Trump oder Harris? Weder noch! Zumindest, wenn es nach Dylan Johnson geht. Er hat bewusst nicht gewählt. Warum der Amerikaner vom Wahlsystem enttäuscht ist und was das Ganze mit abgeschnittenen Zehen und Fingern zu tun hat.
„Ich habe nicht für Trump gestimmt. Ich habe nicht für Harris gestimmt”, sagt Dylan Johnson. Der Amerikaner steht vor dem Weißen Haus an der Alster. Die US-Flagge weht hier schon länger nicht mehr auf dem Dach. Er ist besorgt über die Demokratie in seinem Land. Deshalb – oder trotzdem – hat er nicht gewählt.
Es ist Rushhour vor dem ehemaligen US-Konsulat. Noch vier Tage bis zur Wahl. Fahrräder klingeln Jogger*innen aus dem Weg. Es nieselt. Mittendrin: Dylan Johnson, 29. Er sieht aus, als hätte jemand die Worte „junger Philosoph” in eine Bildgenerierungs-KI eingegeben: Rollkragenpullover, Schnauzer, Zigarette. Er schreibt gerade an seiner Doktorarbeit in Wirtschaftswissenschaften.
Worum es in seiner Doktorarbeit geht? „Wie viel Zeit habt ihr?”, fragt er lachend. Ohne auf die Antwort zu warten, gibt es eine Zusammenfassung: Grob gehe es um Wahlsysteme, konkret um „liquid democracy”, flüssige Demokratie. Der Akademiker ist kein typischer US-Amerikaner, wie sie in Serien gezeigt werden. Statt mit dem Bus zu fahren, möchte er laufen. Statt einem Long Island Ice Tea wird er später ein Hefeweizen trinken. Statt Politik als kurzes Smalltalk Thema anzureißen, redet er ausführlich über die US-Wahl.
In der Kindheit schießen lernen
Johnson bläst Rauch in Richtung Außenalster. Die gelbe Camel-Packung darf nicht mit auf die Fotos: Seine Mutter wäre sauer. Seine Eltern wohnen in Iowa, einem dieser „flying over states”, laut Johnson. Der Teil Amerikas, den Menschen überfliegen, um von New York nach Los Angeles zu gelangen. Johnson sei mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder am Rande von Des Moines aufgewachsen. In der Hauptstadt Iowas leben ungefähr so viele Menschen wie in Rostock; auf der anderen Straßenseite seines Hauses seien nur Felder gewesen.
Johnson sagt: „Es ist ein sehr sicherer, aber ein ziemlich langweiliger Ort.” Die Menschen dort seien homogen, in seiner Schule seien neunzig Prozent weiß gewesen. Er sei fünf oder sechs gewesen, als er das erste Mal mit einer Pistole geschossen habe. Ungefähr acht als er das erste Mal ein Quad gefahren sei. Seine Hände erzählen die Geschichte mit: Revolver und Beschleunigung. Man merkt, dass Johnson mit einer Italienerin verheiratet ist. Die Hand mit Ehering hüpft auf und ab.
Sein Vater habe als Helikopterpilot gearbeitet, erst bei den „Marines”, das ist sozusagen die Army-Einheit der US-Marine, dann bei der Nationalgarde; seine Mutter sei Sozialarbeiterin gewesen. Sein Vater sei konservativ, seine Mutter liberaler. So richtig gezeigt habe sich das 2008, da war Johnson 13. „Ich erinnere mich, als Obama gegen McCain gewann." Während er sich über den Triumph der Demokraten freute, habe sich sein Vater in sein Büro eingeschlossen. „Weil er so wütend war, dass Obama gewonnen hatte“, sagt er.
Seine hellblauen Augen scannen die Person, mit der er spricht, genau. Der Zeigefinger gleitet immer wieder zum Schnauzer. Er sagt: „Ich mag es, Unruhe zu stiften. Deshalb habe ich bei meinem republikanischen Dad eher demokratisch argumentiert und mit meiner demokratischen Mutter eher republikanisch.” In seiner Familie werde nicht mehr über Politik geredet, weil das immer ein bisschen ausarte. „Ich habe keine Ahnung, wen mein Bruder und meine Schwester wählen werden.”
