Gabriele Rossmanith ist Opernsängerin. Über dreißig Jahre lang gehörte sie zum Ensemble der Staatsoper Hamburg. Über eine Frau, die als Mädchen Aufmerksamkeit suchte und ihr Glück fand.

Ein sehr schönes und ebenso scheues Mädchen sitzt weinend an einem Brunnen im dunklen Wald. Ihre Krone ist hineingefallen. Ein Prinz trifft während der Jagd auf das geheimnisvolle Mädchen und heiratet sie, ohne etwas über sie zu wissen. Sie heißt Mélisande und hat nie gelebt.
„Manche Rollen passen wie ein Kleid, das für dich genäht ist“, sagt Opernsängerin Gabriele Rossmanith. Das Kleid von Mélisande in Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ passte perfekt.

1956 wurde Gabriele in einem biederen Dorf nahe Stuttgart geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Doch die Musik war immer da in der Familie. Sie lernte Geige spielen, auf einer Violine, die ihr Großvater in der Bettdecke während des Krieges geschmuggelt hatte. Fünf Jahre lang studierte sie an der Hochschule Trossingen Geige als Hauptfach. Es schien, als sei ihre Zukunft gesetzt, doch: „Während dieser Zeit nahm das Singen einen immer größer werdenden Raum ein“, erzählt Gabriele.

Junge Frau mit braunen Locken
Gabriele Rossmanith: “Meine Eltern haben sich für den Musikunterricht alles abgespart.” Foto: Jörn Kipping

Also trainierte sie ihre Stimme. Ihr damaliger Geigenlehrer stand kurz vor der Rente. Seine Altersmilde war Gabrieles erste unwillkürliche Weichenstellung: „Die Weichen sind ganz interessant in meinem Leben.“ Sie erinnert sich: „Wäre er jünger gewesen, hätte er mir das verboten. Das Singen nahm der Geige Kraft und Fokus. Aber er ließ mich machen.“ Gabriele verließ die Violine, gepeinigt von Schuldgefühlen. Mehrere Jahre lang suchte sie in Albträumen ihre Geige in der Angst, sie irgendwo vergessen zu haben. „Ich war wie zwischen zwei Geliebten“, sagt sie. „Ich glaube, so wie ich damals drauf war, hätte ich auf meinen Professor gehört und wäre nicht hier.“

Ambivalenz des Alterns

Gabriele steht auf, geht am Flügel vorbei und bleibt an der Wand im Probenraum stehen. An der Wand pinnen Fotos, über 100 Stück. Sie zeigen bunt verkleidete Menschen auf Bühnen, am Flügel oder wie sie sich die Bäuche und den Hals halten. Es sind Gabrieles Auszubildende des Internationalen Opernstudios der Stadt Hamburg, dessen Leitung sie 2020 übernommen hat. Acht junge Singende, die zwischen Hochschulabschluss und Profikarriere stehen. Etwa vierzig Jahre ist es her, dass auch Gabriele am Anfang ihrer Karriere stand.

“Ich habe in albträumen meine geige gesucht”

Die Zigarette glüht, aber es steigt kein Rauch auf. Gabriele hält sie elegant in ihrer Hand und sieht dabei aus, als rauche sie wirklich. Die Zigarette ist Requisite für Ciboulette, die Abschlussproduktion des Internationalen Opernstudios. Gabriele ist eine kleine Frau, nicht größer als 1,60 Meter, spricht mit schwäbischem Dialekt, den sie bei der Probe ablegt. Lange, braune Locken, in denen nur ein paar graue Strähnen verraten, dass sie 68 Jahre alt ist, hat sie zu einem Bauernzopf geflochten.

Ihr Gesicht zeichnet grazile Linien, die Augen liegen tief. Ihre Wangenknochen sind hoch, ihr Gesicht hat etwas Jugendliches und Erhabenes. Gabriele wirkt bei der Probe hochkonzentriert, die Absprachen laufen routiniert ab. Die Atmosphäre zwischen ihr und den Auszubildenden ist ungezwungen. Ob es schwer ist, nicht mehr die Hauptrolle zu spielen? „Ich liebe es, meine Geheimnisse weiterzugeben. Deshalb ist dieser Wechsel nicht nur schwer,“ sagt sie.

“Besonders liebe ich es, auf Französisch zu singen”

Der Weg zur Gesangskarriere war „easy“. 1985 kam ein Agent in der Hochschule vorbei, ließ sie vorsingen und schickte sie im Anschluss zur Badischen Staatsoper nach Karlsruhe. So bekam sie ihre erste feste Stelle und debutierte als Doppelbesetzung der Annina in Verdis “La Traviata”. Drei Jahre später setzte sie sich gegen 500 andere Sängerinnen durch, die wie sie an der Staatsoper in Hamburg vorsangen.

