Am Hauptbahnhof spielt sich seit Jahren eine soziale Krise ab: Eine offene Drogenszene prägt das Bild – besonders Frauen sind dabei extrem verletzlich. Sie geraten oft in einen Kreislauf aus Suchtdruck, Gewalt, Obdachlosigkeit und Beschaffungsprostitution.
Titelbild: Illustration von Paula Härtel

Annett* kommt jeden Tag zum Drob Inn, einer Drogenberatungsstelle unweit des Hauptbahnhofs. Die 46-jährige trägt ihre schwarzen Haare lang und offen, ihre Nägel leuchten knallpink. Die Haut an ihren Nägeln ist runtergekaut. Manchmal spielt sie mit dem silbernen Ring an ihrem Finger. Das weiße Top in Kombination mit ihrer weißen Hose lassen sie wie eine Mitarbeiterin einer Zahnarztpraxis aussehen.
Nur wenige Schritte vom Drob Inn entfernt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ist das Museum für Kunst und Gewerbe. Der Titel der aktuellen Ausstellung? Glitzer. Auf dem Rasen neben dem Museum markiert ein Boxerhund sein Revier. Auf der Grünfläche liegen leeren Verpackungen, Zigarettenstummeln und eine verschmutzte, orangefarbenen Decke rum. Seit der Renovierung des Vorplatzes des Drob Inns im Oktober 2024 verhindert ein Sichtschutz mit buntem Graffiti den Blick auf das Drop Inn und die Menschen davor. Der Sichtschutz zäunt sie aber auch ein. Knallpinke Metallsonnenschirme verleihen dem grauen, sandigen Platz einen leichten Beach-Club-Flair. Wären da nicht der Gestank von Fäkalien, der hin und wieder in die Nase stößt. Je nach Windrichtung nimmt man den Geruch sogar noch auf dem ZOB wenige Meter weiter wahr.
Zwischen Liebe, Abhängigkeit und Überleben
Annett erzählt von ihrer Kindheit, die von diversen Schicksalsschlägen gekennzeichnet war: „Mein Vater hatte einen Schlaganfall und meine Mutter Krebs und kranke Nieren. Wir waren eine arme Familie, ich hatte nie etwas. Essen habe ich aus Mülleimern geholt. Mit 17 Jahren bin ich dann schwanger geworden und habe daher die Schule nicht beendet. Mein damaliger Partner hat mich geschlagen und mir verboten das Haus zu verlassen oder Freundinnen zu treffen. Dann hat er mich nach Deutschland gebracht und in die Prostitution gezwungen, damit er Geld für Heroin hat.“
Immer wieder hört man laute Rufe auf dem Platz. Annett zieht an ihrer Crack-Pfeife. Für viele Personen ist der Platz vor dem Drob Inn das einzige „Zuhause”, das sie noch aufsuchen können. Die Kontakt-und Beratungsstelle mit integrierten Drogenkonsumräumen bietet eine grundlegende medizinische Versorgung aber auch Mittel zur Infektionsprophylaxe wie beispielsweise hygienische Konsummaterialien und Kondome an.
„Ich möchte gerne einen Job haben und neu anfangen. Ich bin 46 Jahre alt und habe nichts. Am Meer war ich noch nie. Das ist mein Traum: Das Meer zu sehen. Und wie eine normale Frau zu leben, ohne mich prostituieren zu müssen, für so wenig Geld. Es geht immer nur um Sex, Sex, Sex.”

Neben Annett sitzt Gregor*, ihr jetziger Partner. Seit einem Jahr sind die beiden zusammen. Er war mal ein Kunde von ihr, erzählt sie. Gregor hat seinen Fernseher verkauft, damit Annett vom Heroin loskommt. Mittlerweile wohnt sie auch bei Gregor, für die Miete von 700 Euro reicht es trotz seines Krankengelds manchmal nicht. Dann geht Annett wieder mit fremden Männern auf ein Hotelzimmer.
Augenblicke zwischen zwei Welten
Am Steindamm wartet sie manchmal stundenlang auf Kunden. Ihr Partner steht dann auf der anderen Straßenseite. In der Menschenmasse geht Annett unter, Passant*innen gehen ihren Einkäufen nach und wenn man nicht weiß, dass sich hier täglich Frauen prostituieren, würde man es vielleicht auch nicht merken. Ein junger Mann bleibt stehen, Annette stellt sich schräg zu ihm, die beiden unterhalten sich. Ein paar Minuten später ist sie nicht mehr zu sehen.
Zurück im Drob Inn, stolziert Katharina über den Platz in einer Schlaghose mit Leoprint – ein Sieben Euro-Schnäppchen von Kik. Ihren schwarzen Pullover mit der Aufschrift „LosAngeles” hat sie selbst gekürzt. Dann kämmt sie sich die Haare und wirft Haarbüschel aus der Bürste in den roten Mülleimer. Währenddessen durchsuchen Polizist*innen mehrere Personen nach Drogen und nehmen einige mit aufs Revier.

