Im Winter sind wieder obdachlose Menschen auf den Straßen Hamburgs erfroren – trotz leer stehender Hotels. Sonja Norgall vom Mitternachtsbus und Stephan Karrenbauer vom Straßenmagazin Hinz&Kunzt geben einen Überblick zur Lage.
Text: Alina Weinack und Pascal Wittkowski | Beitragsbild: Andreas Hornoff
Es ist kalt in Hamburg, der Wind ist eisig und die Pfützen auf dem Asphalt spiegeln das Grau des Himmels wider. Die sonst so belebte Fußgängerzone ist leergefegt. Vieles hat sich seit der Corona-Pandemie in der Innenstadt verändert. Auf einem Plakat am Straßenrand steht in leuchtenden Buchstaben der Spruch #Wirbleibenzuhause geschrieben. Daneben, im Eingang eines Kaufhauses, kniet zusammengekauert ein Mann. Vor ihm stehen ein kleiner Teller und eine Kerze. Zu Hause. Für einige Menschen ist das ein abstrakter Begriff. Sie sind obdachlos.
Der tägliche Kampf ums Überleben ist für obdachlose Menschen noch härter geworden, seit die Corona-Pandemie viele Einschränkungen mit sich gebracht hat: Hilfsangebote können nur teilweise öffnen, die Menschen halten Abstand, und die Witterung macht es schwer, draußen Schutz zu suchen. Hamburger Hilfsorganisationen gelangen dort an ihre Grenzen, wo sie sonst wertvoll unterstützen können.
Dieser Text ist im Rahmen des Bachelor-Projektseminars “Digitale Kommunikation” an der HAW Hamburg entstanden.
Eine dieser Helfer*innen ist Sonja Norgall von der Diakonie Hamburg. Jeden Abend fährt ihr Team mit dem Mitternachtsbus zahlreiche Haltestellen in Hamburg an, um täglich über 100 Menschen mit Decken, Essen und allem Notwendigen für die Nacht zu versorgen. Und auch das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt, bei dem Stephan Karrenbauer als Sozialarbeiter tätig ist, macht seit 27 Jahren Obdachlosigkeit sichtbar. Mittlerweile sind es 530 Verkäufer*innen ohne Wohnung oder mit entsprechender Erfahrung in der Vergangenheit, die für Hinz&Kunzt arbeiten.
Die Corona-Pandemie erschwert das Helfen
Corona hat Sozialarbeit deutlich erschwert, etwa für das Team des Mitternachtsbusses. Bislang arbeiteten die Helfer*innen in Viererteams. “Jetzt haben wir die Zahl auf zwei ausgedünnt, um Ansteckungen vorzubeugen und möglichst viel Sicherheitsabstand im Bus möglich zu machen”, sagt Sonja Norgall. Hinzu kämen häufigere Wechsel innerhalb der Teams. Manchmal fallen ehrenamtliche Helfer*innen aufgrund einer Corona-Erkrankung aus oder bleiben aus Sorge um ihre Angehörigen zu Hause.
Bei Hinz&Kunzt stand der Betrieb zwischenzeitlich nahezu still: „Wir haben das erste Mal für zwei Monate keine Zeitung gehabt, die wir an die Verkäufer*innen weitergeben konnten“, sagt Stephan Karrenbauer. „Das hat hier wirklich dem einen oder anderen die Tränen rausgedrückt.“ Als Überbrückung rief die Redaktion zu Spenden auf, die ohne Abzüge an die Verkäufer*innen weitergegeben wurden, die auf der Straße leben.
Mittlerweile läuft der Vertrieb unter strengen Corona-Vorschriften weiter. Doch neben neuen Hygienemaßnahmen im Vertrieb, versucht das Team auch darüber hinaus zu helfen: „Wir haben bisher etwa 60.000 Masken an wohnungslose Menschen ausgegeben“, so Karrenbauer. Eine überlebenswichtige Aktion: Laut einer Studie des Uniklinikums Hamburgs sind mehr als ein Drittel aller obdachloser Menschen mit Lungendefiziten vorbelastet. Das macht sie zur einzigen Bevölkerungsgruppe, die zwar der Risikogruppe angehören, dem Virus aber nahezu schutzlos ausgeliefert sind.
