FLINTA* fühlen sich nachts auf der Straße oft nicht sicher – und machen laut darauf aufmerksam. Ein Anlass ist die Walpurgisnacht, zu der jährlich die „Take back the Night”-Demonstration stattfindet.
„Anna, Anna!“ Greta springt auf und winkt. Anna bleibt stehen, bei den vielen Menschen dauert es einen Moment, bis sie die Quelle der Rufe ausfindig machen kann. Dann sieht sie ihre Freundinnen Greta und Maja, die drei Frauen bilden eine Freund*innengruppe – eine von vielen, die zur Demo ins Schanzenviertel gekommen sind. In der Walpurgisnacht, der Nacht zum Ersten Mai, startet hier seit einigen Jahren die „Take back the Night“-Demonstration für Frauen, Lesben, Inter, Nicht-Binäre, Trans*- und Agenderpersonen, kurz FLINTA*. Die Teilnehmer*innen sind gekommen, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Nacht kein sicherer Ort für sie ist.
Der Platz und die schmalen Stufen vor dem S-Bahnhof Sternschanze füllen sich langsam mit Menschen. Viele tragen schwarze Kleidung, einige zeigen mit Regenbogensocken und schwarz-lila-farbenen Flaggen ihre solidarische Haltung. Die Masse teilt sich, als ein Lautsprecherwagen vorfährt. Polizisten stehen abseits der Demonstrierenden, Rücken an Rücken, sodass sie jede Richtung im Blick haben. Ihre Kleidung ist ebenfalls schwarz.
Greta und ihre Freundinnen sind oft auf queer-feministischen Demonstrationen unterwegs. Sie fühlen sich mit dem Motto „Take back the Night“ verbunden, „weil es ja einfach so ist, dass Frauen sich in der Nacht nicht sicher fühlen“, sagt die 18-jährige Greta. Sie kommen auch wegen der guten Stimmung und fühlen sich wohl zwischen Gleichgesinnten – die Demo ist für sie ein Safe Space. Es ist aber nicht durchgehend gute Stimmung, sagt Greta. Im letzten Jahr habe sie sich „vor allem wegen der Polizei nicht sicher gefühlt“, sagt sie.

Take back the Night: Gegen Gewalt, für Gerechtigkeit
Vorwiegend männliche Polizisten schützen die Demonstration, zu der aber CIS-Männer – also Männer, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde und die sich auch als Mann identifizieren – ausgeschlossen sind. „Auf der Straße erkämpfen wir uns die Nacht zurück, die für uns sonst so oft ein gewaltsamer, cis-männlich dominierter Ort ist“, heißt es im Aufruf zur Demonstration von “Take back the Night Hamburg”.
Lia Rotbusch ist eine der Organisator*innen der Demo. Sie heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Die 39-Jährige zog vor 20 Jahren nach Hamburg und begann sich wenig später politisch zu engagieren ‒ besonders setzt sie sich für Feminismus, Antisemitismus und gegen Rassismus ein. Im Frühjahr 2025 kam die Diplompädagogin zu „Take back the Night“ (TBTN), wo sie Flugblätter und Plakate verteilt, Finanzierungsevents organisiert und an Sitzungen teilnimmt.
„Nicht alle Männer sind Täter“, sagt sie. Nur ist es unmöglich, das für die Teilnahme an einer Demonstration zu prüfen. Außerdem treten CIS-Männer bei Demonstrationen oft sehr dominant auf und das ist hier nicht erwünscht, erklärt die Aktivistin weiter. TBTN richtet sich gegen sexualisierte Gewalt. Die Gruppe will darauf aufmerksam machen, wie gefährdet Frauen und nicht-binäre Personen sind – nicht nur auf der Straße, sondern auch in den eigenen vier Wänden.

Fast jede zweite Frau vermeidet öffentliche Orte
Viele Frauen fühlen sich nachts in ihrer Wohngegend unsicher, das ergab auch eine Studie aus dem Jahr 2020 zur Sicherheit und Kriminalität in Deutschland (SKiD). Besonders bei den Themen Wohnungseinbruch, Terrorismus und sexuelle Belästigung sind die Befragten beunruhigt und schätzen das Risiko hoch ein, selbst betroffen zu werden. Fast jede zweite Frau gab bei der Studie an, bestimmte Orte oder Wege im öffentlichen Raum zu vermeiden ‒ bei Männern ist es nicht einmal jeder fünfte.
Die gefühlte Unsicherheit spiegelt sich auch in den aktuellen Daten des Landeskriminalamts Hamburg wieder: Im Jahr 2024 waren 86 Prozent aller sexualisierten Straftaten in Hamburg gegen Frauen gerichtet (1.784 weibliche Opfer und 276 männliche Opfer). Der Hamburger Verkehrsverbund reagiert auf diese Zahlen und bietet neuerdings ab 21 Uhr einen Wunschausstieg an. Damit haben Fahrgäste die Möglichkeit, sich in Bussen einen Zwischenstopp zu wünschen, um einen möglichst kurzen Heimweg zu haben.
„Nieder mit dem System!“
Auf dem Platz in der Sternschanze beginnt die Startkundgebung, zu der mehrere Personen zu den Teilnehmer*innen sprechen. Sie zeigen sich nicht – aber man hört ihre Stimmen aus den Lautsprechern: „Das kapitalistische Patriarchat formt jede Sphäre unseres Lebens und nimmt uns Emanzipation und Freiheit. Wir sind systembedingt nicht sicher – Nieder mit dem System!“, heißt es. „Alerta, alerta, antifascista!“, antwortet die Menge. „Wir wollen die ungerechten Strukturen vollkommen beseitigen und das erreicht man nicht mit halben Forderungen und einer weich gespülten Analyse“, sagt Rotbusch. „Alle leiden unter dem Patriarchat, auch CIS-Männer.“

