Die Nachbarschaft besteht aus vielen Single-Wohnungen, der ältere Mann gegenüber lebt allein: Gemeinschaft schaffen, wo viele vereinzelt leben – das ist die Idee hinter Mehrgenerationenhäusern. Wie solche Orte funktionieren und wo es sie in Hamburg gibt.
Text und Fotos: Jacqueline Kurjahn
Mittwoch, 14 Uhr, Mehrgenerationenhaus „Nachbarschatz“ in Eimsbüttel: Es duftet nach Kaffee. Ein junger Mann sitzt an einem Tisch in der Ecke. Vor ihm ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee. Er isst allein. Ein Tisch weiter sitzt ein älterer Herr mit weißen Haaren und Brille, ebenfalls mit Kaffee und Kuchen – ebenfalls allein. Seine schwarze, warme Steppjacke hat er noch an. Wo man an diesem Ort eigentlich einen Austausch zwischen den Generationen erwartet, passiert: nichts. Als Kuchen und Kaffee gegessen sind, steht der junge Mann auf. Er bringt sein Geschirr weg, unterhält sich kurz mit den Frauen in der offenen Küche und geht. Der ältere Mann macht es ihm wenige Minuten später nach. Es scheint, als wären sie nur für ein Stück Kuchen am Nachmittag gekommen – nicht, um sich untereinander auszutauschen.
Doch sie sind nicht die einzigen im Café des Mehrgenerationenhauses. Einige bleiben länger, so auch Dagmar Engels. Im offenen Treff verbringt die 73-Jährige viel Zeit. Vor über 30 Jahren hat sie gemeinsam mit Susanne Meyer und der ausgebildeten Heilpädagogin Sabine Eilers dieses Haus gegründet – damals noch als Mütterzentrum, ein Ort des Austauschs. Heute ist es eines von sechs Mehrgenerationenhäuser in Hamburg, über 530 davon gibt es in Deutschland. Dabei meint Mehrgenerationenhaus hier nicht: Verschiedene Generationen wohnen unter einem Dach. Es ist lediglich ein Treffpunkt für tagsüber, eben wie in einem großen Wohnzimmer.
„Miteinander – Füreinander“, doch es fehlen Generationen im Mehrgenerationenhaus
Entstanden sind Mehrgenerationenhäuser in Salzgitter. Dort gründete Hildegard Schooß das deutschlandweit erste Mütterzentrum. Ursula von der Leyen (CDU), damals noch niedersächsische Sozialministerin, gefiel das Projekt. Im Jahr 2006 startete mit ihr als Bundesfamilienministerin dann das erste Aktionsprogramm. „Jung hilft Alt, Alt hilft Jung“, bringt Engels das Konzept auf den Punkt. Es folgte das zweite Aktionsprogramm sowie 2017 das Bundesprogramm „Mehrgenerationenhaus“. Ebenso wie die Programme aus der Vergangenheit fördert das aktuelle Bundesprogramm „Mehrgenerationenhaus. Miteinander – Füreinander“ seit 2021 die Begegnungsstätten mit jeweils 40.000 Euro im Jahr durch Bund und Länder.
Doch das Geld reiche nicht aus und müsse jedes Jahr neu beantragt werden, so Engels. Die Häuser sind deshalb mischfinanziert. So finanziert sich das „Nachbarschatz“ vor allem über die Kita, Projektgelder und die eigentliche Arbeit als Mütterzentrum. Laut dem Programm, welches noch bis 2028 läuft, sollen mit den Mehrgenerationenhäusern verschiedene Ziele und Aufgaben verfolgt werden. Unter anderem, dass Besucher*innen ihren Beruf besser mit ihrer Familie oder der Pflege von Angehörigen vereinbaren können. Aber auch die Integration von Migrant*innen in die deutsche Gesellschaft und die Gestaltung einer jugendgerechten Gesellschaft gehören dazu – so auch generationsübergreifende Angebote. Doch diese sind nicht immer einfach umzusetzen. Die Erfahrung macht auch Engels.
„Dass hier auch mal verschiedene Generationen an einem Tisch sitzen, sich kennenlernen, miteinander sprechen und sich austauschen und vielleicht auch helfen, das passiert hier derzeit nicht“, erzählt sie. Sie selbst wünsche es sich aber sehr. Engels vermisst die Zeiten, an denen die Schulkinder noch in das Mehrgenerationenhaus kamen und sie alle zusammen Spiele gespielt haben: „Erst waren dann die Schulkinder weg aufgrund der Ganztagsschulen und dann kam Corona.“ Es sind vor allem Familien mit Kindern im Haus. Wer keine Kinder hat, gehe Vollzeit arbeiten, berichtet Engels. Für ein Besuch oder Ehrenamt im Mehrgenerationenhaus bliebe dann oftmals keine Zeit. „Ich hoffe, dass das wiederkommt, aber es ist schwer. Man kann die Menschen nicht irgendwie herbringen, sie müssen freiwillig kommen. Viele wollen auch einfach lieber unter sich bleiben“, erzählt die gelernte technische Zeichnerin. Das „Nachbarschatz“ konzentriert sich also auf andere Angebote und hilft den Menschen dort, wo sie Hilfe benötigen. Eines dieser Angebote ist der Treff für ukrainische Frauen.
