Die Ausstellung „Glitzer“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg zeigt: Glitzer ist mehr als Bling Bling. Glitzer steht für Erinnerung, Protest und Empowerment. Auch „Nicht-Glitzerfrauen“ verlassen die Ausstellung begeistert.
„Oh, wie schön“, hallt es immer wieder aus der Gruppe, da hat die Ausstellungsführung noch gar nicht begonnen. Vor dem Eingang: ein riesiger Schriftzug – „Glitzer“, der Titel der Ausstellung vor einer lila Wand, silber-funkelnd hinterlegt. Licht, welches in den vier Discokugeln reflektiert, wirft einzelne Lichtreflexe an die Wände in dem sonst dunklen ersten Raum. Ein junges Mädchen mit rosa Glitzerschleife im Haar und eine ältere Dame mit funkelnder Brosche auf dem Pullover betreten den Raum zuerst, der Rest der Führung folgt.
Im zentralen Raum, der „Hall of Glitter“, entfaltet sich ein vielstimmiger Glitzerkosmos: Kleider, Stickeralben und Weihnachtsschmuck spiegeln die Faszination für das schimmernde Material. Rund 100 im Rahmen eines öffentlichen Aufrufs eingereichte Glitzerlieblingsstücke werden durch persönliche Geschichten ergänzt. So ist dort eine Maske mit schwarzen Steinen ausgestellt. Daneben ist ein Text eines homosexuellen jungen Mannes zu lesen, der darin beschreibt, dass er früher eine solche Maske sprichwörtlich getragen habe. Erst im Licht beginnt sie zu funkeln.
Kunsthistorikerin Rebecca Junge beginnt die Führung: „Das Tolle an Glitzer ist, das ist für jedermann.“ Ihre Augen funkeln mit ihren schwingenden, blauen Glitzerohrringen um die Wette.
Im Glanz der Erinnerung, im Schimmer des Protests
Die Ausstellung „Glitzer“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G) präsentiert rund 40 glitzernde Einblicke in Kunst und Gestaltung aus der ganzen Welt, die sich in sechs Kapiteln verschiedenen Bereichen widmen. Alle Räume sind miteinander verbunden – zwischen ihnen Fadenvorhänge. Teile des folgenden Raums zeigen sich so bereits, bevor die Gruppe in das nächste Kapitel eintaucht. Das heißt „Glitter up!“ und beschäftigt sich mit der politischen Dimension des Materials. Glitzer dient hier als Werkzeug des Protests und als Zeichen im Kampf um Sichtbarkeit. „Ein Glitzerpartikel allein bewirkt nichts, erst die Menge macht sichtbar“, sagt Junge. Das sei wie bei Menschen auf Demos.

Ein Highlight der Ausstellung, so Junge: Das Bühnenoutfit von Bill Kaulitz aus dem Jahr 2010 im Raum „Sparkle und Shine“. „Das ist eine schöne Sache, das aus der Nähe zu sehen. Es hat Gebrauchsspuren, ist wirklich getragen“, sagt sie. „Das ist nicht so ein ‚Weit-Weg-Museumsstück‘, sondern was, was eben benutzt worden ist.“ Der Performance Raum lenkt den Blick auf Kostüme, Perücken und Nageldesigns als Ausdrucksformen kollektiver Identität und persönlicher Inszenierung.
Der Raum „Teenage Glitter“ zeigt ein wie ein Sehnsuchtsraum gestaltetes Jugendzimmer. Er thematisiert das Aufwachsen in einer glitzernden Welt. Im Flur folgt die Geschichte des Glitzers.
„Glittermania“ spannt den Bogen von Cleopatra über die Erfindung des industriellen Glitzers 1934 in New Jersey bis hin zu Taylor Swifts „The Eras Tour“ im Jahr 2024. Materialität, Herkunft und kulturelle Bedeutung von Glitzer werden im Zeitstrahl aufgegriffen. Auch ökologische Aspekte werden thematisiert. Im Herbst 2023 beschloss die Europäische Union, Glitzer als Mikroplastik-Umweltbelastung zu verbieten. Doch es gibt eine Lösung aus dem Fichtelgebirge. Dort sitzt eine Firma, die Bioglitzer aus biologisch abbaubaren Materialien statt aus Metallpartikeln herstellt.
