Auf dem Ohlsdorfer Friedhof liegen Leben und Tod nah beieinander. Jetzt versucht die Friedhofsverwaltung, den Parkcharakter noch stärker zu betonen. Mit Yoga, Bildungsworkshops und Kultur.

Text und Fotos: Jule Ahles

“Warum geben wir den Lebenden Beton, und nur den Sterbenden Grün?” Seitdem sie die Frage irgendwo gelesen hat, kriegt Mira Lynne sie nicht mehr aus dem Kopf. Mira gehört zu den wenigen, die kurz vor Sonnenuntergang noch auf dem Friedhof in Ohlsdorf unterwegs sind. Die untergehende Sonne taucht die Umgebung in gold-orangenes Licht, aber sie ist noch zu schwach, um über die Aprilkälte hinwegzutäuschen. Es ist bis auf das Zwitschern der Vögel still. Unter Miras Fingernägeln hängt Erde von der Arbeit am Grab, sie kennt den Friedhof seit ihrer Kindheit.

Über 200.000 Tote liegen auf dem Gelände im Nord-Osten Hamburgs begraben, auf einer Fläche größer als der Central Park in New York. Über knapp 390 Hektar erstreckt sich der Ohlsdorfer Friedhof. Der Friedhof war nie ausschließlich Beisetzungsstätte, sondern immer auch Park. Bei schönem Wetter sind die Bänke um den Südteich und Rosengarten belegt. Besucher*innen strecken ihre Gesichter in die Sonne, lesen Bücher oder fotografieren die Blumen.

Wenn Mira hier spazieren geht, sei das für sie erdend und friedlich. Ein Ort zum Nachdenken. Läuft man an den asphaltierten Straßen entlang, fällt es fast gar nicht auf, dass der Park ein Friedhof ist. Die Alleen sind gesäumt von alten Bäumen, in zweiter Reihe wachsen die Rhododendren so dicht, dass nur die Mündungen der Schotterwege nach links und rechts einen Blick auf die Gräber freigeben. Kleine Urnengräber mit flachen, am Boden liegenden Grabplatten stehen einige Meter entfernt von Monumenten mit Säulen, Marmor und Engelsfiguren. Manche Grabsteine erheben sich von einer grasbewachsenen Fläche, andere schmiegen sich um halbrund angelegte Rosenbeete oder gliedern sich in ordentlich parallele Reihen.

Park und Friedhof – oder beides!

Architekt Wilhelm Cordes eröffnete den Parkfriedhof 1877 – damals noch weit außerhalb der Stadtgrenze. Platz gab es genügend und Cordes dachte groß. Seine Vision war ein moderner Friedhof, so hübsch wie die Englischen Gärten und so weitläufig, dass er auch für Lebende einen Anziehungspunkt darstellt. Cordes Vision traf sich gut mit dem Geld der Hamburger Handelsleute. Er gab ihnen die Möglichkeit, sich auch nach ihrem Tod von den einfacheren Leuten abzugrenzen. So entstanden hausgroße Mausoleen, Kuppelgebäude trumpfend auf Hügeln in symmetrischer Komposition, oder groß angelegte Familiengräber. Und Cordes hatte genügend Geld, die Parkanlagen zu gestalten.

Heute lassen sich die Menschen lieber einäschern. Urnenbestattungen machen über 80 Prozent der Beisetzungen auf dem Ohlsdorfer Friedhof aus und ein Urnengrab braucht deutlich weniger Fläche als ein Mausoleum oder Erdbestattungen. Ein Grab läuft standardmäßig nach 25 Jahren aus und je mehr alte große Gräber nicht mehr weitergeführt werden, umso mehr Platz entsteht auf dem Gelände. Platz, den man aber nicht mit dem Geld aus den Grabgebühren pflegen kann. Die dürfen nur für die Pflege der Grabplätze selbst eingesetzt werden.

Dafür werden aber Parkanlagen von der Stadt bezuschusst. Also soll der freie Raum noch mehr zum Park werden und in Zukunft vor allem den Lebenden zugutekommen.

Wandel zu mehr Park

Hedda Scherres breitet eine Karte des Geländes auf dem runden Tisch in der Mitte ihres Büros aus. Sie ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des größten Parkfriedhofs der Welt. Ihr Zimmer mit den hellen Wänden liegt im zweiten Stock des historischen Verwaltungsgebäudes am Haupteingang des Friedhofs. Die drei Fenster des ovalen Raums eröffnen jeweils den Blick auf eine Sichtachse des Geländes. Cordes hat weniges dem Zufall überlassen. Mittig bahnt sich die Achse den Weg zum Wasserturm, links und rechts sollen Besucher*innen den Althamburgischen Gedächtnisfriedhof und die Polizeigrabstätte sehen, aber die Rhododendren wachsen schneller als die Gärtner*innen mit dem Stutzen nachkommen.