„Unterhaltung! Das finde ich am besten!“
Es wird laut im offenen Treff des „Nachbarschatz“. Sieben Kinder laufen an den bunt zusammengewürfelten Tischen und Stühlen vorbei. Sie lachen, sind fröhlich und haben keine Scheu vor fremden Menschen. Es sind die Kinder von ukrainischen Frauen, zwei der Mütter sind gehörlos. Hier im Mehrgenerationenhaus in Eimsbüttel treffen sie sich regelmäßig, um sich zu unterhalten, auszutauschen und sich von Dagmar Engels und ihren Kolleginnen die Hilfe zu holen, die sie in ihrem neuen Leben in Deutschland brauchen. Dieses Mal benötigt eine Frau Unterstützung beim Ausfüllen eines Behördenformulars. Engels geht das Papier langsam mit ihr durch. Derweil werden zu den bunten Blumen Kekse, Obst und Getränke auf den langen Tisch gedeckt.
Eine von den ukrainischen Frauen am Tisch ist Vera. Vor knapp einem Jahr ist die 47-Jährige aus der Nähe von Kiew mit ihren vier Kindern nach Deutschland geflüchtet. Auf das „Nachbarschatz“ ist sie durch die Kita aufmerksam geworden, die über dem offenen Treff in den oberen Etagen des Altbaus ist. Seitdem besucht sie regelmäßig das Mehrgenerationenhaus. Für sie sei es mittlerweile wie eine Familie. „Unterhaltung! Das finde ich am besten“, sagt Vera und lächelt. Die geflüchteten Frauen sitzen zusammen mit Dagmar Engels und Sabine Eilers am Tisch und sprechen miteinander – auf Deutsch, in ihrer Muttersprache und mithilfe einer Dolmetscherin auch in Gebärdensprache. „Ich war beim ersten Treffen so überrascht zu sehen, dass die Leute so viel Zeit investieren, nur um über alles zu sprechen, auch über Probleme“, sagt Vera.
Die jungen Leute fehlen in den Mehrgenerationenhäusern
Szenenwechsel. Am Hamburger Stadtrand, weit entfernt vom trubeligen Leben der Sternschanze, ist das Café im Mehrgenerationenhaus „Haus am See Hohenhorst“ gut besucht. An diesem Tag treffen sich im „Café Digital“ verschiedene Generationen. Auf dem Tisch liegen iPads und ihre Originalverpackungen. Ein Junge schaut auf eines der Tablets. Gehalten wird es von einem älteren Mann. Der 16-jährige Qais zeigt auf den Bildschirm und hilft dem Mann beim Bedienen seines Tablets, so wie jede Woche. Langsam tippt der Rentner auf den Bildschirm und wartet ab, was passiert.
Die Senior*innen würden sich freuen, dass sich jemand Zeit für sie und ihre Probleme mit der Technik nehme, erzählt Qais. Von seinen Freund*innen komme allerdings niemand in das Mehrgenerationenhaus, er auch nur für das „Café Digital“. André Braun, stellvertretender Leiter des Hauses, kennt den Grund für die fehlenden Jugendlichen im „Haus am See“: Bevor das Haus entstand, seien alle Einrichtungen im Stadtteil angesprochen worden, ob man es sich vorstellen könne, in das Haus mit einzuziehen. „Und da war der einheitliche Tenor: ‚Ne, wir wollen für die Jugendlichen ein eigenes Angebot machen‘“, sagt Braun. Im „Haus am See“ sind viele Initiativen unter einem Dach: So zum Beispiel die Elternschule, eine Kita und Beratungsstellen. Doch die speziellen Angebote für Jugendliche im Stadtteil sind separat – so kommen sie kaum hier her. „Das ist auch eigentlich nie der Anspruch von einem Mehrgenerationenhaus gewesen, dass man wirklich jeden Jahrgang bewusst anspricht. Das Café ist ja für alle offen und ansonsten ergänzen wir uns mit den Einrichtungen, die im Umkreis sind“, so der 57-Jährige.
