Street-Art wird häufig als Vandalismus verschrien. Doch was bewegt Künstler:innen dazu, ihre Werke illegal und unentgeltlich an öffentliche Wände zu bringen? Vier Größen der Hamburger Street-Art-Szene erzählen von ihren Anfängen und ihrer Motivation.

Text und Fotos: Moritz Löhn und Luna Twiesselmann

Es ist ein sternenklarer Dezemberabend. Bei eisiger Kälte läuft eine Frau durch die Schanze. Klacker. Klacker. Klacker. Sie schaut sich um. Klacker. Klacker. Klacker. Dieses eigenartige Geräusch kommt von ihrem Werkzeug: dem Acryl-Marker. „Das sind keine Eddings. Das ist nochmal ´ne Kategorie härter. Die halten besser.“ Die Street-Art-Künstlerin maens ist bekannt im Schanzenviertel. Seit 2005 malt sie ihre unverwechselbaren Figuren an die Wände. Man muss nur mit offenen Augen durch die Straßen laufen, an jeder Ecke findet sich ein sogenannter maen.

Dieser Beitrag ist im Rahmen des Bachelor-Projektseminars „Digitale Kommunikation“ an der HAW Hamburg entstanden. Mehr zu den Autor:innen findet ihr unten.

Der gleiche Tag, zwölf Stunden zuvor. Es herrscht geschäftiges Treiben am Obststand vor dem Sternschanzenbahnhof. Es sind minus zwei Grad und keine Wolke ist am Himmel. Der Lärm der Großstadt füllt die kalte Luft. Kurz nach neun Uhr trifft ein Mann mit schwarzer Maske ein. Er trägt eine rote Wollmütze, bunte Sneaker und einen bunten Rucksack: Marshal Arts. Er lächelt unter seinem Mundschutz.

Street-Art: Ein Gegenentwurf zur Werbung

Marshal macht Paste-ups. Das sind Plakate, die mit Kleister an die Wand geklebt werden. Seine Werke sind aber keine gewöhnlichen Plakate. Der 38-Jährige arbeitet mit ausgeschnittenen Figuren. „Paste-ups kann man halt wieder wegmachen. Das ist Wildplakatierung. Wenn man erwischt wird, wird das anders bewertet, als wenn man direkt an die Wand malt.“ Der Familienvater ist seit 2011 als Künstler auf Hamburger Straßen unterwegs.

„Ich habe damals angefangen, Street-Art als Gegenentwurf zur Werbung zu machen. Die ist ja überall und die wird auch akzeptiert. Egal ob sie gefällt oder nicht.“ Zwei Arbeiter der Stadtreinigung zerren scheppernd schwarze Mülltonnen Richtung Straße. Marshal biegt in die Einfahrt des 3001 Kinos in der Schanzenstraße ab und zeigt auf ein Paste-up, das in einer Ecke hinter grünem Metallgitter versteckt ist. Eine Frau im beigen Overall, mit weißen Stiefeletten und einem Weltraumhelm hängt an der Wand. „Das sieht man nicht sofort. Das finde ich ein bisschen spannender. Damit die Leute die Stadt nochmal aus einem anderen Blickwinkel entdecken können.“

Bei maens stand vor 16 Jahren – damals war sie Ende 20 – bei ihren ersten Figuren weniger die Ideologie im Vordergrund. „Ich habe überhaupt keine Ahnung mehr, was die Motivation war.“ Alles begann mit einer Telefonkritzelei, die ihre Finger immer wieder zu Papier gebracht haben. „Ich hatte nie die Intention, damit auf die Straße zu gehen. Es ist halt irgendwann passiert“, sagt sie schulterzuckend.

Street-Art von maens im Hamburger Schanzenviertel
Street-Art von maens im Hamburger Schanzenviertel | Foto: Moritz Löhn, Luna Twiesselmann

Street-Art bietet Raum für Interpretation

Sie wartet darauf, dass ein paar Leute vor einem Hauseingang verschwinden. „Vielleicht ist es egal, dass die da sitzen und ich mach das jetzt einfach.“ Sie schaut sich kurz um und zeichnet im Dämmerlicht des Hauseingangs mit ihrem schwarzen Marker einen verblichenen Maen nach.

