Seit Jahren hört man in Hamburg vom Kinosterben. Gerade die Auswirkungen der Pandemie und Streamingdienste sollen dem Geschäft der Kinos Schwierigkeiten bereiten. Doch ist das wirklich so? Oder ist das Kinosterben doch ein Märchen?
Thalia-Theater, Schauspielhaus, Ernst-Deutsch-Theater: Das sind nur einige der vielen Theater, die Hamburger*innen besuchen können. In der ganzen Stadt sind große und kleine Bühnen verteilt. Wie „die Zeit” im Mai im täglichen Newsletter „Elbvertiefung” berichtete, gebe es in Hamburg sogar mehr Theater als Kinos. Dies passt zum Bild vieler, dass das Land von einem Kinosterben betroffen ist. Aber stimmt das wirklich, vor allem in Hamburg? Haben die Pandemie und Streamingdienste den Kinos das Genick gebrochen?
Der auf den ersten Blick wichtigste Indikator dafür, ob es in Hamburg wirklich ein Kinosterben gibt, ist die Anzahl der Leinwände und Spielstätten. Bei näherer Betrachtung fällt auf: In Hamburg sind seit 2012 stetig neue Spielstätten entstanden. 2024 gab es in Hamburg 35 Kinos – so viele wie noch nie. Die Anzahl der Leinwände ist seit 2012 stabil geblieben. Während der Corona-Pandemie sind zwar zwei Leinwände verschwunden, die Anzahl der Spielstätten blieb allerdings unverändert. Das ist vor allem erstaunlich, wenn man den Einbruch der Besucherzahlen während der Pandemie betrachtet. Im Jahr 2019 stiegen die Besucherzahlen im Vergleich zum Vorjahr um 14,4 Prozent auf über 3,9 Millionen stiegen. Allerdings brachen sie im ersten Jahr der Pandemie um fast 97 Prozent auf lediglich 29.100 ein.
Zu Zeiten der Covid-19-Pandemie waren die Kinos monatelang geschlossen, und auch nach Wiedereröffnung durften Besucher*innen nur unter strengen Auflagen Filme auf der Leinwand ansehen. Lange Zeit durften nicht alle Plätze belegt werden und während des gesamten Besuches mussten Masken getragen werden. Für Kinobesitzer*innen war das die größte Krise seit langem. Die Besucherzahlen haben bis heute nicht das Vorpandemieniveau erreicht. Die Auslastung der Säle ist allerdings seit 2021 konstant gestiegen. Anhand der Daten für die Anzahl von Kinos, Leinwänden und Besucher*innen ist kein Kinosterben zu erkennen.
Kinos bei Kindern und Jugendlichen am beliebtesten
Das Kino ist immer noch ein beliebtes Kulturmedium. Im vergangen Jahr wurden in Deutschland über 90 Millionen Tickets verkauft. Entsprechend der Daten der Deutschen Filmförderungsanstalt entspricht Sandra einer durchschnittlichen Kinobesucherin in Deutschland. Mit ihren 39 Jahren liegt sie genau im Mittel der Kinobesucher*innen. Jedes Jahr besucht sie das Kino drei bis vier Mal. Sandra lebt mit ihrem Sohn Jonas und ihrem Ehemann am Hamburger Stadtrand, dem sogenannten Speckgürtel. Jonas ist zwölf Jahre alt und stellt damit die zweite Durchschnittsbesuchergruppe dar. Seine Altersgruppe – und damit auch er – geht im Jahr vier bis fünf Mal ins Kino und ist damit Spitzenreiter in der Gesamtbevölkerung. Keine Altersgruppe geht so gerne ins Kino wie Kinder und jungen Leute.
Actionfilme und Komödien sind Jonas liebstes Genre. Auch seine Mutter Sandra mag Actionfilme. Sie kann sich hin und wieder aber auch für ein Drama begeistern, vor allem, wenn sie nach 20 Uhr ins Kino geht, für ihre Altersgruppe die beliebteste Uhrzeit. Ansonsten besucht sie das Kino auch häufig vor 17 Uhr, dann gemeinsam mit ihrem Sohn. Die meisten Menschen in Deutschland gehen am liebsten zu zweit ins Kino.