Der U99-Treff bleibt bei Kaffee und Kuchen im Café
Eine weitere Gruppe sitzt an einem Tisch im Café „Horst & Friends“ im „Haus am See“ am Hamburger Stadtrand. Neben der Kita, Veranstaltungs- und Beratungsräumen ist das Café als offener Treff der zentralste Ort des Hauses. Heute trifft sich hier der U99-Treff. Zu diesem sind alle Generationen unter 99 Jahren eingeladen. Doch geprägt ist er von Senior*innen. „Die jungen Leute müssen ja auch arbeiten“, sagt eine ältere Dame am Tisch. An diesem Tag wollten die Sechs eigentlich gemeinsam draußen Boule spielen. Doch das Hamburger Schietwetter lässt dies nicht zu. Der U99-Treff bleibt also lieber bei Kaffee und Kuchen im Café. „Wir machen es uns schon gemütlich“, erzählt eine andere Frau. Sie alle kommen gerne ins „Haus am See“, um in Gemeinschaft sein zu können.
Mehrgenerationenhäuser können eben auch ein Ort gegen die in Deutschland stark vorhandene Einsamkeit sein. Ergebnisse aus dem Sozial-oekonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin und der Universität Bielefeld von 2021 zeigen, dass sich besonders während der Corona-Pandemie immer mehr in Deutschland lebende Personen einsam fühlen. Auf diese Ergebnisse bezieht sich auch das Familienministerium im Rahmen ihrer „Strategie gegen Einsamkeit“. Eins der sieben Projekte der Bundesregierung gegen die zunehmende Einsamkeit ist dabei das der Mehrgenerationenhäuser. „Die wenigsten kommen hier allerdings ins Haus und sagen: ‚Ich bin einsam‘“, sagt Braun. „Sich ins Café zu setzen, ist da viel einfacher und ein guter Zugang.“
Der U99-Treff geht langsam zu Ende, doch das Café am Hamburger Stadtrand leert sich noch nicht. Essensduft kommt auf. Eine ukrainische Frau hat selbstgebackenen Rhabarberkuchen mitgebracht. Eine andere ein ukrainisches Nationalgericht. Kartoffelsuppe gibt es ebenfalls. Das wöchentliche Familienbuffet steht an. Bei dem Buffet sind alle eingeladen: ob Jung oder Alt, mit Kindern oder ohne Kinder. „Ich wünsch mir einen richtigen Mix, dass wirklich alle da sind und voneinander profitieren können“, sagt Martina Sinnen. Die 54-Jährige organisiert das Treffen. Dabei kommen jede Woche andere Familien zu Besuch. An diesem Tag ist neben den multikulturellen Familien auch eine ältere Dame dabei. Sie ist zum ersten Mal beim Familienbuffet. So sitzen nun mehrere Generationen an einem Tisch. Die Gemeinschaft beim Essen sei dabei am schönsten, erzählt eine ukrainische Frau.
Auch wenn sich in Mehrgenerationenhäusern wie dem „Nachbarschatz“ oder „Haus am See“ nicht immer mehrere Generationen zeitgleich treffen, sind es Orte, an denen sich verschiedene Menschen begegnen. Es wird versucht, ihnen dort zu helfen, wo sie Hilfe benötigen. „Die Familien haben so viele und so große Probleme“, erzählt Sinnen. Dass diese Hilfe auch funktioniert, davon berichtet Dagmar Engels stolz: „Es ist nicht nur vorübergehendes Helfen, sondern wir bleiben an den Menschen dran. Die eine Frau zum Beispiel, die in der Küche arbeitet, ist mit Depressionen gekommen.” Nun gehe es ihr besser. “Wir richten hier die Menschen auf und das finde ich so toll.“ Und auch wenn mancher nur für Kaffee und Kuchen in das Mehrgenerationenhaus kommt, so ist es für andere ein besonderer Begegnungsort. „Das ist ein Ort, an dem man einfach immer sein kann“, sagt Sabine Eilers.
Jacqueline Kurjahn, Jahrgang 2000, gewann einmal einen Pokal für einen Laufwettbewerb, obwohl sie eigentlich gar nicht daran teilnehmen wollte – sie trat als einzige in ihrer Altersklasse an. Aufgewachsen ist sie in Visbek bei Oldenburg, bis heute organisiert sie dort Ferienlager für Jugendliche. In Salzgitter studierte sie Medienkommunikation. Um die mediale Aufmerksamkeit für unter anderem Start-ups bemühte sie sich in einer kleinen PR-Agentur. Als Werkstudentin setzt sie in der Vermarktungsabteilung der Hamburger Morgenpost Social-Media-Kampagnen für Anzeigenkunden um. Auch privat ist Jacqueline viel auf Instagram unterwegs – als lebendes Newsportal für Promi-Tratsch. (Kürzel: jac)