Auf der Reeperbahn reihen sich Schilder mit der Aufschrift „Sex“ aneinander. Es gibt aber auch einen Ort, an dem Sexualität ganz anders behandelt wird: L’Apotheque ist Deutschlands erstes Museum für historisches Sexspielzeug.

Illustrationen und Fotos: Alicia Wagner

„Unsere Gäste machen sowas nicht!“ Sätze, bei denen Anna Genger nur leicht den Kopf schüttelt. Sie ist Gründerin von L’Apotheque, Deutschlands erstem historischen Museum für Sexspielzeuge. Ein Nischenthema, dass nicht unbedingt jeder auf einer Lifestyle-Messe erwartet. „Den Meisten Menschen geht die Frage, ob meine Brüste gemacht sind, leicht von den Lippen. Doch wenn sie meine Spielzeuge sehen, kommen ertappte Aussagen und die Menschen entfernen sich schnell wieder vom Stand, bloß nicht gesehen werden!“

Anna lacht. Über Sexualität und ganz besonders Sexspielzeuge sprechen nicht alle so offen wie Anna. Inzwischen ist sie stolze Museumsbesitzerin und organisiert gemeinsam mit ihren Geschäftspartnerinnen regelmäßige Führungen, Themenabende und Ausstellungen. Wo früher Arzneimittel und Flaschen mit diversen Flüssigkeiten standen, reihen sich heute Auflege-Vibratoren, japanisch geflochtene Penisringe und der erste „Womanizer“.

Der „Womanizer“, so beschreibt es Anna, ist das Sexspielzeug, dass die Wende der Spielzeuge angestoßen hatte. „Da gab es auf einmal ein Spielzeug, dass nicht nur groß und lang war, nein. Es war klein, länglich, mit einem Saugapparat für die Klitoris und es kam in schönen Farben, teils mit Glitzer darauf. Es war das erste Toy, dass man auch mal auf der Kommode liegen lassen kann, ohne dass Gäste direkt wussten, dass ich masturbiere. Sexspielzeuge waren also nicht mehr nur Schambehaftet, sondern etwas Schönes, eben Luxus für den Körper.“

Wie ist eine Führung in einem Sexmuseum?

Vereinzelte Glitzerpunkte segeln durch die Luft. Es sind Konfettireste. Ein Kopf schaut aus einer Türe heraus. Anna Genger schiebt ihre kurzen, hellblonden Strähnen hinters Ohr. Eine kleine Menschengruppe steht vor ihr am Fuß der Treppe. Anna macht eine schnelle Handbewegung und verschwindet hinter einem langen Samtvorhang. Hinter dem Vorhang werden die Besucher*innen von einem Duft aus Vanille und Räucherstäbchen empfangen. Hohe, massive Regale aus dunklem Holz ragen in dem kleinen Raum bis unter die Decke. Sie sind gefüllt mit alten Gläsern des Apothekenbetriebes, mit Flaschen mit der Aufschrift „L’a Gin“, angestrahlt von neongrünem Licht. Darunter reihen sich unterschiedliche Massage-Apparaturen, Bilder und originale Verpackungskartons der Sexspielzeuge. Inmitten dieser Gerätschaften befinden sich allerlei glatt und kunterbunt aussehende Dildos, Analketten und Vibratoren, auf der eingestaubten Kasse steht eine Saure Gurke in Form eines Penis.

Die Gruppe drängt sich dicht beim Eingang um zwei majestätische Sessel herum. Gesenkte Köpfe und kurze Blicke nach links und rechts wandern durch den Raum, streifen die außergewöhnlichen Spielzeuge und die verstaubten Glitzer-Heels auf dem Tresen. Dahinter tritt die blonde Frau aus dem Gang. „Herzliche Willkommen in L‘ Apotheque! Kaffee oder lieber Sekt?“

Anna reicht einem Gast nach dem andern eine kleine Sektflasche. Flaschen klirren aneinander und Anna beginnt ihre Führung. Sie ist Künstlerin und nach ihrem Studium in London und einigen Zwischenstationen für die Alterspflege ihrer Mutter nach Hamburg zurückgekehrt, obwohl „der Plan zurück nach Hamburg zu kommen, nie da war“. Die Idee zum Museum entstand durch einen Freund, der das Potenzial der denkmalgeschützen Räumlichkeiten der Apotheke als etwas Außergewöhnliches erkannte.

