Züge ziehen über die Clubs hinweg, die Wände der verwitterten Fassaden zittern, der Bass wummert: Der unverkennbare Charme der Sternbrücke. Doch bald erlischt das letzte Licht. Ein Kulturdenkmal und das Ende einer Ära. 

Bild und Text: Jákob Somorjai

Unter einer Eisenbahnbrücke von 1926 in Hamburg-Altona verbirgt sich ein Stück Hamburger Kulturgeschichte. Abseits von Tourismus und alkoholinduzierter Aggression bestehen einige der geschichtsträchtigsten Clubs der Stadt seit über 25 Jahren. Hier sind Szeneclubs wie Astrastube, Fundbureau, Beatboutique und Waagenbau zu Hause. Doch zum Ende dieses Jahres ist damit Schluss. Die Deutsche Bahn wird die denkmalgeschützte Sternbrücke abreißen und eine Lücke im Herzen der Hamburger Kulturszene hinterlassen. Steffi, Kim und Co., die hier seit über zehn Jahren zum Inventar gehören, verlieren dadurch nicht nur ihre Tresen, sondern auch ihr zweites Zuhause, ihr Wohnzimmer, ihre kleine Familie.

Hier hilft man sich noch, egal ob mit Kleingeld, Bier oder Fragen zur Buchhaltung – die Leute aus den Clubs, dem Kiosk und auch Güney vom Dönerladen achten aufeinander. „Es langt hier auf der Sternbrücke einfach für jeden. Wir profitieren alle voneinander. Das ist wirklich schön und so etwas gibt es sonst nicht mehr.“ Steffi arbeitet in ihrer Bar227, Ecke Stresemannstraße/Max-Brauer-Allee, seit über 20 Jahren. Sie lebt für ihre 60 Quadratmeter Barfläche und die besondere Clubdichte. Wenn sie darüber spricht, dass all das bald nicht mehr existiert, wird ihre Stimme ungewohnt leise. 

Die letzte Gallierin an der Sternbrücke

Die kleine Frau in Schwarz, die kein Bedürfnis hat, über ihr Alter zu sprechen, strahlt eine gewisse Präsenz aus, kennt viele ihrer Gästinnen und Gäste seit langer Zeit. Egal, ob aufstrebender Newcomer DJ, Eltern, die nach Jahren mal wieder feiern sind oder Nachtschwärmer, denen die Schlange beim Waagenbau gegenüber zu lang war – am Ende liegen sie Steffi in den Armen und gestehen ihr, wie schön gemütlich es bei ihr ist. Während Steffi lachend erzählt, wackeln die Wände in regelmäßigen Abständen, wenn die Bahn über die Schienen rollt.

Zwei Frauen stehen an einer Bar vor Schnapsflachen, über ihnen stehen die Preise auf einer Tafel
Steffi (links) und Kim (rechts) in der Bar227

Dieses Jahr hat sie noch eine Ausbildung gemacht, mit Blick auf den drohenden Existenzverlust, und sich eine sozialversicherungspflichtige Arbeit gesucht. „Denn kurzfristig in acht Monaten eine Alternative zu finden, die im Januar spielbereit ist, scheint für die Clubs unmöglich“, sagt Steffi. „Es ist unmöglich“, ergänzt Kim aus dem Club nebenan. Aussichtslosigkeit macht sich breit an Steffis Tresen. 

Die Sternbrücke ist eine Eisenbahnbrücke, die diagonal über die Straßenkreuzung Max-Brauer-Allee/Stresemannstraße führt, wurde ursprünglich 1893 als Teil der Hamburg-Altonaer Stadt- und Vorortbahn gebaut und besteht seit 1925/1926 in ihrer jetzigen Form als Stahl-Balkenbrücke. Ihren Namen verdankt die Sternbrücke nicht ihrer Form, sondern dem sternförmig zusammenlaufenden Verkehr aus sieben Richtungen. Über die Brücke verlaufen je zwei Gleise der Fernbahn und der Hamburger S-Bahn, was sie zu einer wesentlichen Verbindung im Hamburger Verkehrsnetz macht.


Neben ihrer Funktion als Verkehrsknotenpunkt hat die Sternbrücke auch eine lange Geschichte als Gewerbestandort. In den Brückengewölben sind seit ihrer Gründung verschiedene Betriebe untergebracht. In den sich anschließenden Kasematten war bis in die 1990er Jahre das Fundbüro der Bundesbahn untergebracht, in dem regelmäßig Fundsachen versteigert wurden. Seit etwa 1998 etablierten sich hier zunehmend Szeneclubs wie Astrastube, Fundbureau und Waagenbau (seit März 2003).

Seit etwa 2005 plant die Deutsche Bahn einen Neubau der Brücke, der für 2023 vorgesehen ist. Die Kosten für das Projekt werden laut der dpa auf 125 Millionen Euro geschätzt, die zwischen Bund und Stadt geteilt werden.

