Sie ist Deutschlands beste Weitspringerin in der U18 und Hamburger Jugendrekordhalterin im 60 Meter Sprint. HSV-Leichtathletin Lena Anochili hat sich für die U18-EM qualifiziert. Wer ist die Top-Athletin, die bei der Europameisterschaft antreten will?

Es ist der 12. Mai, Muttertag. Rund 300 Leichtathlet*innen aus ganz Deutschland reisen nach Hamburg, um sich beim Nationalen Sportfest zu messen. Unter ihnen ist die 16-jährige Lena Anochili. Seit Januar startet die gebürtige Hittfelderin offiziell im roten Wettkampfdress für den HSV. Es ist ein aufregender Tag. Erstmals in dieser Saison läuft sie für ihren neuen Verein in der vier Mal 100 Meter Staffel. Auch über die 100 Meter wird die Elftklässlerin an den Start gehen.

Das Sportfest findet auf der Jahnkampfbahn statt, der heimischen Leichtathletiksportstätte des HSV. Der Platz liegt am Rande des Winterhuder Stadtparks. Von dort aus genießt man den Blick auf die Spitze des kupferfarbenen Wasserturms des Hamburger Planetariums. Der Geruch der Tartanbahn mischt sich mit der frischen Luft des Waldes. Trotz Wolken am Himmel ist es an diesem Sonntag angenehm warm.

Ein starkes Team für die Staffel

Gegen zehn Uhr füllt sich der Platz mit Leben, typische Wettkampfstimmung macht sich breit. Im Hintergrund läuft „Not Afraid“ von Eminem. Lena beginnt, sich vorzubereiten: warmlaufen, dehnen, Koordination, Steigerungen. Um 11:20 Uhr fällt der Startschuss für die Staffel. Das Quartett setzt sich zusammen aus Lena als Startläuferin, danach folgen Ida Schröder (16), Fridaous Nitche (15) und Maila Budack (14).

Die Stimmung unter den Mädchen ist ausgelassen. Sie singen, kichern und albern herum. Sie reden über Jungs, die neuesten Spikes und Pläne für die Sommerferien. Es sei sehr schön, Lena im Staffelteam zu haben, erzählt Maila. Bevor sie zum HSV kam, habe es niemanden gegeben, der in ihrer Altersklasse so weit gesprungen sei. Denn Ende Januar durchbrach die HSV-Leichtathletin zum ersten Mal die Sechs-Meter-Grenze. „Jetzt wollen sehr viele auch so weit springen“, sagt Maila.

Das junge vier mal 100 Meter Quartett des HSV in Rot: Die Leichtathletinnen Fridaous Nitche, Maila Budack, Lena Anochili und Ida Schröder
Das junge vier mal 100 Meter Quartett des HSV in Rot: Fridaous Nitche, Maila Budack, Lena Anochili und Ida Schröder (v. l. n. r.). Foto: Katja Niko

Gemeinsam gewinnen – gemeinsam verlieren

Eine Stunde vor Showdown betritt Vater Victor den Platz. Er erzählt, dass er früher American Football gespielt hat. Heute ist er da, um seine Tochter zu unterstützen. Gegen 11 Uhr wird es wuselig auf der Bahn. Staffeltrainer André Nehring gibt den Mädchen letzte Hinweise. Sie verteilen sich auf der Rundbahn und nehmen ihre Positionen ein.

Leichtathletin Lena Anochili steht vor dem Startblock und macht sich bereit.
Lena macht sich bereit für den vier mal 100 Meter Sprint. Foto: Katja Niko

Als der Startschuss ertönt, sprintet Lena los und ist ihren Konkurrentinnen bereits voraus. Auch der erste Wechsel klappt gut. Auf dem Weg zum zweiten Wechsel jedoch fällt der bläulich schimmernde Staffelstab zu Boden, das Team wird disqualifiziert. Die Stimmung ist angespannt, die Mädchen sind traurig und enttäuscht. Es wird kaum gesprochen. Doch Lena bleibt ruhig. „Ich bin natürlich nicht glücklich darüber, aber wir werden noch einmal laufen. Und dann wird es hoffentlich besser klappen“, sagt sie. Noch ahnt keiner, was passieren wird.

Auf die Plätze, fertig, los!