„Alles, was rüttelte und schüttelte führt hoffentlich zum Höhepunkt!“

Das älteste Exponat des Museums ist ein elektronisches Wadenmassagegerät mit Stromanschluss. „Ausprobieren lohnt sich nicht, es rattert sowieso nur eher lustlos am Körper herunter“. Diverse Gerätschaften wurden zur Muskelentspannung verwendet, zur Gesichtsstraffung und zur Lymph-Dränage – reine Beauty-Tools also. Der unerwartete positive Effekt war aber nicht nur strahlende schöne und straffe Haut, sondern auch sexuelle Zufriedenheit. „Alles, was rüttelte und schüttelte und in irgendeiner Form vibrierte oder einzuführen war in die Vagina, wurde als Sexspielzeug verwendet.“

Massagegeräte, selbst Rasierer, Weinflaschen oder Kaffeemühlen wurden umfunktioniert. Bevor es Unternehmerinnern wie Beate Use gab, war das Thema „Sexspielzeug“ noch sehr tabuisiert. Einige Besucher*innen atmen hörbar ein. Dicht an dicht drängt sich die Gruppe in dem schmalen Gang zwischen Tresen und Wand. Staub, der dabei links und rechts in der kleinen Apotheke aufgewirbelt wird, wird zur Nebensache. Bei einem Spielzeug nicken einige der Besucherinnen und schmunzeln. „Der Womanizer, auch der Game-Changer“ der im 20. Jahrhundert auf den Markt kam, „war das erste Sexspielzeug, das nicht einem Penis ähnelte und auf Lifestyle-Messen angeboten wurde und somit seine verdiente Wertigkeit erhielt. Es war ein Toy, dass so schick war, dass es nicht in der untersten Bettschublade versteckt werden musste“.

Die Führung durch den 35 Quadratmeter großen Raum verblüfft einige der Besucher*innen. Zum einen, dass auf so kleinem Raum so viel Neues und Wissen vermittelt wird und zum anderen, dass viele der Themen nie wirklich erschlossen wurden. „Das Wissen, das hinter den Massagegeräten und den Spielzeugen steckt, ist unfassbar“, sagt eine Besucherin. „Ich bin damals mit Sexspielzeugen der Firma Fun Factory groß geworden und hatte durch die süßen Figuren und niedlichen Apparate keine Angst mehr davor mir ein Sexspielzeug zu kaufen, doch wenn ich das heute nochmal überdenke…“, sie runzelt die Stirn. „Dann merkt man eigentlich was für eine kranke Scheiße, das ist. Sexspielzeuge für Erwachsene in Tierform zu gestalten, besonders Delfine, die eigentlich für Vergewaltigungen bekannt sind.“

Anna spricht auf ihren Führungen wenig über Masturbation an sich, „vielleicht auch bewusst, weil ich weiß, dass ich viel zu privat antworten würde“. Ihr Fokus liegt auf der Geschichte der Sexspielzeuge, sie will Menschen dazu ermutigen, Sprache zu verändern und Sexualität jeder Altersgruppe näherzubringen. „Wenn Sexualität eines nicht ist, dann gesundheitsschädigend. Masturbation und Sexualität lindern Schmerzen und können auch Angstzustände verringern“.

Fast alle Ausstellungsstücke stammen aus der privaten Sammlung von Dr. Nadine Becks Doktorarbeit, erklärt Anna. Beck ist die Kuratorin von L’ Apotheque und maßgeblich verantwortlich für den wissenschaftlichen Hintergrund für und die Führungskonzepte. Der Kontakt zu Nadine kam über den Fotograf Günter Zint. Er wusste, dass Anna zum damaligen Zeitpunkt Räumlichkeiten für ein Projekt bereitstellte, Nadine suchte damals nach einem Ausstellungsort. Daraufhin entwickelten die beiden Frauen in Zusammenarbeit die Ausstellung und die dazu gehörende Führung. Heute übertrifft das Museum sogar die Erwartungen der Gründerin.

Unsere Großeltern haben Sex?

