Schnee fällt an den Landungsbrücken in Hamburg.
Schnee fällt an den Landungsbrücken. Am Abend hat es in der Hansestadt geschneit. Foto: Bodo Marks/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Seit ein paar Wochen kursiert ein Schlagwort in den Medien: Jahrhundertwinter. Klingt in Hamburg nach einer zugefrorenen Alster und meterhohen Schneewänden. Doch kann das stimmen inmitten eines sich rasant verändernden Klimas? Zwei Experten ordnen ein.

“Kommt nach dem Sturm in SH jetzt der Jahrhundertwinter?”, steht beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag. “Jahrhundertwinter und weiße Weihnachten 2025?”, fragen die “Stuttgarter Nachrichten”. Steht uns ein extrem kalter Winter von Nord nach Süd bevor? FINK.HAMBURG hat nachgehakt, was am Jahrhundertwinter dran ist, welche Bedingungen für einen extrem kalten Winter eintreffen müssten und ob es dieses Jahr weiße Weihnachten gibt.

Was ist ein „Jahrhundertwinter”?

Der Begriff klingt gewaltig, aber meteorologisch trägt er nicht weit. „Den Begriff Jahrhundertwinter gibt es offiziell nicht”, sagt Andreas Walter, Pressesprecher des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Eine feste Definition fehle, ebenso wie beim „Jahrhundertsommer”. Auch Dr. Tim Staeger vom ARD-Wetterkompetenzzentrum bestätigt: Der Begriff suggeriere eine Wiederkehrzeit von etwa 100 Jahren, doch „in einem veränderlichen Klima verändern sich auch Eintrittswahrscheinlichkeiten”, wodurch solche extrem kalten Winter noch seltener geworden seien. Auch früher habe die Idee nicht gestimmt, ein extrem kalter Winter würde sich alle hundert Jahre wiederholen, so Staeger. Aber die Wahrscheinlichkeit war zumindest höher. Kurz gesagt: Ein Schlagwort, aber kein wissenschaftlicher Begriff.

Welche Wetterlagen bräuchte es für einen extrem kalten Winter?

Normalerweise pustet der Atlantik milde Luft nach Mitteleuropa. Für einen wirklich strengen Winter müsste dieses westliche Strömungsmuster durchbrochen werden. Walter erklärt: Dafür brauche es kalte Luft aus Osten, gespeist vom riesigen Kältehoch über dem eurasischen Kontinent. Eurasisch meint in der Geologie Europa und Asien.

Staeger ergänzt: Kaltluft aus polaren Regionen könne Deutschland nur erreichen, wenn starke Hochdruckgebiete über Ost- und Mitteleuropa die Westwinde blockieren. Liegen sich ein Tief über Skandinavien und ein Hoch über dem Nordatlantik gegenüber, könne polare Luft weit nach Süden strömen. Dauere eine solche Lage über Wochen an, sei ein kalter Winter möglich.

Wie realistisch ist ein extrem kalter Winter angesichts des Klimawandels?

Die klare Antwort beider Experten: immer unwahrscheinlicher.

Walter verweist darauf, dass die wärmsten Winter Deutschlands in den 2000er und 2010er Jahren liegen. Staeger führt aus, warum: Die Meere sind wärmer, die Arktis verliert Eis, der Schnee in Eurasien geht zurück. Dadurch erwärmen sich polare Luftmassen auf ihrem Weg nach Süden deutlich stärker als früher. Kalte Winter sind also möglich, aber selten und zunehmend unwahrscheinlich.

Was bedeuten Polarwirbel, NAO und El Niño?

Rund um den „Jahrhundertwinter” tauchen regelmäßig Fachbegriffe auf.

Der Polarwirbel ist ein gewaltiges Windsystem über der Arktis. Wird er instabil oder spaltet sich, kann Kaltluft weit nach Süden ausbrechen. Walter erklärt das sogenannte Major Warming Event in der Stratosphäre, das den Wirbel schwächen kann. Staeger ergänzt, dass solche Prozesse „sehr spezielle Randbedingungen” benötigen, damit die Kaltluft Mitteleuropa erreicht.  Dabei kommt es zu einer starken Erwärmung in der Stratosphäre, also rund 20 bis 50 Kilometer über uns. Diese Erwärmung verändert den Drehimpuls der Luftmassen, schwächt den Polarwirbel oder bringt ihn in seltenen Fällen sogar zum Erliegen oder zur Umkehr. Das beeinflusst wiederum die Troposphäre, also die Wetterschicht. Wird der Polarwirbel schwach oder instabil, kann extrem kalte Luft aus der Arktis nach Mitteleuropa gelangen.

Sicher vorhersagbar, das eine solche Umkehr der Luftmassen passiert, ist/sei allerdings sehr schwierig, sagt Walter.

Die Nordatlantische Oszillation (NAO) ist eine Art Druckschaukel zwischen Islandtief und Azorenhoch. Ein niedriger NAO-Index begünstigt ostkalte Lagen. Aktuell sei das jedoch nicht ausgeprägt, so Walter.