Der schillernde Stoff offenbart sich in diesem Kapitel als Spiegel gesellschaftlicher Träume, Konflikte und Widersprüche und bleibt offen für neue, persönliche Perspektiven, wie auch die einer 59-jährigen Besucherin. Konzentriert folgt sie der Timeline und schwelgt in Erinnerungen. Für sie spielte Glitzer in ihrer Kindheit keine Rolle, erzählt sie. Mit zunehmendem Alter habe sich das verändert. Das verrät auch die Wahl ihrer Garderobe – ein gold-glitzerndes Shirt. „Das Leben braucht mehr Glitzer, und ich merke, dass mir das tatsächlich guttut“, sagt sie.
Mehr als Oberflächenglanz
„Glitzer“ ist die weltweit erste Ausstellung, die diesem Material eine Bühne bietet, sagt das MK&G. Warum? Ist das Thema kunsthistorisch nicht relevant genug für Museen? Es gebe Kollegen, denen wäre das Thema nicht „highbrow“, also elitär, genug, so Kunsthistorikerin Junge. Sie selbst empfindet nicht so: „Ich finde solche Themen einfach wichtig, weil sie Spaß machen, und weil sie Lust auf Museen wecken. Zu sagen, das ist mir zu oberflächlich, ist ein bisschen zu kurz gedacht.“ Man könne einfach durch die Ausstellung schlendern und es als schön empfinden. „Man kann sich aber auch mit den einzelnen Sachen beschäftigen und sagen: Okay, die haben sich was dabei gedacht, das ist gar nicht so oberflächlich“, so Junge.
Die Rolle von Glitzer in der heutigen Gesellschaft empfindet Kunsthistorikerin Junge als bedeutsam. „Gerade jetzt ist wahnsinnig viel los“, sagt sie. „Wir haben sehr viele negative Schlagzeilen. Wenn es da eine Gegenbewegung gibt, die sagt: Hier hat man Spaß, dann hat das einen rebellischen, einen demokratisierenden Charakter, weil es eben für jeden zugänglich ist“. Glitzer könnte für den Menschen auch aus evolutionären Gründen eine anziehende Wirkung haben. Forschende vermuten, dass Glitzer den Menschen an Wasser als überlebenswichtige Ressource erinnert.
Widerstand zwecklos: Glitzer überzeugt

Die Kunsthistorikerin nennt die Ausstellung eine „Mitmachausstellung“ und deutet in Richtung „Glitter Craft“. Der Bereich widmet sich dem kreativen Selbermachen. Mit Glitzer sei es einfach, weil das in jedem Bastelladen erhältlich ist, so Junge. Dafür brauche es kein teures Kunstbuch, lediglich einen Glitzerkleber. Das sei doch eigentlich das, was Spaß macht, sagt Rebecca Junge. Am großen Werktisch in der Mitte des Raums basteln die Besuchenden vertieft an ihren Projekten. An einem Ende des Tisches werden Sticker geklebt, am anderen Zeitungsschnipsel ausgeschnitten. Collagenartige Werke entstehen und finden ihren Platz an den Wänden des Raums.
Bekommt der Glitzer also alle? „Wir sind keine Glitzerfrauen“, sagte die 59-jährige Besucherin noch am Anfang der Führung. Wir, das meint sie und ihre Freundin, die dabei ist. Nach der Führung hält sie eine Karte in der Hand, eine Glitzerkarte, gebastelt für eine ihrer Freundinnen. Gefallen an der Ausstellung hat ihr „Das hinter dem Glitzer“, wie sie sagt. Mit Glitzerkarte verlässt sie die Ausstellung, begeistert über das Komplettpaket. Und Rebecca Junge schmunzelt. „Viele sind auch sehr positiv überrascht, dass es eben mehr ist als nur ein paar glitzernde Pullis oder ein Zauberstab.“
Marie Hamann, Jahrgang 2003, kennt den Beginn von Kafkas „Verwandlung“ auswendig – so tief fühlt sie sich mit dem Autor verbunden. Die gebürtige Hamburgerin versinkt gerne in Büchern und ist häufig in Theatern und Museen unterwegs. Ihr Praktikum im Bucerius Kunst Forum in der Kommunikationsabteilung bezeichnet sie als eine besonders schöne Erfahrung. Nach dem Bachelor in Kommunikationsdesign in Hamburg stand fest: Ihre Fähigkeiten in Kommunikation will sie vertiefen, später kann sie sich vorstellen, Öffentlichkeitsarbeit für Kultureinrichtungen zu machen. Mit ihrer Liebe zu Kunst und Sprache sieht Marie das Schöne im Leben – ganz im Sinne Franz Kafkas, der sagte: „Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.“
Kürzel: mar