ein Mensch schwenkt eine Regenbogenflagge auf einer Demonstration für mehr queere Sichtbarkeit
Das Streitobjekt: die Regenbogenflagge (Symbolbild). Foto: Unsplash/Raphael Renter

In Deutschland entflammt mitten in der CSD-Saison erneut eine Debatte über Regenbogenflaggen. Dabei geht unter, wie wichtig queere Sichtbarkeit ist – und welche Gefahren sie bringen kann. Ein Kommentar von Benjamin Possin

„Aus aktuellem Anlass: Zur Pride Week 2025 wird am 25. Juli wieder die Regenbogenflagge am Hamburger Rathaus gehisst.“ Das teilte der Hamburger Senat vor wenigen Tagen auf Instagram mit. Dies müsste keine Meldung sein. Immerhin ist es bereits das 18. Jahr, in dem die Hamburger Politik so ihre Solidarität mit dem Christopher Street Day ausdrückt.  

Noch vor wenigen Jahren habe ich vieles davon zynisch belächelt. Unternehmen, die im Juni jeden Jahres ihren Firmenlogos einen bunten Anstrich verpassten, um sich weltoffen zu geben. Die Bundeswehr, die versuchte, die Armee als einen vielfältigen Safe Space zu vermarkten. Oder eben Politiker*innen, die sich einmal im Jahr so solidarisch mit der queeren Szene zeigen, nur um im nächsten Moment trans* Rechte zu kritisieren.
Wohltemperierte Imagepflege – nicht zu kontrovers, aber sichtbar. Man klopft sich einmal im Jahr auf die Schulter, wie eng man doch verbunden ist mit der LGBTIQ*-Community.  

Von Selbstdarstellung zur traurigen Realität

Was wir aktuell erleben, ist ein politischer und gesellschaftlicher Rollback. Ein vermeintlicher Konsens über die Bedeutung der Regenbogenfarben löst sich auf. Die Flagge wird am CSD nicht auf dem Bundestag wehen. Die Präsidentin des Bundestages Julia Klöckner begründet ihre Entscheidung in einem Interview mit t-online damit, dass keine Flagge über der schwarz-rot-goldenen steht, und die Farben sowieso für die gleichen Werte stünden. Kanzler Merz spricht in der ARD davon, dass der Bundestag kein Zirkuszelt sei. Nun beginne ich die Zeiten zu vermissen, in denen die Regenbogenfahne zwar oft Selbstdarstellung war, aber wenigstens zum guten Ton gehörte.  

Wenn diese bunte Selbstvergewisserung also zu bröckeln beginnt, wird es wohl Zeit, sich der Realität zu stellen. Viel zu oft fiel es im feiernden Regenbogentreiben unter den Tisch, was es wirklich bedeutet, offen queer zu leben, wie gefährlich diese Sichtbarkeit sein kann. Dass dies ein mutiger, politischer Akt ist, der hart erkämpft wurde. Dass queere Menschen nach wie vor erheblichen Barrieren und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Und dass queere Menschen aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität Angst vor Übergriffen und Gewalt haben müssen.  

Wie sicher sind queere Menschen?

Ein Blick auf die Statistik wirft ein weniger buntes Licht auf Deutschland. Die von Behörden erfasste Anzahl queerfeindlicher Straftaten hat sich seit 2010 verzehnfacht. Das geht aus einem Lagebericht des BKA 2024 hervor.  

Auch die Hamburger Polizei hat im letzten Jahr über 50% mehr queerfeindliche Gewalttaten registriert als 2023. Bei den Straftaten ist die erfasste Anzahl um 66% auf 149 gestiegen. Diese Zahlen stammen aus einer Anfrage der Linksfraktion an den Senat. Sicherlich ist ein Grund für diesen Anstieg, dass es mehr Anlaufstellen und eine höhere Sensibilität gibt. Doch auch die Dunkelziffer bleibt dem BKA zufolge hoch.  

Die EU-Grundrechtsagentur veröffentlichte 2024 zum dritten Mal eine Studie zur Lage von LGBTIQ*-Personen. Die Ergebnisse der deutschen Befragten sollten aufrüttelnd genug sein, um zu verstehen, warum queere Menschen in Deutschland Solidarität und Unterstützung brauchen, die über selbstdarstellerische Lippenbekenntnisse hinausgeht. 

40% der Befragten vermeiden es, in der Öffentlichkeit Händchen zu halten. 21% meiden bestimmte Orte aus Angst vor Übergriffen. 57% geben an, dass sie im letzten Jahr Belästigungen erlebt haben. Nur 10% gingen nach Vorfällen körperlicher und sexueller Gewalt zur Polizei.   

CSDs als Zielscheibe

Noch nie gab es so viele CSD-Veranstaltungen in Deutschland wie 2024. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung der Amadeo Antonio Stiftung. Doch das Bild eines bunten, feiernden Landes zerbricht auch hier an der Realität. Rechtsextreme Störaktionen und Angriffe sind Teil einer neuen Bedrohung insbesondere für ländliche CSDs. 55 dieser Vorfälle dokumentiere die Stiftung im vergangenen Jahr. Das entspricht knapp einem Drittel aller Veranstaltungen.  

Die Zeiten sind rau für queere Menschen, der gesellschaftliche Rechtsruck wird zur konkreten Bedrohung. Man kann kaum einen Beitrag zu queeren Themen in den sozialen Medien öffnen, ohne mit gehässigen Kommentaren konfrontiert zu werden. Spätestens jetzt wäre der Moment gekommen, wo auch konservative Kräfte sich schützend vor die Community stellen sollten.  

Diese Debatte greift den Konsens an

Die Flagge am Hamburger Rathaus wurde vergangenes Jahr übrigens beschädigt. Medienberichten zufolge nahm der Staatsschutz Ermittlungen auf. Auch an der HAW Hamburg wurde 2023 eine Regenbogenflagge samt Halterung gestohlen. 

Bundestagspräsidentin Klöckner sagte in ihrem Interview: „Die Angriffe auf CSD-Veranstaltungen und queere Menschen verurteile ich auf das Schärfste. Das ist hier aber nicht der Punkt.“ Das ist richtig. Denn statt dass wir über die Bedrohungen, die Gewalttaten und die Statistiken sprechen, findet eine Debatte statt, in deren Kern ein Konsens aufgelöst wird. Der Regenbogen als untrennbares Zeichen der Solidarität und der Vielfalt. So kitschig man das vielleicht finden mag. Am 2. August findet die CSD-Demonstration in Hamburg statt, sie ist politisch so wichtig wie lange nicht mehr. 

Ein junger Mensch mit gefärbten Haaren und Brille steht vor einem Backstein-Gebäude

Benjamin Possin, Jahrgang 2002, erzählt gern Geschichten, das hat ihn zu seinem Lieblingshobby gebracht: Pen & Paper. Mittlerweile hat er um die 300 Würfel angesammelt. Wenn er nicht am Spieltisch sitzt, diskutiert er gerne im Netz oder verliert sich im Digitalisieren von alten Dias. Seine Liebe zu Wikipedia hat den Spiesheimer dazu geführt, dass er bereits einen Artikel vertont hat. An der HAW studierte Benni Medien und Kommunikation und arbeitet aktuell in einem Forschungsprojekt zu Datenvisualisierungen. Bei STRG_F moderierte er während eines Praktikums einen Film zum Thema “Jugendgewalt auf TikTok”. Beruflich sind die Würfel noch nicht gefallen: Datenjournalismus ist aber eine Option. Kürzel: bip

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