Umsatzentwicklung insgesamt stabil
Sandra und Jonas gehen also gerne ins Kino, wenn auch nicht sehr häufig. Das könnte daran liegen, dass in Deutschland immer weniger Geld für Kulturveranstaltungen ausgegeben wird. Laut dem Bundesamt für Statistik gaben die deutschen Haushalte im Jahr 2019 284 Euro pro Monat für Freizeit, Sport und Kultur aus. Im Jahr 2022 waren es nur noch 245 Euro. So ist der Anteil der gesamten privaten Konsumausgaben von elf auf 8,6 Prozent gesunken. Diese Entwicklung steht jedoch konträr zu den Entwicklungen von Ticketpreisen und Umsätzen der Hamburger Kinos.
Der Gesamtumsatz der Hamburger Kinos hält sich seit über 20 Jahren überwiegend stabil, abgesehen von der Zeit der Pandemie. In den Jahren 2016 und 2019 lag der Umsatz jeweils bei ca. 40 Millionen, der höchste Wert seit der Einführung des Euros. Zwischen 2020 und 2021 erreichte der Umsatz nicht einmal 13 Millionen Euro. Beachtlich ist, wie schnell der Gesamtumsatz nach der Pandemie wieder anstieg. Innerhalb eines Jahres ist ein Wachstum von fast zehn Millionen Euro zu erkennen – 2022 stieg der Umsatz auf mehr als 24 Millionen Euro, 2023 auf fast 34 Millionen Euro. 2024 ist wieder eine leichter Rückgang des Umsatzes zu erkennen, insgesamt waren Schwankungen dieser Art jedoch auch vor der Pandemie erkennbar.
Der aktuelle Umsatzwert aus dem Jahr von 2024 liegt bei knapp 31 Millionen Euro. Seit 2003 schwanken die Umsätze der Hamburger Kinos im Verlauf der Jahre. Nach der Pandemie waren die Umsätze nie wieder so hoch wie in 2019. Im Vergleich zu bisherigen Schwankungen, wie bei der Finanzkrise 2011, erholten sich die Umsätze nach der Pandemie schneller. Dies spricht dafür, dass Kinos die Krise der Pandemie ohne größere Schäden überstanden haben
Warum die Umsätze der Kinos nicht eingebrochen sind, obwohl weniger Tickets verkauft wurden, lässt sich anhand der Daten nicht erklären. Möglicherweise stiegen die Umsätze der Kinos über den Verkauf von Produkten wie Snacks und Getränken.
Kinobesuche werden inflationsbedingt teurer
Auch die steigenden Preise der Tickets könnten eine Ursache für die geringen Umsatzeinbrüche sein. Diese steigen langsam und stetig über die Jahre. 2003 konnten Hamburger*innen für durchschnittlich 6,22 Euro das Kino besuchen. Im letzten Jahr waren es durchschnittlich zehn Euro, somit ist der Preis im Zeitraum von 22 Jahren um 3,78 Euro gestiegen.
Schaut man sich über den gleichen Zeitraum die Inflation an, fällt allerdings auf, dass laut Erhebungen von Statista die Rate im Durchschnitt 2,04 Prozent beträgt. Der Preisanstieg bei Kinotickets liegt damit insgesamt in einem ähnlichen Rahmen wie die allgemeine Preissteigerung. Der Kinobesuch ist zwar teurer geworden, allerdings im Rahmen der Inflationsrate.
Deutsche Großstädte im Vergleich
Sandra und Jonas hören oft von Freunden, dass ein Kinobesuch doch so teuer gewesen sei. Die beiden haben andere Erfahrungen gemacht. Gerade in den letzten zwei Jahren haben sie nicht über zehn Euro für jeweils ein Ticket bezahlt. Auch merken sie, dass die Kinosäle oft gut gefüllt sind. Besonders Jonas trifft seine Freund*innen meist in gefüllten Kinosälen.
Ein Blick auf die fünf größten deutschen Städte Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt a.M., zeigt: Der Ticketverkauf pro Leinwand ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Nach den Lockerungen der Maßnahmen zu der Corona-Pandemie 2021 sind bei den verkauften Tickets starke Zuwächse in allen Großstädten zu sehen.