Lena muss sich nun wieder sammeln, denn der Vorlauf über die 100 Meter steht an. Hier muss sie unter die Besten kommen, um sich für das Finale zu qualifizieren. Während sich Lena auf der Tribüne ausruht, erfährt sie ihre Bahn, auf der sie später laufen wird. Bahn acht – eine weniger vorteilhafte Position, da man sich am Rand befindet und die Konkurrenz schwerer im Blick hat. Davon lässt sie sich aber nicht verunsichern. Als der Schuss fällt, katapultiert sie sich aus dem Startblock, der Blick entschlossen nach vorne gerichtet. Sie beschleunigt und rauscht nach etwa 50 Metern an ihren Kontrahent*innen vorbei. Mit einem lauten Freudenschrei überquert sie die Ziellinie. Auf der Anzeige erscheint die Zeit: 11,76 Sekunden. Damit korrigiert sie ihre persönliche Bestzeit um eine halbe Sekunde.

Leichtathletin Lena Anochili rennt in den 100 Meter Zieleinlauf
Lena im 100 Meter Zieleinlauf. Foto: Katja Niko

Im Finale setzt sie noch einen drauf und holt sich mit 11,71 Sekunden den ersten Platz. An diesem Tag ist sie die schnellste Sprinterin und lässt als 16-Jährige sowohl die U20, als auch die Frauen hinter sich. Zum Vergleich: In der U20 liegt die beste Zeit im Finale bei 12,54 Sekunden. Unter den Frauen bei 11,83 Sekunden. Eine Zehntelsekunde klingt zwar nach wenig, im Sprint ist das jedoch einiges wert.

Jubel von allen Seiten

Niemand kann so richtig glauben, was gerade passiert ist. Eine Zeit unter zwölf Sekunden habe sie sich fest vorgenommen, sagt Lena. Dass es allerdings so schnell wird, damit habe sie nicht gerechnet. „Ich habe es zuerst nicht realisiert. Ich bin ausgeflippt, weil ich es nicht glauben konnte“, erzählt sie. Ihre Teamkameradinnen springen ihr in die Arme und überschütten sie mit Glückwünschen.

Auch Maila ist eine neue 100 Meter-Bestleistung gelaufen und kann wieder strahlen. Der Patzer beim Staffellauf ist so gut wie vergessen. Als sich Lena wieder auf die Tribüne setzt, begreift sie, dass sie sich gerade für die U18-Europameisterschaft qualifiziert hat, die Ende Juli in der Slowakei stattfindet. Ob sie tatsächlich zur U18-EM fährt, entscheidet sich aber zuvor bei der Deutschen Meisterschaft der U18.

Lenas Zeit ist sogar so gut, dass sie die Norm für die diesjährigen Deutschen Meisterschaften der Frauen geknackt hat. Dafür ist sie allerdings noch zu jung, die Richtlinien des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) erlauben einen solchen Start nicht.

Siegerehrung der U18 im 100 Meter Sprint: Leichtathletin Lena Anochili gewinnt.
Siegerehrung: Lena gewinnt das 100 Meter Finale. Foto: Katja Niko

Lena ist die Jüngste in ihrer Trainingsgruppe und kann bereits mit den Erwachsenen trainieren. Das sei ihrem überragenden Talent geschuldet, so ihr Trainer Mario Kral. Mario war früher Spitzenweitspringer und ist heute Nachwuchsbundestrainer im Weitsprung. Seit 2016 trainiert er Athlet*innen des HSV. Im Training trägt er einen grauen Pulli, kurze Shorts und eine Sonnenbrille. „Ich habe Lena gesehen und das Talent sofort erkannt. Es lässt sich schwer in Worte fassen, was man als Trainer sieht. Bei ihr war das die Performance, die gestimmt hat und die Leichtigkeit, die sie mitbringt. Das war beeindruckend“, erzählt Mario. „Wenn Lena verletzungsfrei bleibt, ist sie später eine Kandidatin für die Olympischen Spiele. Da bin ich mir sicher“, sagt er.

Lena trainiert fünf Mal in der Woche, manchmal auch samstags. Angefangen hat sie in der Kinder-Leichtathletik und sich im Laufe der Zeit immer mehr gesteigert. Werfen und Hochsprung lag ihr damals nicht. Daher wählte sie die klassische Kombination aus Sprint und Sprung.