„Aufklärung richtet sich im Großteil an die jüngere Generation“, berichtet Anna, „doch wir vergessen immer, dass Sex nicht kein Verfallsdatum hat und nicht mit dem 40. Geburtstag aufhört zu existieren“. Der Körper verändert sich im Leben, die Performance und der Leistungsdruck sinkt. Dabei dasselbe Gefühl für Sex zu behalten, ist schwierig. Die geborene Sankt Paulianerin Anna wollte ursprünglich lediglich die Thematik Sex im Alter behandeln, doch schnell wurde ihr klar, dass Sex in jedem Alter aufregend ist. „Ich denke ich hätte mich irgendwann dabei gelangweilt, alten Leuten zu erklären, wie Sex für sie funktioniert.“

Einem Jungen im Teenageralter entfährt ein Gedanke etwas zu laut: „Unsere Großeltern haben Sex?“ Anna nimmt den Kommentar gelassen und geht näher auf die Sexspielzeuge für Ältere Personen ein. Es sind Toys, die mit großen Köpfen ausgestattet sind und sowohl der Erektion des Mannes als auch der Lust der Frau gelten dienen sollen. „Im Alter geht das eben nicht mehr so automatisch. Durch viele dieser Toys sind Lust oder zu kommen erst wieder möglich und sie haben eine Bandbreite an Verwendungen.“ Anna zwinkert der Gruppe zu.

Sex im Alter wird vergleichen zu Sex unter jungen Menschen wenig thematisiert. „Die sind ja schon Erwachsen und hatten ihren ersten Geschlechtsverkehr bereits, was soll man da noch lernen müssen?“ Es sind die Fragen, die Anna und Nadine gleichermaßen beschäftigen und das nicht zu Unrecht. Es gibt zwar eine Vielzahl von Studien auf der ganzen Welt, doch nur ein Bruchteil davon berücksichtigte innerhalb der Befragten auch ältere Personen. Denn trotz Toys für Erwachsene und ältere Menschen, bleibt das Aufklärungs- und Gesprächsangebot mager. Dass Alte Leute keinen Sex haben, ist schlichtweg auf falsch. Nadine verfolgt daher in ihrer Arbeit eine klare Botschaft: „Sexualität sollte unabhängig von Alter, Religion und Herkunft offen und gleich kommunizierbar sein.“

Scham ist nicht unbedingt etwas Schlechtes

Nadine Beck betont, dass Scham völlig okay sei. Altersgruppe, Erziehung oder Religion spielten eine Rolle. Für viele sei die erste Frage noch: „Wie fasse ich mich überhaupt an?“ Frauen wurde es so lange abgesprochen, dass es in Ordnung ist sich, zu berühren, dass der Weg zur schamfreien Masturbation für jeden individuell ist. Nadine selbst spricht mit hochgezogenen Augenbrauen darüber, dass sie selbst erst bei der intensiven Recherche für ihre Doktorarbeit feststellen musste, wie wenig sie eigentlich über das Thema Sexualität wusste. Sie lacht, sie selbst kennt diese Schamgefühle. Trotz der Doktorarbeit und zehn Jahre langer Forschung über Vibratoren geniert sie sich, wenn Fremde ihre Sexspielzeugsammlungsammlung bei ihr zu Hause sehen. „Da lasse ich auch lieber meinen Hintergrund bei einem Zoom Meeting unscharf, die ganze Regalwand hinter mir ist voll mit Spielzeugen.“

Nadines Doktorarbeit entstand durch ihre Hauptarbeit im History-Marketing, damals durchstöberte sie das Archiv von Beate Uhse und stieß auf Magazine. „Es war teilweise so skurril und bescheuert, dass ich gar nicht anders konnte, als es mit Humor zu nehmen.“ Mit Namen wie Muschibär, Doppelbock, Das schwarze Juwel, Starkmacher Rohr oder Rubbel Ring warb das Unternehmen für die Sexspielzeuge für Frauen. „Eigentlich sind die Sexspielzeuge dieser Zeit nur von Männern entworfen worden, die dachten zu wissen, was Frauen Lust bereitet. Das war in den meisten Fällen ein Stabvibrator in Form eines Penis.“

Für die aktuelle Jugend wünscht sich Nadine, dass diese mit einem breiten Spektrum an Möglichkeiten aufwachsen. „Ich muss gar nichts!“, bekräftigt Nadine Beck. Sexualität ist ein Leben lang etwas Plastisches, sich permanent Veränderbares. Es kann Freiheit für einen bedeuten, über das Potenzial des eigenen Körpers Bescheid zu wissen. Es geht darum, dass man sich selbst, als auch seine eigene Sexualität immer wieder neu definieren kann und sich ausleben kann, solange man sich vom Druck und Leistungszwang befreit. „Ich muss gar nichts“, betont Beck ein weiteres Mal.