In Mitteleuropa spielt El Niño keine große Rolle. El Niño ist ein periodisch wiederkehrendes Phänomen mit einer Häufigkeit von etwa sieben bis elf Jahren. Es betrifft die Meeresoberflächentemperaturen im südlichen Pazifik. Normalerweise drücken Passatwinde das warme Wasser Richtung Indonesien. Es baut sich dort regelrecht auf. Irgendwann schwappt es wieder zurück an die südamerikanische Küste, wie in einer Badewanne. Dadurch fehlt dort das normalerweise kalte, nährstoffreiche Wasser. Allerdings betrifft das vor allem den südamerikanischen Kontinent.

„Der Einfluss auf das europäische Winterwetter ist sehr gering bzw. nicht nachweisbar”, sagt Staeger. Walter bestätigt: Europa ist weltweit der am Kontinent vom Phänomen El Niño. Wegen seiner typischen Häufung um Weihnachten heißt es „El Niño“ – das Christkind.

Warum tauchen solche Begriffe so oft in den Schlagzeilen auf?

Das liege an der Aufmerksamkeit, die Begriffe wie „Jahrhundertwinter” erzeugen, sagt Walter. Treffe man solche Vorhersagen über größere Zeiträume, gebe es immer eine Vorhersage für einen extrem kalten Winter. Nimmt man für seine Schlagzeile dann nur diese Berechnung, könne man den “Jahrhundertwinter” prognostizieren. Das sei aber unseriös, denn man müsse immer alle Modellläufe berücksichtigen. 

Auch Staeger vermutet: Aufmerksamkeit spiele wohl eine Rolle, warum solche Begriffe es immer wieder in die Schlagzeilen schaffen.

Wie sicher sind langfristige Winterprognosen?

Hier sind sich beide Experten einig: gar nicht sicher.

Staeger betont, dass es sich nicht um Vorhersagen, sondern um Wahrscheinlichkeiten handelt. Die Atmosphäre sei chaotisch. Der verlässliche Vorhersagehorizont liege bei etwa fünf bis sieben Tagen. Danach werde es unscharf und die Prognosen könnten schlichtweg nicht sicher über mehrere Monate gar Wochen vorhergesagt werden. 

Historisch kalte Winter – und wie sie sich heute einordnen

Die kältesten Winter liegen weit zurück: 1963, 1940, 1929. Der letzte nennenswert kalte Winter war 1985, sagt Walter. Staeger nennt 1962/63 den extremsten des 20. Jahrhunderts. Doch ein solches Ereignis sei heute „äußerst unwahrscheinlich“, selbst wenn die gleiche Wetterlage auftreten würde. Die Meere seien schlicht zu warm.

Wird die Alster jemals wieder zufrieren?

Romantisch, aber eher unwahrscheinlich.

Walter sagt, die Wahrscheinlichkeit sei „sehr gering“, aber nicht ausgeschlossen. Staeger erinnert: Auch früher war das selten. 2012 fand zuletzt ein Alstereisvergnügen statt. Die Außenaslter in der Hamburger Innenstadt verwandelt sich dann in eine riesige Eisfläche. Für ein Alstereisvergnügen ist eine überwiegende Mindesteisdicke von 20 Zentimetern notwendig. Beim letzten Mal im Jahr 2012 wurden die Hamburger*innen kreativ und nutzen die zusätzliche Fläche in der Stadt für Yoga, Golf oder Eishockey.

Staeger fasst zusammen mit dem Klimawandel werde es noch seltener, doch „ganz sollte man die Hoffnung nicht aufgeben“.

Und wie steht es um die weiße Weihnacht?

Der Deutsche Wetterdienst prognostiziert für die Weihnachtsfeiertage momentan eine Durchschnittstemperatur von zwei bis fünf Grad Celsius für die Regionen Schleswig-Holstein und Hamburg. Es soll bedeckt bleiben, allerdings ohne Niederschlag. Auf die weißen Weihnachten muss also in Norddeutschland weiter gewartet werden, vermutlich allerdings nicht so lang wie auf den nächsten Jahrhundertwinter.



Hendrik Heiermann, Jahrgang 1998, prokrastiniert nicht, er tut andere wichtige Dinge. Statt sich seiner Traumkarriere als Eisverkäufer im Sommer und Lokomotivführer im Winter zu widmen, hat er sich dem Journalismus verschrieben.
Hendrik ist in Plochingen bei Stuttgart aufgewachsen, er studierte Spanisch und Lateinamerikastudien in Hamburg. Während eines Praktikums in Mexiko in einer Migrant*innenherberge half er bei einer Geburt, später startete er in Kolumbien einen spanischsprachigen Podcast über Migration. Seit Sommer 2024 schreibt er für “kohero”, ein interkulturelles Hamburger Stadtmagazin. Den Artikel über Eiscreme schreibt er morgen. Ganz bestimmt. (Kürzel: hmh)

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