„So ein Schwachsinn!“ murmelt ein großer Mann. Er drängt sich während der Kundgebung durch die Demonstrierenden und verschwindet im roten Backsteinturm des Bahnhofs. „Pöbeleien und Anfeindungen von Passanten gibt es und gab es immer“, erwidert Rotbusch. Viele Männer würden nicht anerkennen wollen, dass es ein strukturelles Ungleichgewicht gibt und wer Opfer von Gewalt wird. „Oft solidarisieren sie sich nur mit Betroffenen, wenn es in ihrem eigenen Umfeld passiert”, sagt die Aktivistin.
Währenddessen hat eine weitere Rednerin das Mikrofon ergriffen. „Das Recht im Iran sieht uns nicht als Menschen, sondern als Eigentum“, ruft sie. Sie kommt aus dem Iran und spricht über den Kampf gegen das patriarchalische Regime in ihrem Herkunftsland ‒ ein Kampf um Leben und Tod. An dem Abend kommen mehrere Betroffene zu Wort, die ihre persönlichen und oft sehr bewegenden Geschichten teilen. Es sprechen auch Vertreter*innen von Organisationen, so auch eine Vertreterin der autonomen Frauenhäuser. Im Jahr 2024 seien mindesten 101 Frauen in Deutschland durch häusliche Gewalt getötet worden, sagt sie in ihrer Rede, und fordert mehr und besser ausgestattete Frauenhäuser.
In diesem Jahr bleibt es entspannt
„Baby Shampoo hilft gegen Pfeffer auf der Haut!“ heißt es in den Kommentaren eines Instagram Posts von “Take back the Night Hamburg”. Der Beitrag gibt Tipps, wie man sich auf einer Demonstration verhalten soll, wenn es zu Zwischenfällen mit der Polizei kommt. Die Aktivist*innen sind auf den Fall vorbereitet, wenn es auf ihrer Demo nicht ruhig bleibt. Auf den Demonstrationen gab es in den ersten Jahren kaum Polizei, erzählt Rotbusch. Damals dachte sie sich noch: „Nehmen sie uns paar FLINTA* nicht ernst?“ Dieses Jahr ist die Polizeipräsenz deutlich größer: Auf 1.200 Teilnehmer*innen kommen rund 140 Einsatzkräfte, so die Polizei Hamburg.
„Die Versammlung verlief aus Sicht der Polizei weitestgehend störungsfrei. Meines Wissens kam es im Laufe des Einsatzes zu keinem körperlichen Einschreiten seitens der Polizei“, sagt Sören Zimbal von der Polizei Hamburg. „Die Polizisten waren sehr friedlich und sorgten für die Straßensperrung“, sagt auch Rotbusch.
Greta, Maja und Anna sind Teil der Protestbewegung, sie ziehen weiter Richtung Sternbrücke. Die Stimmung ist fröhlich, einige Demonstrierende strecken Plakate und Fäuste in die Luft – in dieser Nacht gehört die Straße ihnen.

Sophie Quaas, 2000 in Meißen geboren, ist USA-Kennerin: Ob als AuPair in San Diego, beim Wandern durch den Grand Canyon oder als Couchsurferin in Alaska, Sophie ist durch und durch Abenteurerin – Zelten auf Festivals ausgenommen. Ihren Bachelor machte sie in Medienforschung in Dresden. Dort arbeitete sie in einer Agentur im Employer Branding sowie in der Unternehmenskommunikation für Sunfire, eines der größten Wasserstoff-Unternehmen Europas. Für die Eröffnung einer neuen Produktionsstätte interviewte Sophie 2023 die Wirtschaftsministerin von NRW, Mona Neubaur – selbstverständlich auf Englisch. Ihr Plan für die Zukunft: Weitere Interviews als Journalistin führen. Kürzel: soq