Hamburgs Säle nach Corona ausgelastet
Jonas erinnert sich noch an die Zeit, als er während der Pandemie im Kino war. Er musste sich vor dem Kinobesuch auf Corona testen und dann im Kino zwischen sich und seinem Freund einen Sitzplatz leer lassen. Nach diesem Erlebnis blieb Jonas erstmal zuhause. Das gemeinsame Erlebnis beim Kinobesuch steht für ihn an erster Stelle. So zieht es Jonas erst wieder in die Kinos, seitdem er sich mit seinen Freund*innen wieder entspannt eine Tüte Popcorn teilen kann.
Gerade in Hamburg hat sich die Kinolandschaft von den Einbrüchen während der Corona-Pandemie erholt. Das Publikum kehrt zurück und die Säle füllen sich wieder. Hamburg ist damit zum bundesweiten Spitzenreiter geworden, wenn es um die Auslastung pro Leinwand geht. Ein Kinosterben? Hier nicht zu sehen.
Auch ein Blick auf die Zahl der verkauften Tickets pro Einwohner*in bestätigt den Aufwärtstrend nach der Pandemie: Ab 2022 erholte sich der Ticketverkauf pro Einwohner*in in allen Großstädten spürbar. Besonders in Berlin zeigt sich das deutlich: Dort hat sich die Zahl der Kinotickets pro Kopf seit 2020 mehr als verdoppelt. Auch Hamburg holte stark auf: Von weniger als einem Ticket pro Kopf, stieg der Wert bis 2024 auf 1,66, also im Durchschnitt 1,5 Kinobesuche im Jahr.
Auffällig ist dabei die Anzahl der Spielstätten in den Großstädten. Berlin hat mit 96 Kinos im Jahr 2024 mit Abstand die meisten Kinos. In Hamburg hingegen gibt es 33 Kinos, also rund ein Drittel weniger Spielstätten. Diese werden hinsichtlich der Tickets pro Einwohner*in offenbar intensiver genutzt. Ähnlich ist es in Frankfurt a.M., wo trotz weniger Kinos die Ticketzahlen zuletzt anstiegen. München und Köln liegen sowohl bei der Anzahl der Spielstätten als auch bei der Ticketnutzung im Mittelfeld. Das zeigt: Egal wie viele Kinos eine Stadt hat, entscheidend ist, wie gut sie ausgelastet sind.
Neue Konkurrenz für das Kino
Seit rund zehn Jahren haben Kinos neue Konkurrenz bekommen: Streaming-Dienste werden beliebter, seit 2015 hat sich der Marktanteil in Deutschland mehr als verzehntfacht, physische Medienträger und digitale Videotheken wurden quasi verdrängt.
Diese Erfahrung zeigt sich auch, wenn man sich in der jungen Zielgruppe umhört. FINK.HAMBURG hat Studierende am Campus Finkenau der HAW Hamburg gefragt, wann sie zuletzt im Kino waren und was sich ändern müsste, damit sie sich öfter Filme auf der großen Leinwand ansehen. „Ich glaube, der Reiz ist gar nicht mehr so groß, weil die Verfügbarkeit von viellen Kinofilmen mittlerweile Zuhause schnell gegeben ist”, sagt einer der Studierenden auf dem Campus. Auf der eigenen Couch Filme ansehen, gerade noch im Kino liefen, über Streamingdienste, die man ohnehin abboniert hat, ist einfach bequem.
Außerdem zeigt sich, dass große Blockbuster bei jungen Menschen nicht mehr beliebt sind, und auch aufgrund von niedrigeren Preisen alternative Kinos beliebter werden.
Hamburgs Kinolandschaft
Das Kinoangebot in der Hansestadt ist vielfältig – davon profitiert auch Sandras Familie. Es gibt 33 Kinos in Hamburg. Dabei sticht hervor, dass mehr als zwei Drittel der Spielstätten alternative Kinos sind. Während viele Freund*innen von Jonas begeistert auf die Neueröffnung einer Kinokette in Hamburg warteten, ist Jonas von diesen eher weniger begeistert. Er und seine Mutter besuchen lieber alternative Kinos.
