Die Initiative „Hamburg Werbefrei“ will weniger Werbung im öffentlichen Raum. Die Werbebranche hält dagegen. Nun ist das Volksbegehren gescheitert. Ein Blick zurück – und wie es nun weitergeht.
Eine Litfaßsäule dreht sich verloren vor dem S-Bahnhof Sternschanze. Ihre beleuchteten Scheiben sind zerkratzt und dreckig. Alles an dieser Plakatwand wirkt, als wüsste sie, dass nur wenige Meter entfernt ihre Existenz verhandelt wird. Mehrere schief geklebte Sticker drehen sich mit der Säule im Kreis. Darauf zu sehen ist das Logo der Initiative „Hamburg Werbefrei“.
Vor der Säule steht ein Mann mit zerzausten braunen Haaren. Über seinem Karohemd trägt er eine leuchtend weiße Warnweste. Martin Weise ist ins Gespräch mit einem Passanten vertieft. In diesem Moment sammelt er eine von etwa 66.000 benötigten Unterschriften.
Der lange Weg zum Volksentscheid
Einige Wochen nach dem Gespräch vor der Litfaßsäule steht fest: Die Initiative hat ihr Ziel verfehlt. Für den Volksentscheid hätten die Aktivist*innen Unterschriften von fünf Prozent der Wahlberechtigten vorlegen müssen. Am Ende erreichen sie nur knapp 50.000 Stimmen.
Ein Werberegulierungsgesetz sollte die Bauordnung ändern. Das klingt bürokratisch, hätte das Stadtbild aber sichtlich verändert. Vor allem digitale und bewegte Werbemonitore wären dann nicht mehr erlaubt gewesen, die Hälfte aller Werbefläche hätte für Kultur, Politik und Sport reserviert sein müssen. Die Argumente der Befürworter gingen von Lichtverschmutzung über Verkehrssicherheit bis hin zu Meinungsmacht. Die Werbeindustrie hingegen betonte, wie relevant Außenwerbung für Wirtschaft, Kultur und Kommunikation in einer Stadt wie Hamburg sei.
Mit mehr Ressourcen hätte man besser abgeschnitten, sagt Martin Weise. Die Initiative prüfe rechtliche Schritte. „Der Traum eines werbefreien Hamburgs ist noch lange nicht ausgeträumt.“

Einige laufen kopfschüttelnd weiter, andere unterschreiben
Er und seine Begleiterin Antonia Petschat haben viele Gespräche geführt, wie jenes vor der heruntergekommenen Litfaßsäule. Sie versuchen auch zu verdeutlichen, dass der Name „Hamburg Werbefrei“ zugespitzt sei. Selbst bei einem Erfolg gebe es Ausnahmen: so etwa bei klassischer Plakatwerbung, Sportevents oder Haltestellen.
Darüber wird an diesem sonnigen Frühlingstag Ende April viel gesprochen. Es ist Marathon und die Luft pulsiert vor Leben. Keine guten Bedingungen zum Sammeln – zu unruhig, zu touristisch. Beide huschen über die Rennstrecke und verschwinden im „Planten und Blomen”.
Petschat ist auffälliger als Weise. Rasierter Kopf, knallroter Lippenstift, lila Collegejacke. Dazu ein breites Lächeln: „Hallo, ich sammle Unterschriften für das Volksbegehren ‚Hamburg Werbefrei‘.“ Einige laufen kopfschüttelnd weiter, andere unterschreiben. Eine ältere Dame mit Hund dreht sich um. Sie will unbedingt unterschreiben. Einmal habe sie sogar blinkende Werbung mit einem Polizeieinsatz verwechselt. Ihre Begleiterin ist dem Volksbegehren gegenüber skeptisch, unterschreibt aber trotzdem. „Man kann nicht immer alles mit Geld begründen“, sagt sie.
„Der Traum eines werbefreien Hamburgs ist noch lange nicht ausgeträumt”
Martin Weise meint: „Man darf nicht den Fehler machen, nur Menschen anzusprechen, bei denen man denkt, dass sie sowieso unterschreiben. Oft wird man überrascht.“ Der nächste Angesprochene unterschreibt trotzdem nicht. Seine Firma sei auf Werbung angewiesen.
