Poetry Slams sind schon lang zum Mainstream-Format geworden. Aber wie kam diese Entwicklung, und was macht das Format aus? Wir haben mit dem Sprachwissenschaftler Dr. Henrik Wehmeier gesprochen, der im Rahmen seines Forschungsprojekts „Poetry in the Digital Age“ zu Poetry Slams an der Uni Hamburg forscht.

FINK.HAMBURG: Wie und wo ist Poetry Slam entstanden? 

Henrik Wehmeier: Die Ursprünge des Poetry Slams liegen in Amerika, vor allem in Chicago. Die zentrale Figur ist Mark Smith, der Mitte der 1980er Jahre den ersten Poetry Slam veranstaltet hat. Smith hat nach einer neuen Form gesucht, Lyrik jenseits der klassischen Form der Lesung zu präsentieren.

Sprachwissenschaftler Henrik Wehmeier.
Sprachwissenschaftler Henrik Wehmeier. Foto: Arvid Mentz, UHH

Dabei hatte er die Idee eines Wettbewerbs, bei dem verschiedene Gedichte auf einer Bühne präsentiert werden.

Das Besondere an Mark Smith ist, dass er zwar Lyriker ist, aber nicht aus dem akademischen Milieu kommt, sondern aus dem Arbeitermilieu. Im amerikanischen Raum ist Poetry Slam deshalb sehr stark mit marginalisierten gesellschaftlichen Rollen verbunden. Es ging viel darum, besonders diskriminierten Bevölkerungsgruppen eine Stimme zu geben – nicht nur die weiße, männliche und heterosexuelle, sondern auch migrantische Perspektiven zu präsentieren.

Und wie ist der Poetry Slam nach Deutschland gekommen?

In Deutschland hat Poetry Slam ab den 1990er Jahren Fuß gefasst, aber in anderen Milieus als in den USA: Das Format hat in Deutschland vor allem in einem universitären Kontext größere Aufmerksamkeit gewonnen und sich deshalb anders entwickelt. Das neue Format sollte einen näheren Bezug zur Alltagswelt haben. Poetry Slams haben sich als Gegenbewegung zum etablierten Literaturbetrieb verstanden, was Studierende angesprochen hat. In den an den Universitäten angesiedelten Slams waren allerdings politische Texte abwesender.

Mittlerweile haben sich Poetry Slams in Deutschland professionalisiert, in Hamburg zum Beispiel durch den Veranstalter Kampf der Künste. Gleichzeitig ist es aus Universitäten eher verschwunden. Jetzt ist eine Phase eingetreten, in der Poetry Slam ein etabliertes Veranstaltungsformat im professionellen Betrieb ist.

Sprachlich ist Poetry Slam schwer zu definieren. es gibt nicht die einen klaren sprachlichen Regeln.

Heißt das, Poetry Slam verändert sich ständig?

Poetry Slams sind sehr zeitspezifisch: Die Slam-Texte in den Neunzigern klingen anders als in den Nullerjahren oder heute. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre hatte die Poetry-Slam-Szene enge Verbindungen zum Rap, wo Reim und Metrum deutlich stärker ausgeprägt sind. Da war die Sprache deutlich formalisierter. Heute haben sich diese Verbindungen fast vollständig aufgelöst. Dafür wird der Einfluss von Spoken Word, das im englischen Raum sehr erfolgreich ist, größer. Spoken-Word-Texte haben einen starken Sprachrhythmus, aber eine größere formale Freiheit.

Poetry Slam ist auch ein sehr regionales Phänomen. Je nach Veranstaltungsort setzen die Veranstalter*innen bestimmte Konventionen, weil sie bestimmte Slammer*innen einladen. 

Kann man Poetry Slams an ihrer sprachlichen Gestaltung erkennen?

Das würde ich nicht sagen. Wenn man die Performances in einen anderen Kontexte stellt, dann wäre das nicht mehr so leicht zu erkennen. Ich denke, es liegt viel an der Rahmung.

Poetry Slammer Tim Jürgensen beim Auftritt.
Poetry Slammer Tim Jürgensen beim Auftritt. Bild: Louisa Eck

Sprachlich ist Poetry Slam sowieso schwer zu definieren, es gibt nicht die einen klaren sprachlichen Regeln. Auf jeden Fall gibt es formal keine Vorschriften, es

wird nicht erwartet, dass Texte lyrische Merkmale wie Metren oder Reime enthalten. Da ist es ein sehr offenes Format. 

Aber woher weiß man dann, dass es ein Poetry Slam ist?

Die Regeln variieren immer etwas, aber allgemein gibt es vier Grundsätze. Poetry Slams müssen zwischen drei und fünf Minuten lang und selbstgeschriebene Texte sein. Es dürfen keine Kostüme verwendet werden, es darf nicht gesungen werden – der Text soll im Zentrum stehen und nicht groß inszeniert werden. Zuletzt werden die Slams bewertet von einer Jury, die in der Regel aus dem Publikum zusammengesetzt ist. 

Natürlich sind die lyrischen Elemente, wie die Kürze und die Pointierung, wichtig. Viel hängt damit zusammen, dass die Sprache rhythmisiert wird. Häufig wird auch eine bildliche Sprache verwendet, mit vielen Vergleichen. Das soll den Poetry Slam zugänglich machen im Vergleich zur klassischen Lyrik: Es sollen Texte sein, die man schnell und leicht versteht. Was auch immer wichtig ist, ist das Persönliche im Text. 

