Diddl-Riechpapier, Pictochat und „Die Wilden Kerle“: Man könnte meinen der 23-jährige HAW-Student Lorenz Rocke ist in seiner Kindheit stecken geblieben. Dabei sind diese Relikte ein Ausdruck seiner Kunst. Wir haben ihn besucht.
Foto: Lena Gaul
In Baggy-Jeans und Adiletten öffnet er schüchtern die Tür. An seinem Hals hängt eine Buchstaben-Diddl-Kette: L für Lorenz. Mit seinen tätowierten Armen, der schwarzen Skater Mütze und den Wangenpiercings, ist Lorenz einer von den Menschen, neben denen man sich überdurchschnittlich gewöhnlich fühlt. Ein typischer Modestudent halt. Der 2000 geborene Künstler studiert im sechsten Semester Modedesign an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg – hat aber im letzten Jahr kein einziges Stück genäht. Stattdessen macht er lieber Musik und zeichnet. Mit Letzterem hat er vor kurzem den Publikumspreis des Add Art Award gewonnen.
Aufwachen in der eigenen Kindheit
Lorenz WG-Zimmer ist 20 Quadratmeter groß. Es zu betreten, fühlt sich an, als würde man zurück in das eigene Kinderzimmer kommen. Es fühlt sich vertraut an. Über der grau karrierten Bettdecke hängen Poster von Hannah Montana, Tokio Hotel und Twilight, über der Sofaecke findet man Lorenz eigene Zeichnungen. Neben der Zimmerpflanze steht mitten im Raum ein hüfthohes Männchen mit roter Mütze, grünem Mantel und einer Glasschüssel in der Hand: ein Pixibuchständer, so wie man ihn Anfang der 2000er aus Drogeriemärkten kennt.
Auf dem Boden liegt ein Teppich, der das Gefühl von unbeschwerter Kindheit auslöst. Er ist mit Straßen, bunten Häuser, Kreiseln und Zebrastreifen bestickt. So ganz ist man sich nicht sicher, ob hier ein Erwachsener wohnt. Verständlich, dass der ein oder andere Handwerker, der die Wohnung betritt, mal komisch schaut, wie Lorenz erzählt. Der 23-Jährige fährt in seiner Freizeit aber nicht mit Hot Wheels die aufgezeichneten Straßen nach (zumindest erzählt er davon nichts), sondern benutzt den Teppich für seine Kunst. In schwarzen Großbuchstaben steht darauf:
„Vielleicht träumen wir ja alle nur und wachen schon bald wieder in unserem Kinderzimmer auf.“
Dieser Ah-stimmt-ganz-vergessen-Moment
Lorenz Kunst ist genauso wie sein WG-Zimmer: nostalgisch. Häufig thematisiert er in kleinen Comics Gegenstände aus seiner Kindheit: den Nintendo DS, Toggo-Lic-Sticks oder auch Kinderserien wie “Bob der Baumeister” oder “Die Wilden Kerle”. Damit erreicht er vor allem die Gen Z (in den Jahren 1997 bis 2012 Geborene), indem er Erinnerungen weckt und Ah-stimmt-ganz-vergessen-Momente auslöst.
Die Ideen für seine Motive kommen ihm bei ausgiebigen Spaziergängen oder er googelt einfach sowas wie „alte Eissorten“ und verbringt seine Freizeit damit, Toggo-Werbeblöcke aus den 2000er Jahren zu durchforsten. Lorenz beschäftigt sich nicht nur mit Kindheitserinnerungen, häufig behandelt er in seinen Zeichnungen auch Alltagsszenen. Was seine Kunst immer gemein hat, ist das „Zwischenmenschliche“, fasst es Lorenz zusammen. Es geht um Herzschmerz, soziale Ängste und das Problem, erwachsen zu werden. Der poetische, humoristische und häufig auch ironische Ansatz macht seine Bilder auf einer oberflächlichen, aber meistens auch tiefgründigeren Art unterhaltsam. Seinen Stil beschreibt der 23-Jährige selbst als „kindlich naiv“ und schreibt auf seiner Webseite:
„Zum Großteil sind es traurig-süße Zeichnungen (im Zusammenspiel mit Sprüchen), die ich mit meiner schwachen Hand zeichne, um sie sehr sehr hässlich aussehen zu lassen. Dadurch möchte ich auch meine Persönlichkeit widerspiegeln (sehr hässlich).“
Lorenz ist Rechtshänder und genießt den Kontrollverlust, der durch das Zeichnen mit seiner linken Hand entsteht. Er müsse nur aufpassen, dass er bald nicht besser darin werde, mit der linken Hand zu zeichnen, sagt er und lacht. „Also es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung, Modedesign zu studieren, allein wegen der ganzen Zeichenkurse und Malkurse. Dadurch habe ich dazu gefunden, was ich jetzt mache“, sagt er. In der Uni habe er auch gelernt unter Zeitdruck zu arbeiten – so arbeite er übrigens am liebsten. Mittlerweile ist Lorenz Interesse für Modedesign eher verflogen, stattdessen verlagert er sein Schaffen lieber vollkommen auf seine Zeichnungen.