Nadines zuletzt erschienenes Buch „Sex in Echt“, handelt von Konsens und Ausprobieren. Es thematisiert besonders das Kommunizieren und sich gengenseitig Zuhören beim Sex mit sich selbst und anderen. „Ich bekomme immer wieder das Feedback von Eltern, die meinen, dass sie sich so ein Buch in ihrer Jugend gewünscht hätten.“ Nadine Beck nickt zufrieden. „Konsens, sich selbst kennenzulernen und auch immer und immer wieder von Leistungsdruck zu befreien, betrifft nicht nur die junge Generation, sondern auch die ältere Generation“.

„Gerade diejenigen die in einer Zeit aufgewachsen sind, in der man nicht über Sexualität gesprochen hat, ist es schön einen Raum zu haben sich zu öffnen. Besonders weil die meisten älteren Menschen sehr viel Zeit und eventuell die Möglichkeit haben, ihre nicht ausgelebte Sexualität zu entdecken.“ Nadine spricht von einem Raum wie L’ Apotheque oder ihrem Buch, die einem ermöglichen sich an Sexualität heranzutasten.

Eine Museumsführung die zum Denken anstößt

Anna nickt in die Runde, die Führung ist zu Ende. Stille. Anna bedankt sich bei ihren Besucher*innen und steht für Fragen zur Verfügung. Gedankenversunken schlendern die Besucher*innen einander in den engen Gängen hinterher. Alle begutachten die Objekte noch einmal genauer, nur dieses Mal aus einem anderen Blickwinkel. Sie haben viel über ein Thema gehört, über das früher niemand so richtig sprechen wollte.

Eine Besucherin Mitte fünfzig seufzet „Beate Use wurde damals nur als Geschäftsfrau von meinen Eltern genannt, mehr nicht. Eigentlich hat man auch nur sehr schlecht von ihr gesprochen, aber nie erklärt warum. Danach sprach man nicht weiter darüber. Eigentlich schade, wenn ich jetzt darüber nachdenke, wie mutig diese Frau war. Sie hat damals über ein Tabuthema zu einer Zeit gesprochen, zu der die wenigsten Menschen schon bereit waren, sich zu öffnen, das ist bewundernswert!“

Drei der anderen Besucher*innen nicken zustimmend. Anna’s Führung hat ihre Wirkung: „Die persönliche Art und Weise von Anna zieht einen in den Bann, aber auch Nadines Wissen ist unglaublich, so vieles hab‘ ich gehört, was ich selbst noch nicht wusste!“ Eines scheint doch besonderes das Interesse geweckt zu haben, die AFE-Zone, etwas das die meisten noch nie zuvor gehört haben. Doch Nadine, die durch ihre Doktorarbeit auf dem Gebiet der Sexspielzeuge das Fachwissen hat, zwinkert nur und meint: „Was die AFE-Zone ist? Nun googelt es mal!“. Sie zwinkert.

­­Alicia Maria Wagner, Jahrgang 1998, könnte für die volle Länge von “Dancing Queen” die Luft anhalten, denn ihr Rekord im Apnoetauchen liegt bei 3 Minuten und 51 Sekunden – im Bodensee. Alicia stammt aus der Nähe von Stuttgart, in Tübingen studierte sie Medienwissenschaften und Englisch. Für ein Schmuckgeschäft machte sie dort Social-Media-Arbeit und Corporate Design, fotografierte und produzierte Videos. Sie ist zwar kein großer ABBA-Fan, aber dafür mag sie das Herkunftsland der Band umso mehr: Sie hat in ihrem Leben schon knapp zwei Jahre in Schweden verbracht, hat dort studiert, gecampt und einen Elch geküsst (es war ihr erster Kuss). Irgendwann zieht sie vielleicht ganz dorthin.
(Kürzel: awa).