Eine Stunde vor Showbeginn im Stage Operettenhaus, Hamburg. Gleich beginnt das Musical “Tanz der Vampire”. Haare flechten, Gesicht schminken, Stimme ölen, Mikro prüfen. Was hinter den Kulissen passiert, wenn der Countdown läuft.
„You can have it all”, prophezeit die pinke Postkarte, die am Schminkspiegel von Anja Backus klebt. Der geflochtene Zopf fällt der 36-Jährigen über die Schulter, als sie sich über den Schminktisch beugt, nach dem Lippenstift greift — und damit den Spiegel bemalt. „154” steht da jetzt in Rot. „Damit ich immer weiß, wie viele Shows ich hier in Hamburg schon als Magda auf der Bühne gestanden habe”.
Magda ist eine Rolle im Musical „Tanz der Vampire”. Und Anja Backus ist Schauspielerin. Es ist Dienstagnachmittag und im Stage Operettenhaus Hamburg beginnt in einer Stunde die Show. Die meisten Menschen stehen zu dieser Zeit mit einem Bein im Feierabend, doch für Backus fängt um 17.30 Uhr der Arbeitstag gerade an. Die Stunde, die ihr zwischen der Anmeldung beim Portier des Theaters und dem Öffnen des Vorhangs bleibt, ist gut geplant und streng getaktet.
Ausgezeichnet: Der Goldene Knoblauch
Anja Backus’ Garderobe ist ein kleiner Raum mit einem Fenster, einem roten Sofa, Kleiderstange, Snack-Ecke, einem Waschbecken und zwei Schminktischen. Beim Betreten des Raums fällt der Blick sofort auf die Fensterbank. Dort reiht sich ein goldfarbener Knoblauch an den anderen. Die bemalten Knollen sind allerdings kein Requisit, sondern eine Trophäe.
Die Darstellenden verleihen den Goldenen Knoblauch am Ende jeder Spielzeit untereinander. Gekürt wird alles, was auf oder hinter der Bühne so grandios war, dass es eine Auszeichnung verdient hat. Anja Backus hat eine beeindruckende Sammlung davon. „Ja, ja, das sind alles meine”, sagt sie halb ironisch, halb stolz. „Einmal für das beste Make-up, den lustigsten Patzer und dreimal „Biggest Diva” – den gibt es, wenn Frauen ‘ne Meinung haben. Aber das ist ja überall so, nicht nur im Theater.”
Den Goldenen Knoblauch für die Biggest Diva gibt es, “wenn Frauen ‘Ne Meinung Haben”.
Andere Kategorien, für die ein Goldener Knoblauch vergeben wird, sind zum Beispiel der beste Swing (jemand, der*die viele verschiedene Rollen im Stück spielen und bei Ausfällen einspringen kann), die lustigste Panne und der beste Sturz. Mit Letzterem ist nicht etwa ein Stunt gemeint, sondern die Person, die während einer Show vor Tausenden von Menschen am spektakulärsten hingefallen ist. Und das passiert gar nicht so selten: „Gerade nach einer Biss-Szene mit all dem Kunstblut auf der Bühne und dazu den schweren Kleidern – da kann es schnell passieren, dass man ausrutscht”, erklärt Backus. Verständlich also, dass bei jeder Show für alle Rollen mindestens ein, manchmal sogar zwei sogenannte Cover, also Zweitbesetzungen, im Haus sind, die jederzeit einspringen und die Show zu Ende spielen könnten.
Multitasking muss sein
Die Tür geht auf, eine blonde Frau kommt herein. Carina Nopp (35) gehört der zweite Schminktisch in der Garderobe. Die Schauspielkolleginnen kennen sich seit ihrer ersten gemeinsamen Produktion vor 13 Jahren. „Man trifft sich meist früher oder später in einer anderen Produktion wieder”, erklärt Backus. „Wenn man Glück hat. Oder Pech. Aber meistens Glück”. Das Wiedersehen mit Nopp fiel für Backus in die Kategorie Glück – die Kolleginnen quatschen und lachen, während Backus Pinsel, Puder und Tuben auspackt und sich damit in ihre Rolle, die Magd des Wirtshauses, verwandelt.
In der kurzen Vorbereitungszeit, die Backus sich vor Showbeginn einräumt, müssen mehrere Prozesse parallel laufen. Bei acht Shows an sechs Tagen die Woche hat sie die Abläufe in der Garderobe mittlerweile perfektioniert. Multitasking ist gefragt. Die Zeit zum Schminken nutzt sie gleichzeitig fürs Einsingen und für einen letzten Kaffee vor Showbeginn. Um ihre Stimme aufzuwärmen, braucht die Sängerin ein YouTube-Video und ein Requisit: den „Singing Straw”.