Ein Agent hörte bei einer Uraufführung in Karlsruhe zu. Und schickte die junge Frau in die Hansestadt, die ihr wie ein fernes, fremdes Land vorkam, in dem sie nie zuvor gewesen ist und in das sie gar nicht wollte. Ihr hat es in Karlsruhe gefallen. „Ich war deshalb locker und habe nicht um mein Leben gesungen,“ erinnert sie sich. Der Agent aber rief mehrmals an. Also ging Gabriele nach Hamburg: „Das Glück meines Lebens.“

Eine Frau steht auf der Bühne, das Foto ist schwarz weiß
Gabriele Rossmanith auf der Bühne. Foto: Jörn Kipping

Bis 2022 war Gabriele festes Ensemblemitglied der Hamburger Staatsoper. Als Pamina in der “Zauberflöte”, Susanna in “Die Hochzeit des Figaro”, Musetta in “La Bohème”. Es gibt für jedes Stimmfach erstrebenswerte Rollen. „Ich kann sagen, dass ich alle im Laufe meiner Karriere singen konnte,“ sagt sie. Besonders liebe sie es, auf Französisch zu singen. Auch Italienisch spricht sie. „Es ist sehr hilfreich, wenn man die Sprache, in der man singt, auch versteht. Man ist dann einfach besser.“

Um die Welt und immer wieder zurück

Antwerpen, Brüssel, Barcelona, Toulouse, Straßburg – Gabrieles Gastengagements gleichen einer Metropolreise durch Europa. Tourneen führten sie nach Mittel- und Südamerika, Japan, Kanada und Israel. Irgendwann kam ein Zeitpunkt – Gabriele unterbricht kurz, der Blick wandert nach oben, sie überlegt – an dem sie sich entscheiden musste. Es habe nicht viele wichtige Entscheidungen in ihrem Leben gegeben, das meiste sei ihr einfach so passiert. „Ein Regisseur wollte mich immer wieder nach Brüssel und Antwerpen holen. Ich habe keinen Urlaub in Hamburg bekommen und der Agent riet mir zu kündigen,“ erinnert sie sich, faltet die Hände, „er sagte mir: „so machst du keine Karriere“. Und das stimmt! Ich hatte viele Angebote, die ich aufgrund meiner Festanstellung nicht annehmen konnte.“

Aber Gabriele blieb im Ensemble: „Ich habe abgelehnt und wurde von da an nicht mehr gefragt. Ich habe mir dort also geschadet.“ Gabriele bereut diese Entscheidung nicht. Sie wollte nicht aus dem Koffer leben, sondern stattdessen ein Zuhause und einen sicheren Job haben.

Es ist 1989, über 1000 Gäste sitzen im Saal auf charakteristisch roten Sesseln und besuchen “Die Hochzeit des Figaro”. Im Publikum sind Gabrieles Eltern mit einem befreundeten Paar, das ihren Sohn Jörn mitgebracht hat. Sie gehen im Anschluss gemeinsam essen, auch ein Freund von Jörn ist dabei. Gabriele beachtet den Sohn gar nicht. Jörns Freund schließt eine Wette um Gabriele ab und fordert Jörn auf, sie um den Finger zu wickeln: „Wenn du das schaffst, kriegst du sechs Flaschen Beaujolais“, sagt er zu ihm. Er bekam das halbe Dutzend Rotweinflaschen. Gabriele durfte mittrinken und fand so ihren späteren Ehemann. Sie lacht, während sie diese Geschichte erzählt.

Fast klischeehaft treffen damals zwei Welten aufeinander. Er: einige Jahre jünger, bei der Marine und ständig unterwegs, tanzend auf Feiern. Sie: brav und pflichtbewusst, zielstrebig, verbringt jede freie Minute mit Üben. „Und dann war ganz schnell klar, dass er es ist. Durch ihn bin ich immer jünger geworden. Das tat mir gut.“ 1998 wurde ihr gemeinsamer Sohn Johann geboren.

Sollbruchstelle Alter

Die Uhren ticken. Sollbruchstelle Alter in der Kulturbranche: Models bangen um ihr faltenloses Gesicht, Ballerinas gehen mit 40 Jahren in Rente, wenn andere erst mit ihren Karrieren durchstarten. Auch in der Opernbranche spielt der Körper auf Zeit, das Singen wird ab 40 schwerer. Junge Frauen springen und tanzen und wälzen sich über die Bühne, spielen Prinzessinnen, Kurtisanen, Zofen. Bei jedem Intendantenwechsel hatte Gabriele Angst, gekündigt oder kalt gestellt zu werden. Die Gesellschaft wird immer älter, doch die Bühnen spiegeln das nicht wider. Sind Gesang und Tanz an Jugend gebunden? Auch wenn ein japanisches Sprichwort besagt, dass das Leben erst in seiner letzten Phase seinen Höhepunkt erreicht, so gilt das häufig nicht für Frauen.