Scherres zeigt auf die hellgrau eingefärbten Areale auf dem Friedhofsplan, sie streicht sich die blonden Locken aus der Stirn. Wer ein Grab pachten möchte, kann das seit ein paar Jahren nur noch auf diesen Flächen tun. Auf den lindgrünen Flächen entsteht so Platz für Yoga, Erholung oder weitere Gärten. Drei Kapellen auf dem Friedhof sind inzwischen Raum für Tagungen, Schulprojekte oder Kulturangebote. Trauerfeiern hält dort niemand mehr.

Karte des Ohlsdorfer Friedhofs
Nur auf den grauen Flächen sollen in Zukunft noch neue Gräber entstehen. Bild: Friedhof Ohlsdorf

Yoga und Entspannung neben Gräbern

Im Schaukasten vor Kapelle sechs, der Kulturkapelle, hängen Plakate für bevorstehende Konzerte, eine Ausstellung und einen Vortrag übers Stricken. Einige Meter weiter windet sich ein Aussichtsturm in die Höhe. Über eine Wendeltreppe erreichen Besucher*innen das runde Plateau, um über den Park zu blicken, sich zu sonnen oder zu lesen. Der Ohlsdorfer Friedhof ist die größte Grünfläche in Hamburg. Die soll als Naturraum noch stärker hervorgehoben werden und gleichzeitig die Hamburger*innen anlocken, dort Zeit zu verbringen. Orangene Portale markieren die neu gestalteten Areale: Ein Naturlehrpfad, der Farnweg, das Klassenzimmer im Grünen in der Bildungskapelle, wo die angrenzende Schule regelmäßig unterrichtet. Auch zwei Teiche sollen wieder in Pflege genommen werden.

Bis die Neuausrichtung abgeschlossen ist, dauert es noch Jahrzehnte. Weil die alten Gräber auf den Flächen erst noch auslaufen müssen, aber auch, weil es erst einen Aufschrei gab, dass der Park intensiver genutzt werden soll. „Sowas wie Grillen oder laute Musik sind weiterhin verboten“, erklärt Hedda Scherres, trotzdem bleibt das Thema Tod ein sensibles. Da habe es auch unter den Mitarbeitenden erst Sorge gegeben, ob der stärkere Parkcharakter nicht den Trauerprozess stören würde.

Eine Fachwerk-Kapelle am Ohlsdorfer Friedhof
Vor der Bildungskapelle haben Schüler*innen Salat und andere Pflanzen in Holzkästen gesät.

Wenn es nach Maret ginge, dürfte ruhig ein wenig Trubel auf dem Friedhof herrschen. Alles besser als die Stille. „Davon haben die Toten doch schon genug“, sagt sie. Neben ihr steht ein blau-grün geflochtener Korb, in den sie die abgeschnittenen Zweige der Hortensie vom Grab ihres Mannes steckt. Ihre Jacke ist braun meliert, in einem ähnlichen Ton, der noch zwischen ihren grauen Haaren zu erkennen ist. Als Kind sei sie selbst auf dem Friedhofsgelände geskatet – bevor das eine Zeit lang verboten wurde. Umso besser findet Maret es, dass jetzt wieder Leben auf den Friedhof kommen soll. Rennende Kinder, Fahrradfahrer*innen, Sportgruppen. Egal. Marets Augen füllen sich mit Tränen, ihr Mann solle es doch gut haben und etwas mitbekommen. „Ich bin da ein bisschen kitschig, aber ich finde es einen tröstenden Gedanken“, sagt sie und steckt die Heckenschere ein. Die mitgebrachten Blumenzwiebeln wird sie doch noch nicht aufs Grab pflanzen. Zu dicht stehen die gelben Winterlinge.

4100 Euro für ein Grab

Hedda Scherres steht inzwischen im Kolumbarium, ein warmer Raum mit würfelförmigen Regalen, in deren Nischen jeweils ein oder zwei Urnen stehen. Hinter dem Glas sind Bilder von den Verstorbenen und ihren Haustieren aufgebaut, daneben liegen Fußball-Fanartikel oder Keramikfiguren – alles Mögliche, was einen Menschen zu Lebzeiten ausgemacht hat.

Eine eigene Nische kann jede*r sich auf Wunsch online reservieren und ab Todeseintritt für 25 Jahre pachten. Rund 6900 Euro kostet das. Für knapp 3700 Euro gibt es einen Platz auf dem Ohlsdorfer Ruhewald und 4100 kostet ein frei gestaltbares Grab. Beliebte Angebote wie der Apfelhain können so auch schnell ausgebucht sein. Obwohl der Online-Grabkauf gut angenommen wird, ist es für Hedda Scherres nicht unbedingt wichtig, dass die Leute wirklich ein Grab kaufen. „Es geht dabei mehr um die Vorsorge, damit man eine Vorstellung über die Vielfalt der Grabstätten-Angebote bekommt“. erklärt sie.