Von den USA nach Europa
Auf der Außenalster drehen Segelboote, Ruderboote und Alsterdampfer ihre Bahnen. Das Wasser klatscht an die Felswand am Hamburger und Germania Ruder Club. Der Himmel über dem Hotel Atlantik wird immer grauer. Johnson gibt ausführliche Antworten. Er macht wenig Pausen. Er wirkt wie einer, der gewohnt ist, dass man ihm zuhört.
Johnson ist der Erste aus seiner Familie, der den Kontinent verlassen hat, um in Europa zu leben. Seine Eltern glaubten lange, er würde eines Tages Pastor werden, weil er sich so viel mit der Bibel beschäftigte. Zu seiner Heimat würde das auch besser passen – dort sind 77 Prozent der Bevölkerung christlich. Zum Vergleich: In Hamburg sind es um die 35 Prozent. Dort wohnt Johnson seit 2018.
Als im Ausland lebender Amerikaner läge es in seinem Eigeninteresse, Trump nicht als Präsident zu haben – „from a branding perspective”, wegen der Außenwirkung der Vereinigten Staaten. 2020 habe Johnson für Biden gestimmt. Hauptsächlich, weil er die Regierung von Trump so sattgehabt habe. „Es war nicht einmal das B-Team. Es war als ob das D-Team das Land anführte. Und das konnte ich einfach nicht unterstützen”, sagt er. Aber warum wählt er dann dieses Mal nicht?
Von abgeschnittenen Fingern und US-Wahlen
Um das zu erklären, holt Johnson weit aus. Es scheint, als habe er sich diese Analogie zurechtgelegt: Du wachst in einem weißen, sterilen Raum auf. Jemand kommt rein und sagt: Wir müssen dir einen Zeh oder einen Finger abschneiden. Aber weil wir eine Demokratie sind, kannst du dir aussuchen, was wir machen. Johnson führt weiter aus: „Das ist keine Wahlfreiheit – ich habe nie zugestimmt, in diesem Raum zu sein. Also entscheide ich mich auch nicht. So kann später niemand sagen, ich hätte eine Entscheidung getroffen, dass mir ein Körperteil abgeschnitten werden soll.”
Johnson lehnt das Wahlsystem in den USA ab, bezeichnet die Demokraten und Republikaner als „political companies”, als politische Firmen. Johnson spricht ebenfalls davon, dass sich Nichtwähler selbst kastrieren. Trotzdem sei es ihm wichtiger, zu zeigen, dass er gegen das Zweiparteiensystem ist.
Er sagt: „Mich macht es sehr traurig und wütend, dass ich Demokraten oder Republikaner wählen muss.” Deswegen habe er Kennedy unterstützt, bevor er seine Kandidatur niedergelegt und ins Team Trump gewechselt ist. Vor allem sei Johnson traurig, dass die Wahl nur noch ein Spektakel sei. Deshalb habe er nicht gewählt.
Das berichtet er auf dem Weg zum Gänsemarkt. Dort gebe es eine amerikanische Bar. Immer wieder guckt er auf seine Apple-Watch, checkt unauffällig seine Nachrichten. In der Bar bestellt er ein bayrisches Weizen.
Iowa sei tiefrot, seine Stimme mache keinen Unterschied. Auch nicht für das Repräsentantenhaus? Doch, dafür vielleicht. Am 5. November stimmten in Iowa rund 56 Prozent für die Republikaner. Heißt: sechs Wahlleute für Trump. Drei der vier Wahlkreise fürs Repräsentantenhauses gehen ebenfalls an die Republikaner. Beim vierten Wahlkreis ist das Rennen aktuell sehr eng.
Nach der Wahl antwortet Johnson als Textnachricht auf die Frage, wie er die Wahl einschätze: „Ich bin nicht glücklich, dass Trump Präsident geworden ist, aber ich glaube nicht, dass es das Ende der amerikanischen Republik ist."