Als sie schon dabei ist zu gehen, spricht sie ein Mann an, der gerade noch telefonierend an der Tür lehnte. In gebrochenem Deutsch erklärt er, dass die Figur für ihn seinen Vermieter symbolisiert, der ihn jederzeit rausschmeißen könnte. Seine düstere Interpretation stimmt nicht mit der Intention der Künstlerin überein. „Für mich symbolisieren die maens auf jeden Fall Weltoffenheit. Und obwohl sie nur schwarz-weiß sind, stehen die für ein buntes Miteinander. Für Akzeptanz, Toleranz und Respekt.“

Ein Ansatz, den die Künstlerin Marambolage ein paar Wochen später in ihrem Atelier im Karoviertel in ähnlicher Weise formuliert. Es ist mittlerweile Januar, draußen ist es noch immer kalt und es ist bereits dunkel. Die Werkstadt der Künstlerin ist gut geheizt und hell erleuchtet. Sie sitzt vor einem Holztisch, der mit Kritzeleien, getrocknetem Kleber und Farbspritzern übersäht ist. An den Wänden hängen Lichterketten und eine Sammlung übriggebliebener Werke: pinke Pappwolken, ein Peace-Zeichen aus Plastikbällen und ein alter Kaugummiautomat mit versteckten Leuchtelementen, die ihre Farbe wechseln.

Beleuchteter und beklebter Kaugummiautomat im Atelier von Marambolage
Beleuchteter und beklebter Kaugummiautomat im Atelier von Marambolage | Foto: Moritz Löhn, Luna Twiesselmann

Positive Vibes in der gesetzlichen Grauzone

2013 ist Marambolage mit Mitte 30 nach Hamburg gezogen und seitdem macht sie auch Street-Art. „Ich habe Pappteller für Freunde gebastelt. Die wollte ich eigentlich wegschmeißen, aber dann hab‘ ich die einfach an Wände geklebt.“ Und plötzlich war sie im Internet bekannt. Seitdem hat sie ihr Repertoire deutlich erweitert. Sie sucht in einer Kiste nach ihren Aufklebern und breitet sie auf dem Tisch aus. Insbesondere ihr einäugiges, gelbes Monster mit zwei Hörnern, das immer ein Lächeln im Gesicht hat, schmückt die Straßen ihrer Wahlheimat. „Ich möchte gern den Alltag aufhellen und verarbeite da auch oft meine Probleme. Bei den Monstern ist alles sehr positiv. Die helfen sich gegenseitig.“

Sie möchte die Menschen zum Lächeln bringen. Besonders Kinder will Marambolage anstecken. „Ich hatte selbst keine gute Kindheit. Immer wenn‘s mir schlecht ging, hab‘ ich gebastelt oder gemalt.“ Aus diesem Grund engagiert sie sich heute in Projekten, die Menschen die Möglichkeit geben, Kunst zu machen. Auch denjenigen, die eigentlich keinen Zugang dazu haben. „Street-Art erreicht für mich die Menschen, die ich erreichen möchte.“ Dabei, erzählt sie mit einem Lachen, gefalle ihr der illegale Akt des Anbringens ihrer Kunst eigentlich gar nicht. Außenstehende könnten vielleicht denken, das mache einen Teil des Reizes aus. Aber Marambolage ist nicht die Einzige, die von ihrem Unbehagen berichtet.

Adrenalin für die Jüngeren

„Dieses Adrenalin, das ist nicht meins“, erzählt ein paar Tage zuvor Andreas Jakobs, Künstlername mittenimwald. Der studierte Grafiker steht mit Maske in seinem kleinen Atelier in Hohenfelde. An den Wänden stehen überfüllte Regale mit Spraydosen, Kartons und Schablonen. Andreas möchte eines seiner größeren Werke zeigen. Hinter einem Vorhang versucht er, es hervorzuholen. Nach ein paar Versuchen gibt er sich dem Durcheinander geschlagen und entscheidet sich entschuldigend für ein paar kleinere Bilder.

Künstler Andreas Jakobs in seinem Atelier
Künstler Andreas Jakobs in seinem Atelier, Künstlername mittenimwald | Foto: Moritz Löhn, Luna Twiesselmann

Der 50-Jährige ist mittlerweile nur noch selten als Künstler auf der Straße unterwegs. Es sei einfach nicht seine Art. Auch, weil er ständig erwischt wird. Auf dem riesigen Werkstatttisch liegt ein Strafbefehl, der vor kurzem bei ihm im Briefkasten lag: „Das ist vom 2. November. Androhung von 25 oder 50.000 Euro.“ Es wurden letztendlich nur 114 Euro, aber „auf diese Spielchen“ habe er nie Lust gehabt. Das überlasse er den Jüngeren.

