Nur eine Glasscheibe trennt das Publikum von entsetzlichen Taten und einer überforderten Justiz: Das Theaterkollektiv Pierre.Vers greift einen der aufwendigsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte auf. Einen aktuellen Bezug liefert dieser Tage das Urteil gegen die KZ-Sekretärin Furchner.
Titelbild: Ralf Puder
Das Publikum sitz in einem dunklen Raum und schaut auf eine milchig leuchtende Glasscheibe. Wie ein Vorhang trennt sie Bühne und Zuschauerraum. Auf Anraten des Regisseurs Christof Seeger-Zurmühlen tragen die Zuschauer*innen Kopfhörer. Das Licht geht an, die Glasscheibe klärt sich – und sichtbar wird eine Gerichtssituation.
Theatrale Erinnerung an die NS-Verbrechen
Die Richterin sitzt in der Mitte, rechts die Angeklagten und ihre Verteidigung, links die Zeug*innen und die Staatsanwaltschaft. Der Prozess beginnt. Die Schauspieler*innen tragen Headsets, ihre Worte werden in die Kopfhörer der Zuschauer*innen übertragen. Man könnte sie ohne die technische Unterstützung nur schwer hinter dem Glas verstehen. Die Scheibe ist ein szenisches Element. Die Stimmen klingen durch die Kopfhörer sauber und nah. Die Bühne wird zum hochauflösenden Fernseher.
In ihrem aktuellen Stück „Im Process – ein performativer Akt zu Majdanek III”, beschäftigt sich das Kollektiv Pierre.Vers mit dem Gerichtsprozess gegen die Täter*innen des Vernichtungslagers Majdanek. Das Stück basiert auf den Gerichtsprotokollen und anderen historischen Dokumenten. Das Stück verdichtet die Zeug*innenaussagen und Rechtfertigungen der Täter*innen – ohne raffinierten Spannungsbogen oder eindrucksvolle dramaturgische Elemente. Die nüchterne Darstellung des Gerichtsprozesses lässt das Leid der Toten und Überlebenden in den Vordergrund rücken.
Seit 2019 erinnert Pierre.Vers künstlerisch an die Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Das Düsseldorfer Theaterkollektiv war vom 17. bis 19. November im Hamburger Lichthoftheater zu Gast. Mit dem Konzept der sogenannten Historification bringt es geschichtliche Begebenheiten, Dokumente oder Zeugenaussagen verdichtet auf die Bühne: In ihrem Stück „Schwarz-helle Nacht” geht es etwa um Zeitzeug*innenberichte der Reichsprogromnacht, in „Aktion:Aktion” um zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen das Naziregime.
Die Verurteilung der heute 97-jährigen Irmgard Furchner im Dezember 2022, die im KZ Stutthof als Sekretärin arbeitete und nach Ansicht des Landgerichts Itzehoe während ihrer Tätigkeit wusste, welche Gräueltaten den Gefangenen dort angetan wurde, gibt dem Theaterstück einen aktuellen Bezug.
„Die gut gesetzten Verschnaufpausen lassen den Horror vorbeiziehen, ohne ihn zu verscheuchen.“
Eine wichtige Perspektive im Stück ist die eines Teenagers: Pablo Vuletić spielt den jungen Gerrit Niehaus, der mit seiner Schulklasse dem Prozess beiwohnt. Immer wieder friert das Geschehen ein, um von Gerrit kommentiert zu werden. Die Figur des schockierten Jungen führt durch die Vorstellung. Geririt steht vor der Scheibe, auf der Seite des Publikums. Er setzt den Schilderungen der rohen Gewalt, den menschenverachtenden Zuständen im Lager im deutsch besetzten Polen eine Haltung entgegen: Die Taten von Majdanek sind entsetzlich und schwer zu fassen. Gerrit liefert eine Sprache für Schilderungen, die eigentlich sprachlos machen.
Gerrit Niehaus (Pablo Vuletić) kommentiert den Gerichtsprozess. Foto: Ralf Puder
78.000 Menschen wurden in Majdanek ermordet. Die Regisseur*innen Christof Seeger-Zurmühlen und Juliane Hendes betreiben theatrale Erinnerungskultur und konkretisieren den Horror hinter der abstrakten Zahl. Die Schilderungen der Überlebenden von Majdanek konfrontieren das Publiukum mit den Perversionen des nationalsozialistischen Regimes: Täter*innen schmissen Kinder vor den Augen ihrer Mütter auf Ladeflächen von Transportern – und nannten dies eine Kinderaktion. Die Überreste der verbrannten Menschen wurden auf den umliegenden Feldern als Dünger verteilt. In Erinnerung blieb den Angehörigen der prachtvolle Weißkohl, der unter der Asche der Toten heranwuchs.
