In Deutschlands ethnologischen Museen gibt es viele Exponate, die aus ehemaligen Kolonialgebieten stammen. Wie sind diese dort hingekommen? Ist es korrekt, dass sie sich in Deutschland befinden oder sind es vielleicht Raubgüter aus Kolonialverbrechen? Wissenschaftler Jamie Dau betreibt Provenienzforschung in Hamburg und geht diesen Fragen nach.
Ein sanftes, fast überlegenes Lächeln umspielt die gelb getönten Lippen der aus Holz gearbeiteten Gelede-Maske. Ihre Wangen schmückt Narbenschmuck, ihren Kopf eine Zopffrisur und ein Stuhl mit Lehne. Die dunklen Augen sind starr, fixiert und unaufgeregt, stille Zeugen – sowohl von Gelede-Traditionen der westafrikanischen Yoruba, als auch von der Hamburger Handelsgeschichte. Wen und was sie nach ihrer Schaffung genau zu Gesicht bekamen, war jahrzehntelang ungeklärt.
Ausgestellt ist die Maske im sogenannten Zwischenraum des Museum am Rothenbaum Kulturen und Künste der Welt (MARKK). Das Hamburger Museum besitzt eine der größten ethnografischen Sammlungen Europas. Der Zwischenraum soll eine Begegnungsstätte für „Austausch, Aufbruch, Ausruhen und Widerspruch – und alles, was dazwischen liegt“, darstellen. Ein Raum für Fragen – auch zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Diese blieben von deutschen Museen in der Vergangenheit nämlich meist jahrelang unbeantwortet. Im Zuge einer Neupositionierung sucht das MARKK nun Antworten.
Einer der Suchenden ist Provenienzforscher Jamie Dau. Seit Juli 2020 forscht er für das Museum zur Herkunft und zum Erwerbskontext westafrikanischer Sammlungsgüter, die in Verbindung mit den Netzwerken der Hamburger Kaufmannschaft im 19. und 20. Jahrhundert stehen. Auch mögliche Zusammenhänge zu Kolonialverbrechen sollen untersucht werden. Eine Aufgabe mit großer Verantwortung: Die Ergebnisse von Daus Forschung entscheiden möglicherweise über den zukünftigen Umgang mit den Objekten. So auch im Fall der Gelede-Maske.
Eine späte Einsicht
„Provenienzforschung gibt es an Museen und Sammlungen schon länger“, erklärt er. Sie solle helfen, die Geschichte und die Herkunft von Kunstwerken und Kulturgütern zu klären. Relativ neu ist jedoch der spezielle Fokus auf die Provenienz von Objekten, die einen kolonialen Hintergrund haben. Länder, die aufgrund ihrer Kolonialgeschichte beachtliche ethnografische Sammlungen an internationalen Kulturgütern besitzen, förderten die Auseinandersetzung mit deren Vergangenheit und den möglicherweise unrechten Erwerbskontexten noch bis vor einigen Jahren nur sehr gering. Nun werden für Forschungsprojekte wie dem von Jamie Dau eigene Arbeitsstellen geschaffen.
Initialzündung für das Umdenken war der 2018 publizierte „Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“. Der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr und die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy beschäftigten sich darin mit dem Hintergrund von afrikanischem Kulturerbe, sowie den Möglichkeiten zur Rückgabe von diesem aus französischen Sammlungen. Auftraggeber ihrer Arbeit war Emmanuel Macron. 2017 hatte er bei einer Rede in Brukina Faso als erster französischer Präsident der Geschichte das moralische Recht auf die Rückerstattung von Kulturgütern eingesehen: eine Zäsur für die koloniale Provenienzforschung. In Deutschland sorgte der Bericht ebenfalls für eine Debatte. 2019 positionierten sich 26 Direktor:innen ethnologischer Museen in der „Heidelberger Stellungnahme“ zum Thema.
HEIDELBERGER STELLUNGNAHME:
Die Unterzeichnenden haben sich folgenden Punkten verpflichtet:
1. dafür Sorge zu tragen, dass alle, die aufgrund ihrer Geschichte und kulturellen Praktiken mit den Sammlungen verbunden sind, wenn irgend möglich von den Aufbewahrungsorten sie betreffender Sammlungen erfahren;
2. das bewahrte Wissen wo immer möglich mit den Urheber/innen und ihren Nachfahr/innen zu teilen, da erst dies die Voraussetzungen für gegenseitiges Vertrauen schafft;
3. laufende Forschungen zu unseren Sammlungsbeständen öffentlich zu machen.
Des Weiteren fordern die Unterzeichnenden finanzielle Mittel unter anderem für die Dokumentation und Digitalisierung ihrer Bestände, gemeinsame Projekte mit Urheber:innengesellschaften und Institutionen in den Herkunftsgesellschaften, die Repatriierung, Restitution und andere Formen einvernehmlicher und respektvoller Einigungen.
