Expressive Bewegungen, schillernde Outfits, jubelndes Publikum, laute Musik: Die Ballroom-Szene kommt in Hamburg an. Woher kommt Voguing und was macht den Tanzstil so einzigartig?

Das Licht in dem schmalen Mojo Jazz Café ist gedimmt. Ein Lichtstrahl an der Decke rotiert. Darunter legt ein DJ einen Mix aus Elektrobeats, Disco und 80´s Vibes auf. Die Menschen bilden eine Gasse. Im Takt der Musik läuft eine große, schlanke Frau durch die Menschenmenge. Ihre Bewegungen sind kantig, fast abgehackt, aber dennoch rhythmisch. Lässig spielt sie mit ihrer Sonnenbrille. Die Voguing-Session ist in vollem Gang. Der Bass wummert, Gespräche sind unmöglich.

Voguing ist ein Tanzstil, bei dem Model-Posen schnell aneinander gereiht werden. Dabei wird majestätisch einen Gang entlang gelaufen oder sich schnell auf dem Boden, in fließenden und stockenden Bewegungen, fallen gelassen. Die tänzerische Anmutung hat eine Leichtigkeit, bei der blaue Flecken in Kauf genommen werden.

Bendix Holm trägt ein orangenes T-Shirt, zwei Ketten hängen um seinen Hals. Er nimmt heute zum ersten Mal bei einer Voguing-Session teil. Obwohl sein Auftritt noch bevor steht, reiht er sich erst einmal ins Publikum ein. Von Aufregung keine Spur. „Voguing ist zum Ausprobieren da und man muss sich wohlfühlen. Ich fühle mich hier gut aufgehoben.“

Selbstgewählte Familien

Voguing hat sich in den 60er und 70er Jahren unter homosexuellen Schwarzen, Latinos und Trans-Personen in New York entwickelt. Damals wurden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen und diskriminiert, zum Teil sogar von ihren eigenen Familien verstoßen. Sie schufen sich ihre eigene Subkultur: die Ballroom-Szene. Aus der heraus entstanden Gemeinschaften mit familienartige Verbände. Rückzugsorte, an denen sie sein konnten, wer sie waren oder sein wollten.

Sie teilten sich in “Houses” ein und zu jedem House gehörte ein “Father” oder eine “Mother”, der oder die sich sich um die Familienmitglieder kümmerte. Sie entschieden auch, ob neue Mitglieder im House aufgenommen werden sollten. Die Struktur gilt bis heute, auch die englischsprachigen Bezeichnungen sind geblieben. In größeren Houses ist es üblich, dass es mehrere Mother oder Fathers gibt. Der Name des Hauses bestimmt sowohl den Nachnamen der Mother oder des Fathers, als auch den der Mitglieder. Das verdeutlicht die Zugehörigkeit.

“Die Szene entstand, weil damals die Identität der homosexuellen Schwarzen, Latinos und Trans-Personen nicht normativ war”, erzählt Andra Wöllert am Rande einer Voguing-Session. Wenig später steht Mother Zueira Angels, so Andras Künstlername, mit dem Mikrofon in der einen und einem Wasserglas in der anderen Hand auf der Bühne. Ihr Kleid hat einen tiefen Beinschlitz, das Licht strahlt durch den Stoff hindurch: eine eindrucksvolle Erscheinung. Stark und selbstsicher moderiert sie die Voguing-Session ohne Pause.

Frau mit Mikrofon in der Hand
Mother Zueira Angels am Mikrofon eröffnet und moderiert die Voguing-Session. Foto: Antonie Schlenska

Mehr als ein Tanzstil

Mother Zueira Angels gehört zum Kiki House of Angels, einer großen Familie, die im Jahr 2015 gegründet wurde. Die Mitglieder wohnen neben Hamburg auch in Rotterdam, Berlin oder Paris. Weitere bekannte Houses in Deutschland sind das House of Melody und das Kiki House of Arise. Die Houses richten regelmäßig Voguing-Veranstaltungen wie im Mojo Jazz Café aus. Zahlreiche Mitglieder geben außerdem Workshops und Tanzkurse. Auch im Hamburger Oberhafen gibt es ein Tanzstudio mit einem regelmäßigen Voguing-Kurs. Es wird von Father Domi Twinkle aus dem House of Twinkle geleitet.

Bendix ist über das Hip-Hop-Tanzen zum Vouging gekommen. Ein Tanzlehrer hat ihm davon erzählt, auch von der Gemeinschaft. „Voguing ist anders als andere Tanzstile, weil es auch auf die Klamotten und den Familien-Background ankommt.“ Voguing geht über das Tanzen hinaus und ist ein Lifestyle, das weiß mittlerweile auch Bendix.

Die Bühne als Safe Space

Während der Voguing-Session zeigt ein Blick ins Publikum Menschen in T-Shirts und Jeans, aber auch in selbstgenähten Outfits, andere tragen pastellblauen Lidschatten, der über das  Gesicht verläuft. Ob bunter Paradiesvogel, viele weibliche Kurven oder (k)ein Adoniskörper – auf die Haltung kommt es an. Die Ballroom-Szene schert sich nicht um gängige Schönheitsideale. „Obwohl du übergewichtig bist, bist du hier die Schönste. Obwohl du gehänselt wirst, bist du hier der Held,“ sagt Andra.

