Aktivist*innen der Gruppe „Letzte Generation” klebten sich im November in der Elbphilharmonie Hamburg fest. Solche Protestformen gehen vielen auf die Nerven – aber vielleicht funktionieren sie trotzdem? Was sagt die Wissenschaft? Ein Kommentar.
Titelbild: Letzte Generation
Entnervte „Oh nein”-Rufe tönten von den Tribünen der Elbphilharmonie, als zwei Aktivist*innen der „Letzten Generation” das Dirigentenpult betraten. Eine Welle aus Buh-Rufen, Pfiffen und bösen Kommentaren rollte auf das Podium zu – tongewaltig dank perfekt ausbalancierter Akustik im großen Saal. Eigentlich wollten dort gleich die Musiker*innen der sächsischen Staatskapelle ein Beethovenkonzert starten.
Statt virtuoser Violindarbietung hörte das Publikum nun radikale Appelle zur fortschreitenden Klimakrise. Die Aktivist*innen klebten sich dahin, wo es wehtut – in die Freizeitgestaltung argloser Kulturgenießer*innen. Gedankt hat den Aktivist*innen niemand.
Die „Letzte Generation” betreibt erzwungenes Agenda-Setting, weil ihre Mitglieder das für unerlässlich halten. Die Erde rast auf durchschnittliche Temperaturerhöhungen von zwei Grad und mehr zu. Millionen Menschen rund um den Globus protestieren, um den Klimaschutz immerhin im Gespräch zu behalten. Aber Transformation ist träge.
Das Protestpedal durchgedrückt
Die Störung des D-Dur-Violinkonzerts reiht sich ein in die inzwischen beachtliche Protestserie der „Letzten Generation”. Allein während dieser Text entstanden ist, besprühten die Aktivist*innen die Zentrale des Deutschen Fußballbunds mit schwarzer Farbe, blockierten diverse Straßen und legten kurzzeitig einen Teil des Berliner Flughafens lahm, indem sie sich auf das Rollfeld setzten. In einer Pressekonferenz kündigten sie an, in Zukunft ihre Schlagzahl noch erhöhen zu wollen.
„It doesn’t matter if they hate us”, sagt Miriam Meyer, Ativistin der Gruppierung in einem Youtube-Interview. Die „Letzte Generation” agiert nicht nur in Hamburg nach dem sehr alten PR-Prinzip: „Any publicity is good publicity.” Solang die Öffentlichkeit über die Forderungen der Organisation redet, ist sie ihrem Ziel ein Stückchen näher gekommen.
Wie radikal darf, wie radikal muss Klimaaktivismus sein? Vielleicht findet sich die Antwort ja in der Historie sozialer Bewegungen: Forscher*innen sprechen von einer „positive radical flank effect hypothesis” – „radikale Flanken” sozialer Bewegungen sollen positive Effekte haben?
Die Hypothese funktioniert etwa so: Eine soziale Bewegung (zum Beispiel die globalen Klimaproteste, es gibt aber auch Publikationen etwa zur Bürgerrechtsbewegung in den USA) wird größer, je mehr Leute sich ihr anschließen. Je größer eine Bewegung wird, desto mehr Menschen mit spezifischen Interessen treten ihr bei. Anstatt des ursprünglichen Fokus der Bewegung auf das gesetzte Ziel (z.B. die Forderung nach der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens) setzt diese Untergruppe einen anderen Fokus (z.B. die Durchsetzung des Neun-Euro-Tickets). Beide agieren aber unter der gleichen Handlungsmaxime: der Aufforderung zum ernsthaften Kampf gegen die Klimakatastrophe.
Die Untergruppe mit spezielleren Interessen und weit weniger Mitgliedern als die Hauptgruppe agiert nun als „radikale Flanke”. Entweder sind ihre Forderungen, oder aber ihre Durchsetzungsmethoden extremer. So etwa verhält sich die „Letzte Generation” zu „Fridays for Future”.
Falls der moderate Hauptanteil einer sozialen Bewegung nicht das erreicht, was er erreichen will, kommt die radikale Flanke ins Spiel. Sie fordern das Gleiche wie der gemäßigte Teil, aber mit anderen Mitteln: Sie blockieren Straßen und Flughäfen, werfen Kartoffelbrei auf Gemälde oder verzögern ein D-Dur-Violinkonzert um sechs Minuten.
Das hypothetische, bestmögliche Ergebnis: Die Bundesregierung schenkt den Forderungen von „Fridays for Future” mehr Aufmerksamkeit und nimmt damit der „Letzten Generation” die Grundlagen für ihre Forderungen.
Hypothetisch, mehr geht nicht
Der radikale Flanken-Effekt ist auch in anderen sozialen Bewegungen erkennbar, aber nicht leicht zu erforschen. Und er könnte auch in die andere Richtung wirken – dass die radikale Flanke die Öffentlichkeit von den eigentlichen Zielen der Gruppierung forttreibt.
Die Störung des Beethovenkonzerts endete für die beiden Aktivist*innen der Elbphilharmonie in Hamburg relativ abrupt. Die Stange am Dirigentenpult war abnehmbar, die Protestierenden landeten samt Stange im Flur. Das so entstandene Bild wirkt unfreiwillig komisch.
Starviolinistin Julia Fischer, Hauptattraktion des Konzert-Abends, sympathisierte im Anschluss mit den Aktivist*innen: „Erstens gelingt es der Weltgemeinschaft offenkundig nicht, die größte Krise der Menschheit, die Klimakatastrophe, gemeinschaftlich anzugehen. Darüber muss gesprochen werden und nicht über junge Leute, Sekundenkleber und eine Stange am Dirigentenpult.” Sie ist nicht die Einzige, die ihre Unterstützung bekundet – immer wieder zeigen Videos, wie sich Passant*innen etwa den Leuten, die sich am Asphalt festkleben, spontan anschließen.
Im Endeffekt hängt der Erfolg der „Letzten Generation” von der Öffentlichkeit ab. In einer aktuellen Studie betonen Forscher*innen die Notwendigkeit, radikale Flanke und moderate Gesamtbewegung auseinanderzuhalten. Dennoch könne die radikale Flanke die öffentliche Unterstützung erhöhen. Ob die „Letzte Generation” das schafft, wird sich mit der Zeit zeigen.