Vor wenigen Wochen wurde den Betreiber*innen mitgeteilt, dass sie spätestens am 11. Januar 2024 alle ihre Läden geräumt haben müssen. Alle, bis auf Steffi. Die letzte Gallierin an der Sternbrücke wird mit der Bar227 noch ein Jahr länger bleiben dürfen. Auch wenn es zu Beginn hieß, dass ihr Laden und das Künstlerhaus nebenan als Erstes hätten gehen sollen, um Platz für das Projekt „Clubhaus Sternbrücke“ zu machen. 

Alleine zu bleiben, das ist für Steffi Fluch und Segen zugleich: Einerseits profitiert die kleine Bar vom Publikum der anderen Clubs. Andererseits verteilen sich die Beschwerden über Lärmbelästigung momentan auf alle. Und diese Beschwerden kommen nicht allzu selten. Man kann sich ungefähr vorstellen, wie gut die Kinder der Anwohner*innen einschlafen, wenn im Waagenbau bis 7 Uhr morgens treibender Techno den Takt der Nacht angibt, während in den verwinkelten Gängen des alten Gemäuers der Schweiß von der Decke tropft. 

Altonaer Waagenbau Fassade, über dem Club und der Sternbrücke fährt eine S-Bahn entlang
Waagenbau gegenüber der Bar227

Große Versprechen, harte Realität: Luftschloss Clubhaus Sternbrücke

Das „Clubhaus Sternbrücke“, das der Senat als Ausweichmöglichkeit für die Sternbrücken-Clubs versprochen hatte, sollte pünktlich zum Auszug fertig sein. Nun verzögern sich die Bauarbeiten. Nach Recherchen des „Hamburger Abendblatts“ sind die Planungen hierzu noch nicht abgeschlossen. In ihrer Misere haben die Clubbetreiber*innen der Sternbrücke sich an den Kultur- und Medienausschuss gewandt und ihre Situation verdeutlicht. Daraufhin ging die Stadt zusammen mit ihrem Public Real Estate Manager, der Sprinkenhof GmbH, und den Betreiber*innen in den Dialog und fing an, nach Objekten zu suchen. Laut Steffi belaufen sich die Investitionskosten für die angebotenen Objekte auf 100.000 Euro aufwärts: „Dieses Geld ist nicht da, vor allem, nachdem die Pandemie so ziemlich alles an monetären Vorräten aufgebraucht hat.“

„Das Gleiche gilt für das Fundbureau“, erzählt Kim. Sie war auf ihrem ersten Rave hier und konnte nicht glauben, dass so ein Ort überhaupt existiert. Direkt nach dem Feiern hat die Prisdorferin an den Club über ein Kontaktformular eine Anfrage gestellt, ob sie als Aushilfe anfangen könne. Heute, zehn Jahre später, kann sie sich ein Leben ohne Fundbureau nicht mehr vorstellen. Kim ist das Herz des Clubs, kümmert sich um alles und jeden und organisiert so ziemlich alles, was es im Fundbureau zu organisieren gibt. In der Kulturstätte finden nämlich nicht nur Raves statt, auch Theaterveranstaltungen sowie Videodrehs und Konzerte haben hier Platz. „Bei uns soll sich einfach jeder wohlfühlen, und wer das nicht respektiert, der soll nie wiederkommen“, sagt Kim. „Dafür sorgen meine Türjungs und ich.“ 

Die Sternbrücke soll ein Safe Space für alle und jede*n mit klarer politischer Haltung sein. „Hier ist egal, wer du bist, wie du aussiehst oder woher du kommst, solange du respektvoll mit deinen Mitmenschen umgehst“, sagt Kim. 

Eine Frau steht im Eingang einer und lässt ihren Kopf rausragen, um sie herum ist Graffiti
Kim im Eingang des Fundbureaus

Mit ihrem historischem Charme bildet die Sternbrücke einen Kontrast zur gerade mal zwei Kilometer entfernten Reeperbahn: Dort herrscht Dresscode und aufgrund von zu viel Gewalt feiern Touristen in einer von der Stadt extra festgelegten waffenfreien Zone. Hier taucht man in die pulsierende Subkultur der Clubs ein, die den Kultstatus des alternativen Hamburger Nachtlebens prägen. Egal ob Punkkonzert in der Astrastube, Rave im Waagenbau oder einfach Cornern am Kiosk: Steffi, Kim und der Rest des Sternbrücken-Personals sind stolz darauf, dass in ihrer Szene kein Raum für Stress ist, und sehr wenige Prügeleien und Übergriffe stattfinden. Diese Großstadt-Romantik führte dazu, dass sogar ein Künstler, wie Jan Delay der Brücke mit dem Cover für sein Album „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“ seine Liebe gestand. 

Drohender Abriss: Was bietet Hamburg jungen Menschen noch?