Nicht alle sind begeistert

Obwohl der Tod unweigerlich jeden Menschen im Leben einmal betreffen wird, schieben Viele das Thema von sich weg. Ein Friedhof als Erholungsort? Scheint erstmal makaber. Besucht man den Ohlsdorfer Parkfriedhof an einem sonnigen Wochenende, sieht man aber Menschen auf Fahrrädern über die Straßen fahren, Familien, die ihren Sonntagsspaziergang über den Friedhof machen, Paare, die gemeinsam die Blumen im Rosengarten betrachten oder Leute, die in der Sonne ein Buch lesen. Zu hören sind vor allem die Vögel, ansonsten ist es erstaunlich still für Hamburg.

Eine Kapelle auf einem kleinen Hügel, vor der Leute die Abendsonne genießen
Besucher*innen können viele grüne Ecken auf dem Ohlsdorfer Friedhof entdecken.

„Es passt für mich nicht, den Tod aus dem Leben auszuschließen, denn der Tod gehört zum Leben dazu.”, glaubt Verena Rolirad. Sie gibt im Sommer Yoga-Workshops auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Vor allem während der Pandemie hat sich das weitläufige Gelände als Erholungsstätte etabliert. Rolirad war zu der Zeit häufig auf dem Ohlsdorfer Parkfriedhof unterwegs und fragte sich irgendwann, ob sie mit ihrem Angebot nicht auf die Wiesen ausweichen könnte. Mit der Idee rannte sie bei der Friedhofsverwaltung offene Türen ein, die suchte sowieso nach neuen Nutzungsmöglichkeiten.

Nicht alle waren so begeistert von den Gruppen, die sich neben Grabsteinen dehnen und meditieren. Gleich nach der ersten Yoga-Session, erinnert sich Rolirad, kam ein Außenstehender auf sie zu und beschwerte sich. Es brauche Zeit und Respekt für die Veränderung, glaubt sie. Und auch, dass nicht alle gut finden müssen, was sie macht. „Aber darüber ins Gespräch zu kommen und zu überlegen, woher diese Irritation kommt, empfinde ich als Chance“, sagt die gelernte Krankenschwester.

Die Gespräche auf und über den Friedhof drehen sich oft um spirituelle Gedanken und Demut vor dem Leben. Mira, die sagt, die Gräber der jungen Leute erinnern sie daran, dass ein langes Leben nicht selbstverständlich ist. Maret, die der Gedanke tröstet, dass ihr Mann in seiner letzten Ruhe nicht nur von Stille umgeben ist. Hedda Scherres, die die Hemmschwelle für die Vorsorge senken will und Verena Rolirad, die existenzielle Fragen über den Tod in ihre Meditationen integriert.

Der Ohlsdorfer Friedhof: die Grüne Lunge Hamburgs

Und dann sind da noch Menschen wie Thomas Schmidt, die den Blick lieber auf das Leben lenken. Die Sonne wirft goldenes Abendlicht durch das noch dünne Blätterdach als er seinen Finger und die Augenbrauen hebt: „Das ist der Buchfink“. Schmidt trägt Daunenjacke und ein kleines Buch mit Vogel-Abbildungen. „Ha Ha – Hast du meine Frau gesehen?“, ahmt er für seine Teilnehmer*innen den Ruf inklusive Merkspruch nach. Schmidt war Biologielehrer, jetzt ist er Vogelexperte, leitet Vogelwanderungen im Stadtpark, Planten un Blomen oder auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Von ihm lernt man, dass im Teich des Parkfriedhofs mehr männliche als weibliche Enten schwimmen, Schwäne monogam sind und die Vögel in Bayern einen anderen Dialekt haben als die in Hamburg.

Thomas Schmidt schaut gerade in die Kamera
Vogelexperte Thomas Schmidt betont die Artenvielfalt auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Wenn Thomas Schmidt den Blick nach unten auf die Gräber richtet, dann nur, wenn ein Vogel dort sitzt. Sonst geht sein Blick nach oben und sein Gehör konzentriert sich auf das Zwitschern in der Luft. „Die Natur hier auf dem Friedhof – das ist das Schöne!“ sagt Schmidt. Als Grüne Lunge von Hamburg ist der Ohlsdorfer Parkfriedhof existenziell für das Klima der Stadt und für die Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen. Die Gärten, die Apfelbäume mit den historischen Sorten, die Vögel und Insekten – sie alle tragen dazu bei.

Jule Ahles, Jahrgang 1999, aufgewachsen in Oberfranken, hat sich schon oft in der Küche die Haare gewaschen: In ihrer Stuttgarter WG war dort die Dusche untergebracht – Schwaben eben. Sie studierte dort “Crossmedia-Redaktion” und arbeitete beim SWR für das “Nachtcafé”. Bei einem Praktikum beim Magazin “Audimax” in Nürnberg schmiss Jule zusammen mit zwei weiteren Praktikantinnen die Redaktion. In ihrer Freizeit hält sie beim Faustballtraining Bälle in der Luft und erkundet mit dem Gravelbike begeistert die Umgebung von Hamburg – auch dabei gibt es gelegentlich eine kalte Dusche.