Ein dünnes Metallrohr von etwa zehn Zentimeter Länge, das Backus jetzt zwischen ihren Lippen hält. Sie bläst die Wangen auf und summt durch das Röhrchen die Tonleitern und Dreiklänge nach, die von der Frau im Video angestimmt werden. Währenddessen verteilt sie weiter rosa Puder auf ihren Augenlidern. Für Nopp gehört das YouTube-Video ihrer Kollegin mittlerweile auch zur Routine. Sie kann die Anweisungen aus dem Smartphone längst mitsprechen.
Aus braun mach rot
Wenn das Make-up sitzt und die Stimme aufgewärmt ist, geht es für Backus zwei Stockwerke tiefer, in den Bereich direkt neben der Bühne. Dort befinden sich nebeneinander die Technik, die Maske und das Kostüm. Die Notausgangsschilder und das Licht, das durch die offenen Türen der drei Räume fällt, tauchen den Gang in schummriges Licht. Ein Sarg, eine Geige und zwei alte Weinflaschen liegen hier bereit für ihren Einsatz auf der Bühne.
In der Maske angekommen, flechten zwei Frauen Backus’ langes braunes Haar in Zöpfe, rollen sie ein und stecken die Schnecken seitlich an ihrem Kopf fest. Darüber ziehen sie einen Nylonstrumpf, dann kommt die Perücke: ein langer rothaariger Flechtzopf.
Best Midnight Snack?
Auf dem kurzen Weg von der Maske in die Technik begegnen Backus mehreren Kolleg*innen. Sie fallen sich überschwänglich um den Hals. Es wird gedrückt, geküsst und gelacht. Manche von ihnen sind als Cover, im Haus und werden – wenn alles gut geht – heute nicht auf der Bühne stehen. Damit auch die Cover bei der Arbeit ihren Spaß haben, laufen bei ihnen bald die Switch-Konsolen heiß: Sie vertreiben sich die Zeit hinter der Bühne mit ein paar Runden Mario Kart.
Die Technik verkabelt Backus, klebt ihr das Mikro an die Stirn. Wie selbstverständlich beginnt sie zu singen: „Aaaavocado und in Knoooblauch eingelegte Oliiiveeen”. „Best Midnight Snack? Wrong answers only!” lautete das Thema des Soundchecks – und Anja Backus isst nachts am liebsten ein Stück Schokolade oder einen Proteinriegel. Das Thema für den Soundcheck wechselt täglich. Der handgeschriebene Zettel hängt am Eingang zum Technikraum. Text und Melodie werden improvisiert. Mit dem „besten Mitternachtssnack”, dem „Lieblingsfilm” oder dem „besten Hit der 80er” schaffen die Sänger*innen in der Technik Abend für Abend improvisierte musikalische Werke.
Die letzten Minuten laufen
Noch 15 Minuten bis zum Auftritt. Backus’ letzter Boxenstopp vor Showbeginn: das Kostüm. Ein mittelgroßer Raum mit Kleiderstangen und Regalen, aus denen Kleider, Mützen und andere Accessoires quillen. Ein einzelner Schuh liegt noch auf dem Boden herum. Bühnenunterwäsche, Kleid, Schuhe, Accessoires und Häubchen an – und schon ist Backus für die nächsten drei Stunden Magda, die Magd. Und später Magda, der Vampir.
Kurz vor Spielbeginn sehen die Darstellenden, in welcher Besetzung sie heute miteinander spielen: Alle kommen in einem Kreis hinter der Bühne zusammen. Der Abendspielleiter bespricht, ob es in der Aufführung Besonderheiten gibt. Dann erschallt die Durchsage „Places” hinter der Bühne. Alle nehmen ihre Startposition ein.
Fünf Minuten vor Showbeginn. Anja Backus verfolgt ihr immer gleiches Ritual. Einmal noch ihren höchsten Ton singen. „Einfach fürs Gefühl. Und als Routine, weil ich’s schon immer so gemacht habe”, erklärt sie und grinst. Dann einen Klecks Handcreme in die Hände einmassieren und dabei ein kurzes Gebet: „Liebes Universum, lass mich alles gut machen”. Zuletzt klatscht Backus in die Hände. Die Ouvertüre erklingt, der Vorhang geht auf, das Musical beginnt.
Pauline Claußen, 1999 in Darmstadt geboren, hat Kraftklub-Sänger Felix schon einmal beim Crowdsurfen ein High Five gegeben. In Oldenburg studierte sie Musik und Anglistik auf Lehramt. Parallel arbeitete sie in der musikalischen Früherziehung, kellnerte und brachte unter anderem Klaas Heufer-Umlauf Bier und Günther Jauch Sekt. Auf der indonesischen Insel Lombok tauschte Pauline einmal mit einem müden Taxifahrer Plätze und fuhr sich selbst zum nächsten Hostel. Sie ist Hochzeitssängerin, liebt Musicals und spielt schlecht Tennis. Pauline wollte Kulturjournalistin werden, interessiert sich aber einfach für zu vieles - mittlerweile legt sie sich nicht mehr fest. Kürzel: pac