Hamburgs ältester Tanzschule, Walter Bartel, unterrichtet klassischen Paartanz. Seit der Gründung 1923 haben sich die Rollenbilder in der Gesellschaft gewandelt. Sind Tradition und Modernität vereinbar?
Reportage von Stella Fellert und Andrei-George Pastiu
Die schwere Tür öffnet sich mit einem leisen Knarren, und schon steht man auf dem roten Teppich. Ein dichter Vorhang hängt vor dem Eingang. Schimmernde Türknäufe, goldfarbene Tischränder und gelbgoldenen Gardinen prägen das Bild der Tanzschule Walter Bartel. Eine geschwungene Treppe führt die Besucher:innen hinauf in zwei Tanzsäle: Spiegelwände, rotbepolsterte Möbel und ein Fischgrätenparkett, das im Licht der Wandleuchten glänzt. In der Ecke ist ein holzgetäfeltes Pult, dahinter: zahlreiche CDs und Platten. Alte Bilder an der Wand zeigen Tanzpaare aus vergangenen Zeiten auf dem gleichen Parkett. Die Inhaberin der Tanzschule, Corinna Bartel, liebevoll Coco genannt, betont stolz: “Wir haben irgendwann alles erneuern lassen, haben aber darauf geachtet, dass alles originalgetreu ersetzt wird. Selbst die Bar haben wir neu betafeln lassen.”
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Bachelorseminars “Digitale Kommunikation” an der HAW Hamburg entstanden und wurde ausgewählt, um auf FINK.HAMBURG veröffentlicht zu werden.
Hundertjährige Tanzschultradition
Cocos Großvater, Walter Bartel, gründete die Tanzschule 1923, seither ist sie familiengeführt. Ursprünglich habe die Tanzschule unweit der Alster gelegen, erklärt Coco. 1931 zog die Tanzschule zu ihrem jetzigen Standort an die Ulmenau, nahe der Mundsburg. Die Tanzschule hat viel miterlebt. „Während des Krieges wurde alles dunkel verhängt, dann kamen die Soldaten und haben getanzt“, erinnert sich Coco an Erzählungen ihrer Großmutter. Noch heute befindet sich eine kleine gekachelte Kammer mit Waschbecken hinter einem der Tanzsäle. „Damals haben meine Großeltern hier gewohnt“, berichtet sie.
Trotz des Krieges blieb die Tanzschule bestehen. Auch die Tanztradition blieb erhalten: Langsamer Walzer, Rumba und Tango werden heute noch in der Tanzschule getanzt. Während Tradition für viele Mitglieder den Kern ausmacht, ist diese bei anderen negativ konnotiert. „Für Außenstehende wirkt die Tanzschule vielleicht etwas spießig“, so Coco. Der Paartanz repräsentiert eine starre Werteordnung. In der Tanzkultur sind Vorschriften und Regeln tief verankert und schaffen damit eine gewisse Struktur.
Tanzschulenstandard: Er führt, sie folgt!?
Durch leise Absatzgeräusche machen sich langsam die ersten Tanzpaare bemerkbar. Sie betreten den Raum und beleben die Tanzfläche. Zwischen Tanzlehrer:innen und Assistent:innen bewegen sich die Tanzpaare leichtfüßig durch den Saal – alt, jung, groß und klein. Meistens besteht ein Paar aus einem Mann und einer Frau. Er führt und sie folgt. Äußerlich ist alles beim Alten geblieben, auf der Tanzfläche lebt die Tradition weiter. „Meine Mutter musste mich damals zwingen, einen Tanzkurs zu besuchen, und ich habe gehofft, dass mich niemand kennt“, berichtet Ole, 25 Jahre. Er ist mittlerweile seit zehn Jahren Mitglied der Tanzschule.
Gerade für Jugendliche wirken die Rollenbilder veraltet und die Umgangsformen zu konservativ. Rollenbilder im Paartanz galten lange als unumstößlich. „Ich habe einen starken Sinn für Gerechtigkeit“, erzählt die junge Tanzlehrerin Nadia. „Warum muss der Mann immer führen, und die Frau immer folgen?“, hinterfragt sie die klassischen Normen bereits während ihrer Ausbildung. Auf die Frage gibt es keine konkrete Antwort. Weil das einfach so sei, so wurde es in den Büchern niedergeschrieben und nicht mehr hinterfragt, erklärte ihr der Ausbilder.
Nadia gestaltet ihre Kurse spielerischer, als es in den Büchern steht. Sie selbst bevorzugt die Rolle als führende Person „Ich mag es, die Kontrolle zu haben“, schildert sie. Auch mit erwachsenen Kursteilnehmer:innen probiert Nadia gerne kleine Übungen aus. „Manchmal ist es hilfreich, die Rollen zu tauschen, um zu spüren, wie sich die andere Person fühlt“, betont sie. Außerhalb von Übungsaufgaben macht ein Rollentausch nur Sinn, wenn man dauerhaft vorhat, seine Konstellation zu ändern.
Gleichgeschlechtlicher Paartanz in der Tanzschule
Im Gegensatz zu den erwachsenen Kursen werden die Jugendkurse ohne feste Partner:in getanzt. Nach jedem Tanz wird der:die Partner:in getauscht, damit jeder die Möglichkeit bekommt zu tanzen. Verschiedene Gasttänzer:innen aus höheren Kursen reihen sich mit ein. Ein großes Thema sei die Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Tanzpaaren, sagt Nadia. Einige Eltern beschweren sich, wenn ihre Kinder mit einem gleichgeschlechtlichen Partner tanzen. „Ich bin die letzte Person, die dazu nein sagt, für mich macht das keinen Unterschied“, berichtet sie. Für die Eltern aber schon.
Oft gebe es in den Kursen zu wenig Herren, erzählt Louisa, die als Gastdame in den Jugendkursen tanzt. Sie übernimmt dort die führende Rolle im Paar. „Als ich angefangen habe zu tanzen, waren Gastdamen deutlich seltener als heute. Mittelwelle ist das für alle normal“. Selbst für Cocos konservativen Vater, Gerd Bartel, aus der vorherigen Tanzschulgeneration, war es damals selbstverständlich, dass auch gleichgeschlechtliche Paare zusammen tanzen. Die Inhaberin verfolgt einen simplen Ansatz: „Es ist toll, wenn Menschen Ecken und Kanten haben. Das macht sie nahbar, und genau das braucht jede Tanzschule. Daran können sich die Leute messen und selbst entscheiden, ob es zu ihnen passt oder nicht.“
Tradition bringt Sicherheit
Coco sieht Tradition als Vorteil für die Tanzschule. „Für die meisten Menschen, die herkommen, ist die Tanzschule ein sicherer Ort. “Das liegt auch daran, dass alles gleichbleibt – Gewohnheit schafft Sicherheit“, sagt Coco. Und trotzdem befindet sich die Tanzschule in einem stetigen Wandel. Die Welt verändert sich, und so muss sich auch die Tanzschule anpassen. „Mein Vater wollte früher nicht einmal ein Faxgerät für die Tanzschule haben. Wir haben dann privat eins gekauft und die Faxnummer in den Prospekt geschrieben“, erinnert sie sich. Es sind kleine Dinge, die sich verändern und das Leben leichter machen. So haben sich für die Begriffe „Mann“ und „Frau“ mittlerweile die Ausdrücke „Leader“ und „Follower“ etabliert. Das kann noch mehr werden, findet Nadia. „Manchmal fehlen mir die passenden Worte, damit sich wirklich jeder angesprochen fühlt“. Daran arbeiten die Tanzschulen bereits.