Mehrere Male habe sie kurz vor dem Tod gestanden, erzählt Katharina. Das letzte Mal sei erst zwei bis drei Monate hergewesen. „Siehst du diese Narbe? Die haben versucht mich zu vergewaltigen, aber sie haben es nicht geschafft. Meine Nase war komplett zerquetscht, gebrochen. Die Polizei hat mich dann bewusstlos gefunden. Einige Freunde haben mich garnicht mehr wieder erkannt.”
Ein Ort zum Entspannen
Unterstützung finden Katharina und Annett unter anderem bei Hilfseinrichtungen wie dem Ragazza. In der Nähe des Steindamms bietet der Verein Frauen die Drogen konsumieren und/oder der Sexarbeit nachgehen, spezielle Angebote wie eine Akutversorgung von Wunden und Verletzungen. Die Öffnungszeiten des Ragazza richten sich nach den Arbeitszeiten der Besucherinnen und werden bei Bedarf entsprechend angepasst. In die Unterkunft kann man nicht einfach reinspazieren. Um die Frauen so gut wie möglich zu schützen, werden keine betriebsfremden Menschen in die Einrichtung gelassen. Der Eingang ist videoüberwacht.
Auch Katharina besucht das Ragazza seit 20 Jahren. “Mein Name steht im Geburtstagskalender, ich bin ein Dinosaurier da. ”Die Unterkunft soll ein Ort zum Ausruhen für die Frauen sein, ein Ort zum Entspannen, frei von cis-männlichen Einflüssen, sagt Geschäftsführerin Gudrun Greb. Es fehle in Hamburg vor allem an Schlafunterkünften, die konsumtolerant und nicht an Öffnungszeiten gebunden sind. Der Sozialexperte des Diakonischen Werk der Nordkirche sagt, es gebe mit rund 1.200 Plätzen in Hamburg „nicht einmal für jeden dritten Obdachlosen einen Übernachtungsplatz“.
Hoffnung steckt Gudrun Greb in das angebotsergänzende Projekt des städtischen Unternehmens Fördern & Wohnen. Nicht weit entfernt, in der Repsoldstraße 27, sollen laut einer Mitteilung des Senats “verschiedene Schutz-und Beratungsangebote” entstehen, unter anderem Übernachtungsmöglichkeiten und ein separater Bereich für schutzbedürftige Frauen. Die Inbetriebnahme von ersten Übergangsplätzen soll voraussichtlich im zweiten Quartal 2025 möglich sein.
Greb erzählt, dass sie tollen Frauen begegne, die vielleicht einmal in ihrem Leben irgendwo falsch abgebogen seien. Sie mal zum Lächeln zu bringen, dazu Pläne zu entwickeln, dass motiviere sie bei ihrer Arbeit im Ragazza.
„Ich bin ein Dinosaurier hier“

Lockiges Haar umrahmt das Gesicht, eine eckige Brille auf der Nase, das knallorange Shirt leuchtet wie ein Farbtupfer im grauen Büroalltag: Lisa Duvinage sitzt an ihrem Schreibtisch, der ist übersät mit Unterlagen, Aktenordnern und Notizen.
Die Einrichtungsleiterin des Drob Inns kennt Geschichten wie Katharinas nur zu gut. Bevor sie die Leitung der Einrichtung vor drei Jahren übernahm, arbeitete Duvinage selbst fünf Jahre als Sozialarbeiterin im Drob Inn. Aktuell leitet sie das Personal an, beantwortet Presseanfragen und stellt die Einrichtung bei Polizei und Feuerwehr vor.
Von der Arbeit des Drob Inns ist sie überzeugt; eine derartige Beratungsstelle sei notwendig, um abhängigkeitserkrankte Menschen zu unterstützen. Das Team hat auch die Problematiken, denen vor allem Frauen ausgesetzt sind, im Blick: “Alle erlebten Formen von Gewalt kann von den Frauen in den Beratungsgesprächen bei uns thematisiert werden. Die Mitarbeitenden bieten dann unterschiedliche Formen der Unterstützung an, wie z.B. die Begleitung zur Beweissicherung oder zur Polizei, der Beschaffung einer betreuten Wohnmöglichkeit, oder weitere Gesprächsangebote.”

Ein Kreislauf ohne Ausweg?
Die S-Bahn rattert vorbei, Möwen kreischen und Tauben picken Essenreste. Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen füllt die Luft. Der Vorplatz des Drob Inns wirkt fast wie ein Marktplatz – nur dass statt Obst und Gemüse, Crack und Heroin verkauft wird.
Ein Mann fährt auf Rollerskates über den Platz. Eine leere Cola-Dose steckt in seiner hinteren Hosentasche und in der Hand hält er eine Dose mit Butangas. Zeitgleich schneidet ein weiterer Mann einem anderen die Haare unter einem Baum.
Annett und Katharina sind wieder unterwegs, entweder um Geld zu verdienen, Drogen zu kaufen oder Drogen zu konsumieren. Es ist ein Kreislauf, der sich unerbittlich wiederholt. Ein Kreislauf, der sich an ihnen festkrallt und nur manchmal ein paar glitzernde Momente zulässt.
*Die Namen einzelner Protagonist*innen wurden von der Redaktion geändert.
Für das perfekte Foto ist Michelle Maicher, Jahrgang 1997, kein Weg zu weit. Gerade erst saß sie mal wieder zehn Stunden im Zug nach Ostpolen. Dort dokumentiert sie für die Meisterklasse an der Berliner Ostkreuzschule für Fotografie die Aufrüstung und besuchte eine Nato-Verteidigungsbasis. Fotografieren lernte die Hamburgerin im Studium Kommunikationsdesign. Danach verschlug es sie zeitweise nach Berlin und Kopenhagen. Einen Job in der Modebranche und einen Dänischkurs später startete Michelle als selbständige Dokumentarfotografin. Parallel arbeitet die zweifache Katzenmama als Multimedia-Assistentin bei der Tagesschau. Zum Studio braucht der Zug auch nur fünf Minuten.
Kürzel: mic