Foto: Daniel Dittus

Geht die Bar „Goldfischglas“ an Glasdiebstahl zugrunde? Längst ist das Phänomen unter Hamburgern bekannt. Für den einen ist es ein Impulsklau, für den anderen inzwischen ein Hobby. Diebstahl ist es in jedem Fall.

Freitagabend, 22 Uhr. Schanzenviertel, „Goldfischglasbar“: Musik und Stimmen vermischen sich zu einem lauten Durcheinander. Der Raum ist voll mit Menschen. An der Wand hängend beobachtet ein überdimensionaler Papp-Goldfisch den Andrang am Tresen. Überall klirren Gläser, die das Wochenende willkommen heißen. Nur die Freudenschreie aus der Kicker-Ecke überbieten gelegentlich den ohnehin schon hohen Geräuschpegel.

Vorsichtig drückt sich Tom* auf dem Weg zu seinem Tisch durch das menschliche Gedränge – in der rechten Hand einen Longdrink, in der linken ein Snackglas. Sicher angekommen wischt er sich den Schweiß von der Stirn und grinst dabei verlegen. „Will jemand?“, fragt er und bietet mit großer Geste seinen Freunden die Knabbereien an. Aber wollte Tom wirklich nur die Snacks? Anscheinend nicht, denn: Kaum ist das Glas geleert, wandert es unauffällig in seinen Rucksack. Mission erfolgreich, Ware gesichert.

Mehr Designs mit entsprechenden Schrift- und Tieraufdrucken sind in der „Aurel Bar“, „Rehbar“ und der „Katze“ zu finden.

Die Frage, die sich stellt, ist: Was ist an diesen Gläsern so besonders? Kleine und große geometrische Aufdrucke von Goldfischen zieren das zylindrische und nach oben hin leicht breiter werdende Glas. Je nach Design sind die Tiere unterschiedlich angeordnet. Die mattgoldene Farbe sorgt für den edlen letzten Schliff. Schön, originell und für manche augenscheinlich souvenirwürdig. Momentan gibt es vier unterschiedliche Muster, die sich in jährlichen Abständen ändern. So passt das Goldfischglas perfekt zur „Goldfischglasbar“. Mehr Designs mit entsprechenden Schrift- und Tieraufdrucken sind in der „Aurel Bar“, „Rehbar“ und der „Katze“ zu finden. Die hübschen Gläser und wahrscheinlich auch der Grad der Trunkenheit verlocken den einen oder anderen Gast dazu, erst sein Getränk und dann auch das entsprechende Glas verschwinden zu lassen. Einige Sammler und Jäger haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Küche mit einem kompletten Set aus Bargläsern auszustatten.

Foto: Daniel Dittus

Wie Tom, der nun seinen Cuba Libre mit einem kräftigen letzten Schluck leert. Dem Longdrinkglas droht ein ähnliches Schicksal wie seinem kleinen Bruder. Bei dem Großen ist jedoch mehr Geschick von Nöten. Tom ist mittlerweile erfahren und weiß, wie er vorgehen muss. Strohhalm, Eiswürfel und Limetten sind ein Hindernis, aber kein Problem. In einem unbeobachteten Moment nimmt er sein Glas einfach mit auf die Toilette. Hier kann er seine Beute ungestört in seinem Rucksack verstauen.

„So haben die Gläser eine eigene Geschichte. Das ist Nervenkitzel pur“

16 Gläser hat Tom so schon seiner Sammlung hinzugefügt. Besuchern erklärt er stolz, dass er sämtliche Gläser selbst geklaut hat. „So haben die Gläser eine eigene Geschichte. Das ist Nervenkitzel pur“, sagt Tom. Der Sammelrausch fing damit an, dass seine damalige Mitbewohnerin beim Einzug ihren Satz Gläser mitbrachte. Als sie auszog, verschwanden die meisten Exemplare mit ihr und so musste Tom für Nachschub sorgen. Nach eigenen Schätzungen dürften ihm noch zwei bis drei Muster fehlen. Vor allem ganz alte Designs, wie zum Beispiel die Goldfischgläser mit Glanzaufdruck oder mit geschwungenem Schweif aus den Anfangszeiten der Bar. „Wenn ich eines der alten Gläser sehen würde, dann wäre ich da ganz heiß drauf“, berichtet Tom aufgeregt. Dabei geht er nicht gezielt in Bars, um diese zu bestehlen. Eher nimmt er Gelegenheiten war, wenn er mit Freunden unterwegs ist. Erwischt wurde Tom dabei noch nie. Gäste die ihn dabei beobachteten warfen ihm höchstens verwunderte Blicke zu.

Das Einstecken der Gläser ist nicht gerne gesehen. „Das Getränk ist längst leergetrunken und man möchte es abräumen, aber dann ist es plötzlich weg. Da wird dann auch mal nachgefragt“, sagt Alex, eine langjährige Barkeeperin der Goldfischglasbar. „Die Bar geht an den häufigen Diebstählen zwar nicht zugrunde, solange sie gut besucht ist und natürlich freuen wir uns, dass alle unsere Gläser mögen, aber trotzdem: Das ist nicht cool.“ Doch nicht nur Gläser sind vom Diebstahl betroffen. „Wenn man betrunken ist, kommt man eben manchmal auf verrückte Ideen. „Die kleinen Bilderfliesen im Klo sind nicht umsonst festgeschraubt und auch ein Stück frische Tapete wollte ein Gast schon mal mitgehen lassen“, sagt Alex weiter.

Foto: Daniel Dittus

Generell haben alle Bars, die mit den charakteristischen Trinkgläsern ausgestattet sind, mit dem gleichen Problem zu tun. Auch in der Katze schwindet regelmäßig der Gläserbestand. Hier wurde als Gegenmaßnahme ein Pfand eingeführt.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass der Laden durch mich Verlust macht“

So oder so scheint Tom kein schlechtes Gewissen zu haben: „Ich habe nicht das Gefühl, dass der Laden durch mich Verlust macht und auch Pfand hält mich nicht davon ab. Es erscheint mir dann nur moralisch ‚Okayer‘, es mitzunehmen.“ Tom kann sich glücklich schätzen, dass er bisher nicht erwischt wurde, denn vorsätzlicher Diebstahl ist laut §242 des Strafgesetzbuchs grundsätzlich strafbar.

Wie viele Gläser bisher geklaut wurden, lässt sich schwer abschätzen. Nicht immer werden Gläser vorsätzlich gestohlen. Häufig nehmen Gäste ihre Getränke beim Wechsel in eine andere Bar mit, wo diese dann manchmal versehentlich im Stress des Tagesgeschäfts wieder verwendet werden. So wandern die unverkennbaren Gläser überall im informellen Gläsernetzwerk der Schanze umher.

Längst ist die Gläserkleptomanie nicht nur Personal und Besitzern bekannt, sondern auch unter Hamburgern verbreitet. Was viele aber nicht wissen: Man muss kein Verbrechen begehen, um an eines der begehrten Gläser zu kommen. Die Gläser können am Tresen zum Einkaufspreis von einem vermutlich positiv überraschten Barmitarbeiter erworben werden. Das große Cocktailglas kostet 1,50€, während das kleine für 1€ zu haben ist. Als Tom das erfährt, gelobt er Besserung: „Wenn ich ein Glas, das ich noch nicht habe, zu einem angemessenen Preis in der Bar kaufen kann, werde ich das auch machen.“

*Name wurde von der Redaktion geändert.

Dani Tran