Wenn ein Vegetarier beim Metzger arbeiten muss

Mit Marambolage verbindet ihn neben der Kunst noch die gleiche berufliche Vergangenheit. Beide verdienten ihr Geld bis vor einigen Jahren in der Werbeindustrie. „Das ist wie, wenn ein Vegetarier beim Metzger arbeitet“, sagt Marambolage. Die Welt der Reichen und Schönen war den beiden Vollblutkünstler:innen irgendwann zuwider. „Es war wirklich nur Klischee, Klischee, Klischee“, sagt Andreas. Da wollte er mit seiner Street-Art gegenarbeiten. „Weil die Werbung mich einfach genervt hat.“ Seine Werke sind noch heute Parodien auf Werbeplakate. Davon kann er inzwischen leben. Genau wie Marambolage, die mit verschiedenen Kunstprojekten ihren Lebensunterhalt verdient.

Bei Marshal und maens sieht es anders aus. Sie verdienen nur nebenbei Geld mit ihrer Kunst. Aber Marshal denkt zumindest über das Leben als hauptberuflicher Künstler nach. „Warum sollte ich überhaupt etwas anderes machen, wenn ich doch eigentlich voll darin aufgehe?“ Fragt er sich manchmal, wenn es gerade gut läuft. Er begutachtet eine Wand neben dem „Berliner Betrüger“, stellt seinen Rucksack auf den Boden und zieht ein Paste-up heraus. „Wenn ihr auf einmal wegrennt, dann weiß ich, dass die Polizei kommt.“

Anbringen eines Paste-ups, Künstler Marshal Arts
Marshal Arts bringt sein Paste-up an | Foto: Moritz Löhn, Luna Twiesselmann

Der goldene Affe mit dem riesigen Smartphone erweist sich als widerspenstiges Kunstobjekt. Der Kleister hält bei der eisigen Kälte nicht richtig und Marshal muss immer wieder über das sich aufrollende Papier streichen. Irgendwann hängt der Affe endlich. Auf dem Rückweg zum Bahnhof spricht Marshal in seiner ruhigen Art von Straßenkunst als anthropologisches Phänomen. Die Tour ist fast vorbei. Hat er noch abschließende Worte? „Kauft meine Kunst“, sagt er lachend. Dann wird er philosophisch: „Es ist immer cool, seine Spuren zu hinterlassen. Das ist in jedem Menschen drin. Um zu sich selber zu sagen: Ich existiere. Ich bin da. Nehmt mich wahr.“

Moritz Löhn, auch Mo genannt und 1996 in der Nähe von Buxtehude geboren, stand schon mit drei Jahren auf dem Fußballplatz. 20 Jahre und zwei Kreuzbandrisse später hing er die Fußballschuhe an den Nagel und zog auf die andere Elbseite nach Hamburg. Seitdem studiert er Medien und Information an der HAW, sammelte bereits redaktionelle Erfahrungen beim Münchner Sender „Sport1“ und als Autor für das junge Hamburger Magazin „Freihafen“. In seiner Freizeit ist er treuer Werder Bremen Fan, reist mit Jugendlichen in Zeltlager nach Dänemark und nahm schon seinen eigenen Podcast auf. Wenn Fußball seine eine Leidenschaft ist, so sind Bücher die andere. Mo hat stets ein Buch zur Hand und liest am liebsten Heinz Strunk. Im Moment schreibt er sogar selbst an Einem, weiß aber nicht, ob das was wird. Sicher ist, dass er mit dem Master in Digitale Kommunikation anschließen und Journalist werden will. Mo bei Instagram und bei Twitter.

Luna Twiesselmann ist 1994 in Hamburg geboren. Fast ein Drittel ihres Lebens spielte sie die Bratsche. In den vergangenen Jahren hat sie ihre Zeit jedoch vorrangig mit ihren zwei Söhnen verbracht. Der Vollzeitjob Mutter ließ das Studium Medien und Information an der HAW-Hamburg in den Hintergrund treten, jetzt will sie ihren Bachelor abschließen. Während ihres Studiums hat sie ihre Affinität für den Journalismus entdeckt. Ihr bisheriges Highlight: Sie führte eines der letzten Interviews mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano – zwei Wochen später starb die beeindruckende Frau. Statt Bratsche spielt Luna in ihrer Freizeit jetzt mit ihren Söhnen Tempo kleine Schnecke oder Mensch ärgere dich nicht (der Große ärgert sich immer) oder sie geht auf Schnäppchenjagd bei Ebay-Kleinanzeigen.