Den Nachwuchs richtig fördern

Leichtathletik beim HSV: Leistungssport-Koordinator Nils Lillie steht vor einem Gebüsch.
Leistungssport-Koordinator Nils Lillie. Foto: Katja Niko

Damit sich Talente wie Lena entfalten können, müssen sie entsprechend gefördert werden. Hier kommt Nils Lillie ins Spiel. Er ist ehemaliger Topweitspringer und arbeitet seit 2020 als Leistungssport-Koordinator beim HSV. „Wir wollen Strukturen schaffen, in denen Leistung entstehen kann. Das ist eine sehr strategische Aufgabe“, sagt er. Im Nachwuchsbereich werden deshalb ab der U12 gezielt Athlet*innen gefördert, die in Richtung Leistungssport gehen möchten.

Lena ist auch Teil des Nachwuchsbundeskader des DLV. Dadurch kann sie in den Kontakt mit Bundestrainer*innen gehen oder Lehrgänge besuchen. Nils sieht in Lena ein großes Talent. Sie habe jede Menge sogenannte Schnellkraft – das brauche man im Sprint und Weitsprung. Schnellkraft bezeichnet die Fähigkeit der Muskeln, innerhalb kurzer Zeit einen möglichst großen Kraft-Impuls zu setzen. „Diese Fähigkeiten muss man natürlich noch in gerichtete Bahnen lenken, aber das ist völlig normal in der U18“, sagt er.

Diese HSV-Stars könnten bei Olympia starten

Bei den Erwachsenen könnten sich dieses Jahr mehrere Leichtathlet*innen des HSV ihren olympischen Traum erfüllen. 110 Meter Hürdenläufer Manuel Mordi oder Kurzsprinter Lucas Ansah-Peprah seien heiße Kandidaten für Paris, so Nils. Auch Louise Wieland könnte in der vier Mal 100 Meter Staffel eingesetzt werden. Anfang Mai sicherte sie gemeinsam mit der 100-Meter-Europameisterin Gina Lückenkemper das Staffel-Ticket für Deutschland. „Wer am Ende wirklich zu Olympia fährt, entscheidet sich in den nächsten Wochen“, sagt Nils.

Gegen 16 Uhr ist der Wettkampf für Lena vorbei. Der Sieg ist abgestaubt, die EM-Norm in der Tasche. Nun kann sie sich entspannen und den Feiertag ausklingen lassen. Ab Montag werden wieder die Spikes geschnürt. Lena wird in zwei Jahren ihr Abitur schreiben. Was sie danach macht, steht noch nicht fest. „Früher wollte ich Architektin oder Anwältin werden. Vielleicht werde ich aber auch Polizistin, weil das mit dem Sport gut passt“, sagt sie.

Über die HSV-Leichtathletik

Die Leichtathletik-Abteilung des HSV wurde 1887 gegründet und hat knapp 1300 Mitglieder*innen. Damit zählt sie zu den größten Leichtathletikstandorten in Deutschland. Heimstätte ist die Jahnkampfbahn, sie liegt im Hamburger Stadtpark. Bei schlechtem Wetter können die Athlet*innen in der nahegelegenen Leichtathletikhalle trainieren, die mit Tartan verbaut ist.

Katja Niko, Jahrgang 2001, mag keinen Kaffee, ist aber trotzdem immer hellwach. Die passionierte Leichtathletin mit Spezialgebiet Sprint wird auf eine Profikarriere leider verzichten müssen: Schon zweimal hat sich ihre Kniescheibe aus ihrem eigentlichen Aufgabenbereich verabschiedet. Dafür wächst die Fan-Foto-Sammlung weiter – ganz oben auf der Liste: ein Selfie mit der schnellsten Frau Europas. Nach sieben Semestern Journalistik und diversen Medienpraktika hat Katja beschlossen, ihre Heimatstadt Stuttgart zu verlassen und in eine echte Medienstadt zu ziehen. Auf ein Bad in der Elbe verzichtet sie aber vorläufig – in Australien musste sie schon einmal von der Küstenwache aus dem Pazifik gerettet werden. Kürzel: kat

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