Die Glasscheibe vertrübt sich. Die Schauspieler*innen verschwinden, ihre Stimmen weichen sanfter Klaviermusik. Eine Illustration erscheint auf der Scheibe: ein winterlicher Waldrand mit Singvögeln und Raben. Eine Silhouette blickt in die Ferne, ihr Blick fällt über das verschneite Feld. Am Ende des Feldes sieht man die funktionalen Lagergebäude und den gespenstischen Schornstein des Lagers Majdanek. Das verschneite Feld, die ruhige Musik, die untermalte Stille: Die gut gesetzten Verschnaufpausen lassen den Horror vorbeiziehen, ohne ihn zu verscheuchen.
Selbstgerechte Massenmörder
Pierre.Vers zeigt in „Der Process” selbstgerechte Täter*innen auf der Anklagebank: 30 Jahre nach Kriegsende führen sie ein bürgerliches Leben. Mit dem Vorwurf kaltblütige Massenmörder*innen zu sein, können sie nichts anfangen. So gibt sich SS-Hauptsturmführer Hermann Hackmann – gespielt von Krzysztof Leszczynski mit verschränkten Armen – demonstrativ genervt. Warum es denn sein müsse, dass die Deutschen immer in ihrer Vergangenheit herumstochern. Das Stück zeigt hier eindrucksvoll, wie träge Justiz und bürgerliche Mitte, wie mühsam der Kampf für Aufklärung und Gerechtigkeit im Nachkriegsdeutschland waren.
Das Theaterstück zeigt auch, wie quälend der Prozess für die Überlebenden gewesen sein muss. Zum Beispiel, als es um den Selbstmord eines Mädchens geht, das sich in Majdanek erhängt hat: War es nun ein Hocker oder ein Schemel, von dem das Mädchen gesprungen ist, als es sich erhängte? War das Seil geknotet oder hing es an einem Haken? Dem Anwalt der Angeklagten ist jedes Mittel recht, um den Prozess zu verschleppen und die Zeug*innen zu verunsichern. Paul Jumin Hoffmann verkörpert den Anwalt Ludwig Bock, wie man sich einen studierten Nazi vorstellt: schneidig, kaltblütig und opportun.
Am 30. Juni 1981, fast sechs Jahre nach Prozessbeginn, werden endlich die Urteile verkündet. Die Haftstrafen erstrecken sich über teils nur wenige Jahren. Einzig Hermine Braunsteiner-Ryan, genannt „die Stute”, wurde wegen gemeinschaftlichem Mordes an 100 Personen zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihren Spitznamen bekam sie, weil sie mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln auf Häftlinge eintrat. Hildegard Lächert, genannt „blutige Brigitte”, war in Majdanek für ihre Wutausbrüche gefürchtet. Sie wurde zu zwölf Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord in 100 Fällen verurteilt. Ein Großteil der Angeklagten kam mit Haftstrafen von 3,5 bis 6 Jahren davon.
Wie gerecht können Strafen sein?
Die Urteile machen das deutsche Justizsystem im In- und Ausland zum Gespött. Pierre.Vers zeigt hier eine zunehmend zermürbte Richterin und ein Justizsystem, das keine geeignete Antwort auf die organisierten Verbrechen in Majdanek findet. Das Geschehen auf der Bühne endet nüchtern. Das demokratische Justizsystem hat keine Sprache für systematische Völkermorde. Es scheitert mit dem Versuch, die Taten zivilrechtlich nachzuweisen und angemessen zu bestrafen. So bleibt dem Publikum nur folgender Trost: Recht ist im Einzelnen ungerecht, weil es ein höheres Gut vertritt: die Verfassung. Keine sehr befriedigende Antwort. Die Öffentlichkeit kann die Gerichtsprozesse zwar verfolgen, bleibt aber von ihnen abgeschottet – wie hinter einer Glasscheibe.
Das Stück „Im Process – ein performativer Akt zu Majdanek III“ ist aktuelle nicht in Hamburg zu sehen. Auftrittstermin veröffentlicht das Theaterkollektiv auf ihrer Homepage.