Gabriele weiß das. Sie reckt ihren Hals empor und fährt mit den Fingern ihre Kehle entlang: „Diese dünnen Bändchen,“ sagt sie, „an denen alles hängt. Die Karriere endet dann, wenn die Stimme nicht mehr mitmacht.“ Auch sie habe Angst, das anzunehmen, versuchte aber immer, dem entgegenzuwirken: „Ich habe nie über mein Fach oder zu schwere Partien gesungen, bei denen ich meine Stimme verschlissen hätte. Ich habe immer Gesangsunterricht genommen, meine Technik poliert.“ Und dennoch wird das Singen immer schwerer. Die Spannkraft lässt nach, die Stimme wackelt.

Eine gestandene Frau

Es ist nicht nur körperlicher Verschleiß, der zu den Symptomen des Alterns gehört. Die Scham führt vor Augen, was der Körper vielleicht noch kompensieren könnte, der Geist aber nicht. Gabrieles Stimmfach ist Sopran. Mit über 50 Jahren habe man es schwer, in diesem Stimmfach engagiert zu werden, meistens seien es “junge, süße, sexy Frauen”, sagt sie. „Wir stehen mit Haut und Haar auf der Bühne. Ich habe mich irgendwann geschämt, wenn ich mit über 50 Jahren noch die Gretel gespielt habe. Dann habe ich Zöpfe bekommen und die Eltern wurden gespielt von jungen Singenden die meine Kinder sein könnten. In ‘Die Hochzeit des Figaro’ war ich weit über 50 und der Figaro hätte locker mein Sohn sein können,“ erzählt Gabriele. Sie schmunzelt zwar und wirkt gestanden, doch die Schwere des Themas ist deutlich spürbar.

Eine Frau in Ballkleid guckt in die Kamera
Die einschneidenste Entscheidung in ihrem Leben war, die Geige wegzulegen. Foto: Jörn Kipping

Wie geht man damit um? „Es ist schwierig,“ Gabriele überlegt, „auf der Bühne vergisst man das, aber ansonsten fühlt sich das falsch an.“ Umso schöner seien Rollen, mit denen sie sich identifizieren könne. Die Festanstellung an der Staatsoper Hamburg sei ihr Glück gewesen – so konnte Gabriele auch mit über 50 Jahren noch große Rollen spielen, wie das Ännchen im “Freischütz”. Normal sei das nicht, sagt sie. “Das, was wichtig ist, verändert sich. Ich wollte auf die Bühne, wollte singen, war musikalisch. Ich habe die Aufmerksamkeit bekommen, die ich gebraucht habe. Und das hat sich dann verändert. Ich liebe es auf der Bühne zu sein, aufzumachen und das Publikum zu spüren. Es gibt Abende, die sind wie ein schwarzes Loch, wenn keine Spannung da ist und alle halb schlafen in ihren Sitzen. Da kannst du nicht viel machen, aber beglückend ist es, wenn ein Energieaustausch stattfindet.“

Im Hier und Jetzt

Zukünftig wird Gabriele auf Honorarbasis bei der Staatsoper Hamburg arbeiten. Handarbeiten wie Stricken und Nähen, Upcycling und Kochen liegen ihr: „Die Töne, die ich mache, die kann man nicht anfassen, die sind im Raum. Was ich genäht oder gekocht habe, ist konkreter.“ Im Hier und Jetzt zu sein, das gelingt ihr allerdings nicht immer. Ein Manko, das sie in ihrer Rentenzeit, die kurz bevorsteht, ablegen möchte.

Eine weiße Uhr mit weißem Armband ohne Ziffernblatt. Keine Zeiger, die die Uhrzeit verraten. “Schau mal, was für eine Uhr Johann mir vor ein paar Jahren geschenkt hat,“ steht in der Whatsapp-Nachricht von Gabriele, „sie zeigt nur eine Zeit an.“ Auf dem Ziffernblatt steht in schwarzen kleinen Buchstaben „now“.

Karoline Gebhardt, geboren 1994 in Reinbek, ist Ex-Landesmeisterin im Bogenschießen. Zu dem Hobby kam sie durch den Film „Plötzlich Prinzessin“. Heute schaut sie lieber koreanische Filme mit Untertiteln. Bei Metal-Konzerten crowdsurft sie und landete dabei schon im legendären Club Logo auf der Bühne. Im Bachelor studierte sie Bibliotheks- und Informationsmanagement und recherchierte als Werkstudentin bei der dpa für die Katastrophen-Warn-App Nina. Für „Szene Hamburg“ testete Karo Restaurants und schmiedete für eine Reportage ein Küchenmesser. Karoline ist besessen vom Thema Quiz, ob im Pub oder im TV - sie selbst bezeichnet sich als Günther-Jauch-Ultra. Kürzel: kar