Auch das MARKK, das sich seit 2017 aktiv mit der eigenen kolonialen Vergangenheit auseinandersetzt, sah unter der Leitung von Direktorin Prof. Dr. Barbara Plankensteiner die Notwendigkeit zur intensiven Hinterfragung der eigenen Sammlung. Sie kritisierte öffentlich, dass „bis vor Kurzem die illegale Ausfuhr von historischem Kulturgut als Kavaliersdelikt gesehen worden ist und ein Unrechtsbewusstsein meist nicht vorhanden war.“
Im vergangenen Jahr wurde Plankensteiners Anliegen durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste schließlich subventioniert. Eine eigene Stelle zur Provenienzforschung konnte ausgeschrieben werden – Jamie Daus heutiger Arbeitsplatz. Schon bevor der Anthropologe das erste Mal an seinem neuen Schreibtisch saß, war ihm klar, wie umfassend der MARKK-Bestand von Objekten des kolonialen Kontextes ist: „Ich habe mehrere Wochen gebraucht, um einen Überblick über die Sammlungen zu bekommen“, erinnert er sich. Knapp ein Jahr nach Projektbeginn hat er mit seinen Kolleg:innen mehrere Hundert Objekte untersucht. Zu ihnen gehört auch die Gelede-Maske.
Gelede ist ein jährlich stattfindendes Tanzritual der Yoruba. Es wird zu Ehren der Mutterschaft, weiblichen Vorfahren und alten Frauen gefeiert und existiert vermutlich seit dem 16. Jahrhundert. Spezielle Masken werden dabei bei einer Tanzaufführung präsentiert, die Bezug auf das aktuelle Leben und Einflüsse der Gesellschaft nehmen. 2008 wurde Gelede von der UNESCO in die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ übernommen.
Mehr Informationen zu Gelede gibt es hier.
Detektiv der Geschichte
„Die Provenienzforschung an der Maske war besonders interessant“, erinnert sich Dau. Wie sie es einmal von Westafrika bis nach Hamburg schaffte, wusste niemand genau. “Uns war nur klar, dass sie in einem Handelskontext hierher gekommen sein muss.” Einziger Anhaltspunkt für die Herkunft der Maske war eine historische Inventarkarte. „Auf der Karte stand, dass unser Museum das Objekt 1934 von einer Frau L. Büsch geschenkt bekommen hatte.“ Später sei noch das Wort „Benin“ hinzugefügt worden, wobei es sich jedoch um eine falsche Zuschreibung handelte.
Die Ikonografie (Bestimmung und Deutung von Motiven in Kunstwerken) verriet den Wissenschaftler:innen, dass die Maske mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Land der Yoruba stammt. Dies befindet sich zu einem Großteil im heutigen südwestlichen Nigeria. Des Weiteren deutete der Stuhl auf der Maske auf einen europäischen Einfluss hin: „Stühle mit Lehne waren ein europäisches Importgut und verweisen gleichermaßen auf die Aneignung ‘exotischer’ Produkte in der lokalen Lebenskultur wie auch auf deren statusbefördernden Charakter“, analysiert Dau.
Anschließend versuchte der Provenienzforscher mehr über die Stifterin herauszufinden. „Auf historischen Unterlagen im Archiv des MARKK fand ich eine fast 100 Jahre alte Hamburger Adresse“, erinnert sich Dau an seine Recherche. Als er zur Anschrift fuhr, stellte er fest, dass die Nachfahren auch heute noch an gleicher Stelle wohnen. Er schrieb ihnen einen Brief und erfuhr daraufhin, dass es sich bei L. Büsch um die 1854 geborene Susanne Elisabeth Büsch (geb. Lattmann), genannt „Lizzy“, handelte. Sie war die Frau des Hamburger Kaufmanns Oscar Theodor Büsch, über dessen Handelsbeziehungen die Maske wohl nach Deutschland kam.
Hamburger Handel mit Nigeria
Wie historische Bücher (Quelle: Textende) beschreiben, lockten Palmöl, Elfenbein und Kauris Hamburger Kaufleute einst an den Westafrikanischen Küstenstreifen, wo sich heute Nigeria befindet. Um 1860 lag fast der gesamte Handel in der Bucht von Benin in den Händen Hamburger Firmen. Als das Deutsche Reich 1884 unter Reichskanzler Otto von Bismarck mit Kolonialerwerbungen auf dem afrikanischen Kontinent begann, hatte Lizzy Büschs Ehemann Oscar Theodor schon ein Handelsnetzwerk ins heutige Nigeria erschlossen.