Der Streit um den Stadtraum
Doch warum erhitzt die Initiative so die Gemüter? „Ein Hauptgrund für die Polarisierung ist, dass man sich Außenwerbung nicht entziehen kann“, sagt Professor Michael Paul, der Value Based Marketing an der Universität Augsburg lehrt. „Werbung in anderen Medien kann man wegblocken, wegzappen, ausschalten.“
Der Konflikt entsteht laut Paul wegen unterschiedlicher Auslegungen des Begriffs „öffentlicher Raum“. „Hier lässt sich streiten: Wem gehört der öffentliche Raum? Wer darf ihn in welcher Form bespielen?“ Die Forderung nach demokratisch festgelegten Regeln für Werbung hält er für nachvollziehbar, ein Verbot digitaler Flächen sei allerdings extrem. „Für die digitale Werbewirtschaft wäre das keine gute Nachricht.“

Die Werbebranche hält dagegen
Dr. Kai-Marcus Thäsler vom Fachverband Außenwerbung e.V. vertritt diejenigen, die ihr Geld mit dem, so der Fachbegriff, Out-Of-Home-Marketing verdienen. Für ihn sind die Monitore weit mehr als Werbeanlagen. Außenwerbung habe sich zu einem eigenständigen Medium entwickelt, das Menschen mit Content versorge. „Das Digitale greift das auf, was Ernst Litfaß schon vor 170 Jahren gemacht hat.“ Historisch bringe genehmigte Außenwerbung Ordnung in die öffentliche Kommunikation, findet er. Durch die Digitalisierung könne man nun in Echtzeit kommunizieren. „Immer dann, wenn man Kommunikation, Meinungs- oder Werbefreiheit einschränken möchte, finde ich das grundsätzlich schlimm.“
Martin Weise sieht dies anders: „Wir werden zu Konsument*innen, zu Targets der Werbeindustrie in unserer Stadt.“ Digitale Werbung mache die Stadt kalt und beliebig. „Wenn ich nicht gezwungen bin, dauernd Werbung zu sehen, habe ich mehr den Blick für meine Mitmenschen, für die Stadt, für die Architektur, für Hamburg.“
Manche nehmen’s gelassen
In Hamburg zeigte sich der Kampf der Werbemethoden unmittelbar im Stadtbild. „Hamburg Werbefrei“ hatte nach eigenen Angaben Plakate an etwa 2500 Orten angebracht. Oldschool, überwiegend schwarz-weiß. Zeitgleich schaltete der Fachverband auf dutzenden Monitoren eine Kampagne mit dem Titel „Außenwerbung macht’s möglich”. Bewegt, bunt, auffällig. Thäsler betont jedoch, man feiere bundesweit das Jubiläum der Litfaßsäule. Der Zeitraum sei Zufall. Das Scheitern der Initiative will Thäsler später auf Nachfrage nicht mehr kommentieren. Die Werbekampagne läuft weiter auf Hamburgs Monitoren.
Zurück im Schanzenpark am Nachmittag des Marathons. Weise läuft zögernd und mit symbolisch weißer Weste über die Wiese. Auf einer Picknickdecke liegen drei junge Frauen und sonnen sich. Eine massiert den Rücken ihrer Freundin. Ob sie unterschreiben möchten? „Das kann ich nicht, ich arbeite beruflich mit den Dingern“, sagt die Massierte. Ihre Freundinnen nehmen das Klemmbrett und unterschreiben. „Jetzt machen wir dich pleite!“ Ausgelassenes Gelächter, dann wird weiter massiert.
So entspannt kann er also auch sein, der Konflikt um Hamburgs Stadtbild.
Benjamin Possin, Jahrgang 2002, erzählt gern Geschichten, das hat ihn zu seinem Lieblingshobby gebracht: Pen & Paper. Mittlerweile hat er um die 300 Würfel angesammelt. Wenn er nicht am Spieltisch sitzt, diskutiert er gerne im Netz oder verliert sich im Digitalisieren von alten Dias. Seine Liebe zu Wikipedia hat den Spiesheimer dazu geführt, dass er bereits einen Artikel vertont hat. An der HAW studierte Benni Medien und Kommunikation und arbeitet aktuell in einem Forschungsprojekt zu Datenvisualisierungen. Bei STRG_F moderierte er während eines Praktikums einen Film zum Thema “Jugendgewalt auf TikTok”. Beruflich sind die Würfel noch nicht gefallen: Datenjournalismus ist aber eine Option. Kürzel: bip