etwas verändern wollen.

Was als Safe Space für FLINTA* Personen begann, hat sich zu einer bundesweiten Bewegung entwickelt, die sich für bessere Bedingungen in der Ausbildung stark macht. Mit offenen Briefen, Aktionstagen und Protesten sorgt das Netzwerk für Aufmerksamkeit – und tritt in den Dialog mit Handwerkskammern und Gewerkschaften. Wir haben mit Sam, einer der Gründer*innen des Azubihilfe Netzwerks, gesprochen – über Missstände, mutige Forderungen und die Vision einer Ausbildung, die wirklich Zukunft schafft.

FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen. Der Begriff wird genutzt, um auf verschiedene geschlechtliche Identitäten und die spezifischen Diskriminierungen aufmerksam zu machen, die diese Gruppen erfahren.

Überstunden und ausbildungsfremde Tätigkeiten: Was ist los im Handwerk?

FINK.HAMBURG: Was hat euch dazu bewegt, das Azubihilfe Netzwerk ins Leben zu rufen?

Sam: Während meiner eigenen Ausbildung zur Tischlerin habe ich schnell gemerkt, dass vieles im Ausbildungssystem einfach nicht funktioniert. Immer wieder habe ich Geschichten von anderen Azubis gehört, die in Betrieben schlichtweg als billige Arbeitskräfte missbraucht würden. Es fehle an Ausbildungsqualität, und viele seien mit Aufgaben konfrontiert worden, die nichts mit ihrem Beruf zu tun hätten. Vom schlechten Umgangston und zahlreichen Diskriminierungserfahrungen in Betrieben ganz zu schweigen. Solche Erfahrungen haben uns dazu gebracht, das Netzwerk zu gründen – um Azubis eine Plattform zu geben und Veränderungen anzustoßen.

FINK.HAMBURG: Ihr habt also aus persönlichen Erfahrungen heraus gehandelt und das Netzwerk ins Leben gerufen. Aber wie genau funktioniert das Azubihilfe Netzwerk, und was macht es so besonders?

Sam: Das Azubihilfe Netzwerk wurde in Hamburg gegründet, ursprünglich als Safe Space für FLINTA* Personen. Wir wollten einen Raum schaffen, in dem Auszubildende, die sich oft unsicher oder allein fühlen, Unterstützung finden können. Es ging uns darum, einen Ort zu bieten, an dem diese Auszubildenden sicher sind und ihre Probleme offen ansprechen können. Zuerst war das Netzwerk auf FLINTA* ausgerichtet, aber mittlerweile haben wir es für alle Auszubildenden geöffnet, die Unterstützung suchen. Das Besondere an unserem Netzwerk ist, dass es sich dabei nicht um traditionelle Gewerkschaftsarbeit handelt, sondern um eine sehr niederschwellige Form der direkten Hilfe, die sich an den Bedürfnissen der Auszubildenden orientiert. Es gibt keine Mitgliedspflicht, und jeder kann uns ansprechen, egal, ob bereits Teil des Netzwerks oder nicht.

„Das Handwerk kann nur für sich begeistern, wenn es stärkt und vielfältig ist.“

FINK.HAMBURG: Welche Probleme sind es genau, die euch geschildert werden? Laut eurem offenen Brief  scheinen die Missstände im Handwerk ja besonders gravierend zu sein.

Sam: Ein großes Problem ist aus unserer Sicht die fehlende Kontrolle der Ausbildungsbetriebe. Die Handwerkskammern tun zu wenig, um sicherzustellen, dass die Betriebe die Ausbildungsstandards einhalten. Azubis sind häufig auf sich allein gestellt und berichten uns, dass ihre Ausbilder*innen weder die Zeit noch das Wissen hätten um sie richtig zu begleiten. Sie übernehmen Verantwortung, die sie überlastet oder müssen ausbildungsfremde Tätigkeiten übernehmen. Sie fühlen sich schlichtweg überfordert. Ich habe von Fällen gehört, in denen Azubis über Wochen hinweg einfach nur putzen oder kaffeekochen mussten. Das darf nicht passieren.

Offener Brief und Proteste

FINK.HAMBURG: Ihr bleibt nicht bei der Kritik, ihr werdet auch aktiv – mit einem offenen Brief und einem Aktionstag im September 2024. Wie wurden diese Aktionen aufgenommen?

Sam: Der offene Brief war ein großer Erfolg. Wir haben darin die Missstände in handwerklichen Ausbildungsberufen detailliert aufgezeigt und Forderungen formuliert. Parallel dazu haben wir am Tag des Handwerks deutschlandweit Aktionen organisiert. Dank der Unterstützung vieler Menschen konnten wir über 25.000 Unterschriften für unsere Petition sammeln. Diese Resonanz zeigt uns, wie dringend der Handlungsbedarf ist.

Aktivist*innen stehen in einem Kreis und halten Flyer in die Kamera.
Der erste bundesweite Aktionstag des Azubihilfe Netzwerks. Foto: Azubihilfe Netzwerk

FINK.HAMBURG: Ihr scheint einen Nerv getroffen zu haben. Welche Projekte und Ziele stehen als Nächstes auf dem Fahrplan?

Sam: Ein großes Projekt ist eine Plattform zur Bewertung von Ausbildungsbetrieben, die es Praktikant*innen und Auszubildenden erleichtern soll, gute Betriebe zu finden. Außerdem arbeiten wir an regionalen Vernetzungsstrukturen, damit sich Auszubildende lokal besser organisieren können. Unsere Website und Social-Media-Kanäle bauen wir weiter aus, um noch mehr Menschen zu erreichen. Am wichtigsten ist jedoch, dass wir den Dialog mit Institutionen aufrechterhalten und gleichzeitig weiterhin auf Missstände aufmerksam machen.

FINK.HAMBURG: Wie können Menschen, die eure Vision teilen, euch konkret unterstützen?

Sam: Wir freuen uns über jede Art von Unterstützung – ob in der Orga-Gruppe, bei Aktionen oder einfach durch das Teilen unserer Inhalte. Zusammen können wir wirklich etwas verändern. Wer Lust hat, sich einzubringen, kann uns jederzeit über unsere Website oder Social Media kontaktieren.

Als Kind träumte Luca Schafiyha, Jahrgang 1994, davon, Schriftsteller zu werden. Ein ganzer Roman war dem Rheinländer dann aber doch zu viel. Journalist lautete der neue Berufswunsch. Seitdem ist viel passiert: Neben seinem Germanistik- und Politikstudium in Düsseldorf veröffentlichte Luca regelmäßig eine Kolumne in der „Rheinischen Post“. Luca arbeitete beim WDR, für die Redaktionen des „Handelsblatt“, der „Wirtschaftswoche“, „ran.de“ sowie des „Rolling Stone“. Er selbst spielt gerne Bass-Gitarre. In Bologna absolvierte er ein Erasmus-Semester – den täglichen Aperitivo auf der Piazza Maggiore vermisst er bis heute. Kürzel: sha

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