Bereits 1876 gründete er mit seinem Geschäftspartner John Witt, der Hamburg zuvor als Konsul in Ostafrika und Sansibar vertreten hatte, die Ex- und Importfirma Witt & Büsch. Das Unternehmen spezialisierte sich auf den Handel mit Palmherzen und unterhielt mehrere Niederlassungen auf dem Gebiet des heutigen Nigeria. Ein Liniendienst mit zwei Dampfern, der zwischen Lagos, Marseille und Hamburg verlief, verschiffte regelmäßig Waren und Mitarbeitende der Firma Witt & Büsch. Mit der Metropole, die heute knapp 14 Millionen Einwohner zählt, hatte das damalige Lagos nicht viel gemein. Eine Eisenbahn- und Telefonanbindung sowie elektrische Straßenbeleuchtung gab es beispielsweise erst ab 1886.
Trotz der regelmäßigen Verbindung besuchte Oscar Theodor Büsch jedoch nie seine Niederlassungen in Afrika. Der Grund: das strapaziöse Klima. Es ist daher davon auszugehen, dass die Maske von einem seiner Mitarbeiter nach Hamburg gebracht wurde. 1891 starb Büsch nach kurzer, schwerer Krankheit mit nur 40 Jahren. Bis seine Ehefrau die Maske dem Museum stiftete, sollten weitere 43 Jahre verstreichen.
Nicht jedes Rätsel kann gelöst werden
Wie genau die Gelede-Maske nach Hamburg kam, kann Dau auch nach seiner Forschung noch nicht sagen. „Man findet leider nur bei sehr wenigen Objekten eindeutige Quellen, die umfassend und detailliert über den Erwerbskontext informieren.“ Er steht deshalb im Austausch mit zwei nigerianischen Forscher:innen vor Ort. Ein Archivrechercheur und eine Field-Workerin untersuchen in Nigeria historische Dokumente und fahren an ehemalige Handelsorte Hamburger Firmen. Wöchentlich berichten sie Dau via Videokonferenz von ihren Einschätzungen und Fortschritten – so auch im Fall der Gelede-Maske.
Dass deutsche Unternehmen in und um Lagos Menschen ihrer Kulturgüter beraubt und als Zwangsarbeiter:innen ausgebeutet haben, gilt als erwiesen. Was aber genau mit der Maske passierte, konnten auch die Forscher:innen vor Ort nicht final klären. „Meine Kolleg:innen in Nigeria sagen, dass die Maske durchaus eine Schenkung von Mitgliedern der Yoruba an einen Mitarbeiter von Witt & Büsch gewesen sein kann“, erklärt Dau. Es sei jedoch ebenso denkbar, dass sie in einem Unrechtskontext entwendet wurde. Nicht selten enden seine Forschungen so – mit der transparenten Aufklärung des Ungewissen.
Zeitgemäßer Austausch
Ob nach abgeschlossener Forschung schließlich die Restitution eines Objektes stattfindet, hängt von verschiedenen Faktoren ab. „Unsere Aufgabe ist es, nachvollziehbar und umfassend über die einzelnen Objekte aufzuklären“, sagt Dau. Für Rückgaben brauche es aber immer auch einen Dialog mit den Personen, die Objekte zurückfordern. Das MARKK ist offen und bereit für den Austausch: Aktuell digitalisiert es seinen kompletten Museumsbestand und arbeitet mit der Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, die bei der Kulturstiftung der Länder angesiedelt ist, zusammen. Die Kontaktaufnahme für Interessierte soll so in Zukunft erleichtert werden. Die letzte Instanz im Restitutionsprozess ist dann die Stadt Hamburg. Als Träger des Museums entscheidet sie final über die Rückführung von Sammlungsgut.
Bezüglich der Gelede-Maske gab es bisher keine Rückgabeforderungen. Sie wird weiterhin im „Zwischenraum“ ausgestellt bleiben. Dort soll die Maske über Provenienzforschung an Kulturgütern mit Kolonialgeschichte informieren und zu „Austausch, Aufbruch, Ausruhen und Widerspruch – und alles, was dazwischen liegt“ einladen. „Es gibt in unserer Sammlung Objekte, die eine große Bedeutung für die Erinnerungskultur in den ehemaligen Kolonialgebieten haben“, sagt Dau. Er wird auch in Zukunft daran arbeiten, über diese aufzuklären, um die Basis für einen zeitgemäßen Austausch zu schaffen. Sein Forschungsprojekt wurde grade für zwei Jahre verlängert.
Literaturquellen:
Oscar Theodor Büsch, Ein Hamburger auf Weltreise, 1874-1875, Verlag Hanseatischer Merkur, 1998
Ernst Hieke, 100 Jahre Handel mit Nigeria, Hoffmann und Campe, 1949
Informationen für Rechteinhaber:
Die Bildrechte aus Ernst Hiekes Buch liegen nicht mehr beim Verlag Hoffmann und Campe. Da es nicht gelang, die Erben der Urheber ausfindig zu machen, besteht die Bitte, dass diese sich unter diko@haw-hamburg.de melden.
Foto: Ole-Jonathan Gömmel