Stilles Schreien – vom Dorf in die Großstadt
Das Label unter dem Lorenz seine Kunst, aber auch seine Musik veröffentlicht, heißt „Stilles Schreien“. Die Idee kam ihm bei einem seiner ausgiebigen Spaziergänge an der Alster. „Ein Oxymoron. Finde ich passend und irgendwie auch ein bisschen poetisch“, sagt Lorenz. „Still“, weil er sich selbst eher als stille Person bezeichnen würde. Er steht nicht gerne im Mittelpunkt und gerade in großen Gruppen fällt es ihm schwer sich zu öffnen. „Schreien“, weil er in seiner Kunst häufig auch traurige Themen behandelt.
Der Name seines Labels und die Kindheitsmotive, könnten vermuten lassen, dass Lorenz vielleicht keine schöne Kindheit hatte. Aber ganz im Gegenteil: Im Großen und Ganzen hätte er eine sehr behütete Kindheit gehabt, erzählt er. Im Alter von elf Jahren ist er mit seiner Familie von Schuby, einem 3.000 Seelen Ort in der Nähe von Schleswig, ins benachbarte Bundesland nach Greifswald gezogen. Für ihn war das ein einschneidendes Erlebnis, denn so richtig wohlgefühlt habe er sich in Greifswald nie. „Es war ein bisschen so, als wäre auf einen Schlag meine Kindheit vorbei gewesen“, beschreibt es Lorenz. Schon damals hat er gerne Comics gezeichnet und auch mal eher „sein Ding“ gemacht. Das künstlerische Umfeld, dass er hier in Hamburg seit zweieinhalb Jahren hat, schätzt er dafür umso mehr und will hier so schnell auch nicht mehr weg.
Vom Modedesigner zum Erzieher
In seinem Onlineshop verkauft Lorenz neben seinen Zeichnungen auch Kleidung mit seinen Prints und verdient damit auf Mini-Job-Niveau. Für ihn fühle sich das aber nicht an wie Arbeit, sagt er. Das Presigeld von 1.000 Euro, das er letztes Jahr im Dezember für den Add-Art-Publikumspreis bekommen hat, hat er schon für neues Merchandise investiert. In den Urlaub will er von dem Geld zwar nicht fahren, aber vielleicht ein neues Tattoo, sagt er lächelnd und krempelt seine Ärmel hoch. Auf seinem Arm sind zahlreiche Tattoos, darunter auch viele seiner eigenen Motive. Auf dem Oberarm steht „Ich wünschte, ich wäre mental so stabil wie ein Nokia“. Daneben ist ein krakeliges Nokiahandy gestochen.
Am liebsten würde Lorenz später von seiner Kunst leben. Das Modedesignstudium wird er aber vermutlich abbrechen, dafür arbeite er nicht konzeptionell genug, findet er. Stattdessen kann er sich aber vorstellen neben seiner Kunst eine Erzieherausbildung anzufangen, um später in einer Kunst-Kita zu arbeiten.
„Kinder arbeiten noch viel freier, ohne mit dem Kopf da reinzugrätschen“
Die Arbeitsweise von Kindern beeindrucke ihn, weil sie losgelöst sei, sagt Lorenz. „Je älter man wird, desto perfektionistischer versucht man irgendwie auch zu zeichnen und dadurch geht der Spaß auch ein bisschen verloren.“ Die Faszination fürs Kind-Sein begleitet Lorenz: in seiner Kunst, seinen Zukunftsvorstellungen und vor allem auch in seinem eigenen (Kinder)Zimmer.
Lena Gaul, Jahrgang 1998, filmt und tanzt auf fremden Hochzeiten: Sie arbeitet seit
ihrem Bachelor-Abschluss in Medien und Kommunikation für eine Hamburger
Hochzeitsagentur. Lena ist in Ingelheim geboren, und obwohl ihre Mutter aus
Thailand stammt, hält sich ihr Fernweh in Grenzen. So zog Lena zwar für ihr
Studium nach Passau, jedoch ohne die Stadt jemals besucht zu haben. Mittlerweile
will sie nicht mehr Hochzeitsplanerin werden, sondern lieber wieder mehr schreiben,
wie bereits in ihrem Praktikum in einer Social-Media-Agentur. Das geht auch ohne zu
verreisen. (Kürzel: len)