Der drohende Abriss der Clubs wirft die Frage auf, welche Rolle genau solche alternativen Kulturstätten in Hamburgs Stadtentwicklung spielen sollen. Es bleiben nicht mehr viele. Auf Nachfrage von FINK.HAMBURG antwortet die Behörde für Kultur und Medien Hamburg, dass man sich zwar eine langfristige Lösung von neuen bzw. Ausweichspielstätten für die betroffenen Clubs wünsche und die Suche nach Kräften unterstütze. Nur könne man leider nach Rücksprache mit dem Pressereferat wenig berichten. Auf Nachfrage von FINK.HAMBURG bei der Deutschen Bahn (DB), die das Projekt leitet, gab es keine Rückmeldung. 

„Hamburg wird einfach immer langweiliger. Was bietet Hamburg jungen Menschen?“, fragt Steffi. „Gar nichts. Die können nur noch auf den Kiez gehen.“ 

Die Stadt Hamburg habe Steffi, Kim und Co. alternative Räumlichkeiten in Billbrook angeboten. Diese bringen ihnen nach eigener Aussage nichts, da sie aufgrund des Standorts kein Laufpublikum zulassen. „Innerstädtisch ist das Angebot begrenzt und in Industriegebieten dürfen Clubs sich rechtlich gesehen nicht ansiedeln“, so Steffi. 

Neben der Suche geht es auch darum, Infos zum Stand der Pläne an die Gäste und Gästinnen heranzutragen. Stammgäste der Bar227 wissen Bescheid, doch bei einem Großteil des Publikums der Sternbrücke ist es noch gar nicht angekommen, dass die Clubs wirklich weichen müssen. Wie diese Nachricht jetzt großflächig publik gemacht werden soll, ist noch nicht beschlossen. Das Fundbureau setzt, um Spenden und Aufmerksamkeit zu generieren, vorerst darauf, hauseigene Kunst zu versteigern und Merchandise zu verkaufen. Wie genau finanziell ausgeglichen werden soll, dass die Stadt Hamburg keine weiteren Töpfe zur Unterstützung zur Verfügung stellt, ist noch unklar. 

Steffi und Kim sprechen stellvertretend für die Sternbrücke: Die Stadt braucht den subkulturellen Nährboden dringend – nicht zuletzt als Standort-Anreiz für junge Menschen, aufstrebende Künstler*innen und Kreative. Doch angesichts der aktuellen Entwicklungen und des bevorstehenden Abrisses der Sternbrücke scheint es, als würde Hamburg einen Teil seiner Identität und Anziehungskraft verlieren. Laut der Sprinkenhof GmbH ist der Abriss nicht mehr abzuwenden und laut der DB eine Sanierung nicht zielführend, unter anderem da: 

  • die Eingriffe in das direkte Umfeld genauso groß wären wie bei einem Neubau,
  • eine Sanierung erheblich längere Einschränkungen für Bahn- und Straßenverkehr bedeuten würde,
  • eine Sanierung immer nur eine Zwischenlösung ist sei und den Neubau lediglich um maximal 50 Jahre hinauszögert und die Brammerfläche als Vormontagefläche dann nicht mehr zur Verfügung stünde.

Ein Kahlschlag für das Viertel

Die ersten Pläne für das Neubau-Konstrukt mit 26 Meter Höhe wurden 2019 von der DB vorgestellt. Die denkmalgeschützte Sternbrücke ist zwar sanierungsbedürftig, jedoch könnte sie erhalten bleiben, was ein Gutachten der Kulturbehörde belegt. Das wünschen sich auch die Anwohner*innen, was über 20.000 gesammelte Unterschriften und Demos von Organisationen, wie „Freundeskreis Sternbrücke“ und der „ALTONATIVE“ belegen. Für die Bahn sind Neubauten grundsätzlich wirtschaftlicher als Sanierungen, da der Bund Neubauten bezuschusst und Instandhaltungen die Bahn selbst zahlen muss, so das ZDF und das Handelsblatt“

Wie der „Denkmalverein Hamburg“ berichtet, werden bei einem Abriss nicht nur die historisch bedeutsame Brücke samt der Brückenbauten mit den darin ansässigen Clubs verschwinden, sondern es müssten auch sieben der umliegenden, teils denkmalgeschützten Altbauten abgerissen und 44 Bäume an der Max-Brauer-Allee gefällt werden. Ein Kahlschlag für das Viertel. Eine Enttäuschung für Pärchen, die sich im Fundbureau gefunden haben, für Bands, die ihre ersten Gigs hier hatten und für das Nachtleben an sich. Es wird stiller in Hamburg.

Jákob Zsolt Somorjai, Jahrgang 1998, hat schon einmal zehn Tage am Stück geschwiegen, in einem buddhistischen Kloster im Norden Thailands. Dabei fand er Antworten auf Fragen, die er sich noch nie zuvor gestellt hatte. Seine Familie hielt ihn danach vorübergehend für verschollen, dabei bereiste er nur Kambodscha. An der HAW Hamburg studierte er Medien und Information, arbeitete parallel beim Film- und Theaterfundus und später bei den Online Marketing Rockstars. Nach jeder Reise kehrt er immer wieder zurück zu seiner Perle – er schämt sich nicht mal für den HSV. Jákob glaubt ohnehin, dass Erwartungen nur zu Enttäuschungen führen. (Kürzel: som)