Die Teilnehmer*innen stellen sich dem Publikum und der Jury, auch ihr Äußeres wird bewertet. Sie präsentieren ihren Körper, genau so wie er ist oder wie er sein soll. Dafür zollen Publikum und Jury ihnen Respekt und applaudieren. Der Ballroom ist ein Safe Space.

Die Jury sitzt auf dem Sofa, hinter ihnen das Publikum. Von links nach rechts: Father Domi Twinkle, Blossom Angels, Mother Laquefa Arise. Foto: Antonie Schlenska

Wie bei jedem Wettbewerb gibt es auch beim Voguing eine Jury, bestehend aus drei bis fünf Mothers oder Fathers. Die Jury des heutigen Abends sitzt eng nebeneinander auf einem Sofa auf der leicht erhöhten Bühne. Father Domi Twinkle strahlt das Publikum an. Blossom Angel filmt das Publikum mit ihrem Smartphone und Mother Laquefa Arise, in einem lila Turnanzug, schaut gerade auf ihr Handy.

Draußen pfeifen Regen und Wind gegen die Fensterscheiben. Trotz des Wetters bleiben Passanten stehen, um neugierig durch die große lange Fensterreihe ins Mojo Jazz Cafés zu schauen. Drinnen wartet die Jury darauf, dass die nächsten Teilnehmenden die Fläche betreten. An diesem Abend treten die Performenden in sechs Kategorien gegeneinander an: Runway, Face, Oldway, Vogue-Femme, Best Dressed und Sexuality.

Face, Runway und Best Dressed sind Fashion-Kategorien, die vom Model-Laufsteg kommen und denen bestimmte Posen zu Grunde liegen. Vogue-Femme und Oldway gehören zu der tänzerischen Kategorie und sind geprägt von rhythmischen Bewegungen und Posen. In der letzten Kategorie wird sich sexuell bewegt, beziehungsweise der Sexakt tänzerisch nachgestellt. Um Vertrauen und Respekt zu wahren ist es in dieser Kategorie verboten zu filmen oder zu fotografieren.

Die Voguing Performance sorgt für Jubel

„Die ‘Judges’ sind jedes Mal anders, genau wie deine Battle-Partner*innen, deshalb muss man immer on-point sein.“ erzählt Bendix. In der ersten Kategorie Runway stolziert er zwischen dem Publikum hindurch. Den Blick hält er dabei fest auf die Jury gerichtet.

Bendix Holm post vor der Jury. Foto: Antonie Schlenska

In der zweiten Kategorie “Face” leuchtet Father Domi Twinkle Bendix Gesicht mit dem Smartphone an. Er spannt seine Gesichtsmuskeln an. Intensive Blicke, strahlen, ernst gucken – so post er vor der Jury. Bendix’ Augen sind geblendet vom Licht des Smartphones, dennoch hält er die Augen offen. Neben ihm stellt sich sein Battle-Partner ebenfalls der Jury. Der betont mit den Händen sein Gesicht. Mit harten Kopfbewegungen buhlen sie um die Aufmerksamkeit der Jury. Mother Zueira Angel ruft zur Endpose: „Hold that pose for me!“. 

Es ist heiß, die Menschen stehen dicht gedrängt und jubeln. Weitere Smartphones leuchten aus der Masse heraus. Auch sie leuchten die beiden Wettstreitenden an. Mit Schnipsern und Pfiffen bejubeln sie Bendix und seinen Gegner.

„Eine Fashion-Gay-Performance-Szene von expressiven Menschen ist per se einfach dramatischer als andere Subkulturen, weil da viel mehr Bedürfnis- und Überlebenskampf drin steckt als bei anderen Subkulturen.“ erzählt Andra.

Ästhetik und Regularien bewahren

Aus der Not der 60er und 70er Jahre ist eine Gemeinschaft gewachsen, die sich verändert. Mehr und mehr Cis-Frauen nehmen an den Wettbewerben teil. Also Frauen, die bei der Geburt als weiblich bezeichnet wurden und die sich auch als Frau identifiziert. Sie empfingen die Veranstaltungen ebenfalls als Safe Space.

Dadurch bekommt Voguing ein anderes “Feel”, stellt Andra fest. „Nichtsdestotrotz will man die ganze Ästhetik und die Regularien am Leben erhalten. Vor allem ist die Szene für ‘queere people of colour’, weil sie sich aus ihnen heraus entwickelt hat. Sie soll auch weiterhin für diese Menschen da sein. Hier sollen sie sich weiter ausleben können.” Auch wenn der Ballroom offen für alle ist, steht die queere Identität weiter im Vordergrund.

„Die Community ist sehr schön und ansprechend. Wenn man in einem der Houses ist, hat man Sicherheit und Freunde, mit denen man trainiert“, meint Bendix. Er selbst gehört bislang jedoch keinem Haus an. Noch reicht ihm das Training in der Tanzschule und er genießt Auftritte wie im Mojo Jazz Café. An der nächsten Session will er wieder teilnehmen.

Die Ballroom-Szene bietet Raum für Individualität, hier können sich Menschen entfalten. Sie leben sich aus und laden dazu ein frei zu sein – hier in Hamburg und darüber hinaus.

Fotos: Antonie Schlenska