Corona hat die Entfremdung noch verstärkt
Was Sonja Norgall und Stephan Karrenbauer außerdem große Sorge bereitet, ist der Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen. “Wir haben eine sehr enge Kultur innerhalb der Teams. Wir haben uns viel umarmt”, so Norgall. Das falle nun komplett weg. „Mir war nicht klar, dass wir für viele Verkäufer*innen systemrelevant sind“, sagt Karrenbauer. Mit den notwendigen Hygienemaßnahmen sei für viele der Menschen eine Welt zusammengebrochen. „Nicht nur aus finanziellen Gründen sondern auch weil sie sich plötzlich wieder einsam gefühlt haben.“ Ohne die Zeitung konnten die Verkäufer*innen nicht an ihre Verkaufsstellen zurückkehren: “Sie waren wieder abgeschnitten von dem System, was sie sich aufgebaut haben“, so Karrenbauer.
Die teils ablehnende Haltung gegenüber mit Plastiktüte durch die Innenstadt laufenden Menschen manifestiert sich noch weiter in den Köpfen, weil sie durch Angst vor Ansteckung noch weiter befeuert wird. Besonders jetzt kommt es darauf an, diese Entfremdung nicht weiter fortschreiten zu lassen. Mehr als 2000 obdachlose Menschen in Hamburg bekommen die Pandemie mit voller Wucht zu spüren und sind deshalb auf Zuwendung von außen angewiesen.
Was bei den Helfenden bleibt, ist der Wille, nicht aufgeben zu wollen. Und trotzdem: Man werde müde. Das kann man den Helfer*innen auch ansehen: Sonja Norgalls Mimik wechselt zwischen fröhlich und traurig. Fröhlich immer dann, wenn sie aus den Tagen vor der Pandemie erzählt. Traurig, wenn es um die aktuelle Lage geht. Diese Hin und Her ist anstrengend. Außerdem komme zu all dem noch die fehlende Planbarkeit hinzu. Wann es mit der Pandemie wirklich ein Ende hat, wisse schließlich keiner.
Der Stadt fehlt es an langfristigen Lösungskonzepten
Die Stadt Hamburg bekämpft das Problem mit eigenen Mitteln. Jedoch reichen die von der Stadtverwaltung organisierten Zufluchtsplätze bei weitem nicht für alle obdachlosen Menschen. Besonders im Winter ist das ein Problem. Immer öfter sind es ehrenamtliche Institutionen, die einspringen und weitere Unterkünfte finanzieren – in diesem Winter auch in den durch die Pandemie fast leer stehenden Hotels der Stadt. Der Senat hatte sich dagenen entschieden, hier aktiv zu werden.
Aber auch das Winternotprogramm ist laut Sonja Norgall keine langfristige Lösung, weil den obdachlosen Menschen nur vorrübergehend eine Bleibe geboten wird. Statt Mehrbettzimmer in Sammelunterkünften einzurichten, plädiert sie dafür, Wohnraum zu schaffen, den man bezahlen kann.
Mehr als zehn obdachlose Menschen verstarben zuletzt in Hamburg, weil sie keine Unterkunft hatten. “Wir haben im Frühjahr 170 Leute für drei Monate in Hotels untergebracht. Die gleichen Hoteliers waren auch jetzt wieder bereit, mitzumachen”, erzählt Stephan Karrenbauer. “Wir haben wieder 125 Menschen in Hotels untergebracht und könnten noch mehr Leute unterbringen.” Hinz&Kunzt rief zur Mahnwache am Rathaus auf, nachdem die Sozialsenatorin die Anträge zur Hotelunterbringung abgelehnt hatte.
Menschlichkeit darf nicht verloren gehen
Es bleibt die Erkenntnis, dass die Corona-Pandemie ohnehin benachteiligte Menschen besonders hart getroffen hat. Zwischenmenschliche Beziehungen bleiben zusehends auf der Strecke. Sonja Norgall wünscht sich neben dem Ende der Pandemie vor allem, dass von der Stadt Hamburg mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird. Gerade jetzt, wo obdachlose Menschen sich nicht einmal in Geschäften aufwärmen können, wäre dies das entscheidende Instrument, um Kältetode zu verhindern. Vor allem aber gibt man den Wohnungslosen damit wieder eine Chance, sich langfristig ein eigenes Leben aufzubauen.
Die meisten Menschen haben sich bereits an das Elend in der Fußgängerzone gewöhnt. Das darf nicht sein, sagt Stephan Karrenbauer: „Es ist nicht normal, dass man so viele Menschen auf der Straße vorfindet.” Sich das ins Bewusstsein zu rufen und sich zu engagieren, ist ein erster Schritt zur Erkenntnis, dass Obdachlosigkeit ein gesamtgesellschaftliches Anliegen ist.