Alternative Kinos sind Lichtspielhäuser, die nicht zu großen Kinoketten gehören. Sie zeigen vor allem Arthouse-Filme, Dokumentationen und thematisch kuratierte Programme, die sich vom Mainstream abheben.
Die Grafik stellt die 18 alternativen Kinos in Hamburg dar. Dabei wird deutlich, dass die meisten alternativen Kinos in Hamburg im Westen der Stadt zu finden sind. Viele von diesen ballen sich in den Stadtteilen Ottensen, Altona, Sternschanze und Eimsbüttel. Besonders rund um die Sternschanze liegen mehrere Spielstätten nur wenige Straßen voneinander entfernt, etwa das „3001 Kino”, das „Studio Kino” und das „SchanzenKino 73″.
Alternative Kinos hauptsächlich im Zentrum
Hier zeigt sich, dass außerhalb des Zentrums alternative Kinos deutlich seltener zu finden sind. Nur vereinzelt tauchen sie in Stadtteilen wie Volksdorf („Koralle Kino”), Osdorf („Elbe Filmtheater”) oder Bergedorf („Hansa Filmstudio”) auf. Die Karte macht sichtbar: Besonders im Westen Hamburgs ist das alternative Kinoangebot dicht angesiedelt, am Stadtrand dagegen kaum präsent.
Auch wenn die meisten Kinos dicht beieinander liegen, schrecken Sandra und Jonas nicht davon zurück, auch längere Wege auf sich zu nehmen. Denn die Kinos verfolgen unterschiedliche Konzepte, was sich in Programm und Ausrichtung zeigt. Wie die „Astor Film Lounge” in der Hafencity, in der man sich Snacks nicht selbst holt, sondern direkt am Platz bedient wird. Oder das „Schanzenkino 73″, in dem man im Saal Kopfhörer trägt, damit man wählen kann, ob man den Film auf Deutsch oder in der Originalsprache sehen möchte. Ein paar Straßen weiter liegt ein Kino, das nochmal anders funktioniert. Das „B-Movie” ist ein selbstverwaltetes Kino auf St. Pauli. Vor den Filmen läuft keine Werbung. Gezeigt werden vor allem Dokus, queeres Kino und Independent-Filme. Das Programm wird gemeinsam entschieden, die Eintrittspreise sind eher niedrig.
„Wenn man gute Kunst unterstützen und originelle und künstlerische Filme sehen möchte, dann sollte man sich die im Kino angucken, um so den Studios zu zeigen, dass solche Sachen immer noch gewollt werden”, sagt Nikolai Terminante, der seit über zehn Jahren im ‘Spectrum Kino Center’ in Norderstedt arbeitet. Er habe beobachtet, dass es keinen Wandel beim Klientel gab. Vielmehr würden Veränderungen von der Lage des Kinos, der Filmauswahl sowie der werbeschaltenden Firmen abhängig sein. Einen größeren Einfluss auf Besucherzahlen hätten eher saisonale Angebote, wie Weihnachtsklassiker.
Wenn man gute Kunst unterstützen und originelle und künstlerische Filme sehen möchte, dann sollte man sich die im Kino angucken, um so den Studios zu zeigen, dass solche Sachen immer noch gewollt werden.
Kinosterben ist in Hamburg ein Märchen
Vom vielzitierten Kinosterben ist in Hamburg wenig zu spüren. Pandemie und Streamingdienste haben das Besucherverhalten trotzdem verändert. Auch wenn die Ticketverkäufe nicht wieder auf das Niveau vor der Pandemie gestiegen sind, zeigen sich die Umsatzzahlen und die Auslastung der Kinosäle stabil.
Bemerkenswert ist die Rolle der alternativen Kinos: Sie prägen das kulturelle Bild der Stadt, bieten individuelle Konzepte und ziehen ein vielfältiges Publikum an. Hamburg zeigt, dass Kinos nicht aus der Zeit gefallen sind – sondern lebendig, wandelbar und als kultureller Raum gesellschaftlich relevant bleiben. Das Märchen vom Kinosterben? Zumindest in Hamburg ist es genau das: ein Märchen.