Gibt es sprachliche oder thematische Inhalte, die eher von männlichen oder weiblichen Sammler*innen genutzt werden?

Oft ist die Art des Präsentierens ein Genderaspekt: Es fühlt sich so an, als ob die männlichen Slammer eher Comedy-Texte schreiben und diese sehr offensiv präsentieren. Wohingegen bei weiblichen Slammerinnen eher alternative, zurückhaltende Darstellungsformen gewählt werden, wo Sprache experimenteller wird, wo mehr Diskriminierungserfahrungen thematisiert werden.

Mittlerweile gibt es verschiedene Slams, auf denen auch ganz unterschiedliche Themen behandelt werden.

Bei dem letzten Slam, den ich besucht habe, ist mir das auch aufgefallen. Männer mit ihren Comedy-Texten wurden oft um einiges besser bewertet. Das Publikum mochte die Texte weniger, die Leute zum Nachdenken gebracht oder kritisiert haben. 

Ich glaube, es hängt teilweise mit den Orten des Slams zusammen. Große Slams im Schauspielhaus oder der Elbphilharmonie sind auf die Masse ausgelegt. Da geht es darum, ein breites Publikum zu erreichen. Poetry Slams sind inzwischen institutionalisiert und kommerzialisiert.

Mittlerweile gibt es verschiedene Slams, auf denen auch ganz unterschiedliche Themen behandelt werden. Es gibt auch Poetry Slams an anderen Orten, die deutlich kleiner sind, wo dann nur zehn Zuschauer*innen kommen. Die in irgendwelchen linken Kneipen stattfinden, in besetzten Räumen, in der Subkultur. Dann sind es natürlich andere Texte, mit anderen Themen und einem anderen Publikum. 

Schild vom Kampf der Künste Zeise-Jahresfinale im Schauspielhaus.
Zeise Poetry-Slam Jahresfinale im Deutschen Schauspielhaus. Foto: Sarah Bayerschmidt

Wir haben im Newsroom nachgefragt, wer Poetry Slams mag und wer nicht. Die Reaktion war entweder „mag ich total gerne“ oder „finde ich seltsam“. Haben Sie eine Einschätzung, woran das liegt?

Ich glaube, viele Leute haben falsche Erwartungen an Poetry Slams, die der Realität nicht entsprechen. Vielleicht lassen sich diese Erwartungen davon ableiten, wie die bekanntesten Slammer*innen das mediale Bild prägen. Stichwort Julia Engelmann – es gibt Personen, die sehr viel mediale Aufmerksamkeit erfahren haben und durch diese dominierende Position den Blick versperren. Auf andere Formen, die den Leuten vielleicht mehr zusagen würden. 

Es hängt auch damit zusammen, dass Poetry Slams kein Format der Subkultur mehr sind, das man von sich aus aufsucht. Poetry Slam ist heutzutage Bestand des Schulcurriculums. Mir fällt auf, dass oft sehr viele Schulklassen bei Slams sind. Sowas kann natürlich auch eine negative Haltung fördern, wenn man als Schüler*in damit unfreiwillig konfrontiert wird. Einige werden da reingezwungen, obwohl sie gar nicht da sein möchten. Das ist einer der Gründe, warum es auf Poetry Slams negative Reaktionen gibt. Andere Leute wiederum stören sich vielleicht daran, zu was für einem Mainstream-Format sich der Poetry Slam entwickelt hat. 

Louisa Eck, Jahrgang 2002, schrieb in der 3. Klasse für die Schülerzeitung einen Artikel über einen Bauern, der Kastanien für seine Schweine sammelte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war klar: Sie möchte Journalistin werden. Louisa studierte Medienwissenschaft in Köln. Auch ein Abstecher in die PR beim dortigen Institut der deutschen Wirtschaft brachte sie nicht vom Journalismus ab. In der Domstadt entdeckte sie neben ihrer Liebe zum Karneval auch ihr Talent für die Herstellung von veganem Gebäck. Seit ihrem Umzug in ihre Geburtsstadt Hamburg ruht ihr Froschkostüm. Im HAW Newsroom verteidigt sie jetzt Alaaf gegen Helau und Kölsch gegen Alt und Astra. Kürzel: eck

Luna Baumann Dominguez, Jahrgang 1996, hat ein Faible für das deutsche Lachshuhn. Das hat ihr in ihrem Lieblingskartenspiel “Hennen” schon einige Siege beschert. Sie ist in Mönchengladbach geboren, aber schon 13-mal umgezogen. Beim WDR in Köln machte sie ein Praktikum in der Wirtschaftsredaktion. Ihren Bachelor in Kommunikationswissenschaft begann Luna vor allem, um beim Uni-Radio in Münster zu arbeiten. Dort gründete sie die feministische Sendung “Equals” und interviewte Reggae-Musiker: Bei einem Dub-Inc-Konzert in Paris ließ der Schlagzeuger für sie sogar das französische Fernsehen warten. Die Leute im Ruhrgebiet - große Klappe, herzlich, immer direkt - vermisst sie schon jetzt. Kürzel: lun

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