Rauschebart, faltiges Gesicht - das ist Straßenmusiker Michael. Foto: Vanessa Fröhlich

Rauschebart, faltiges Gesicht und eine ganz eigene Musik. Jeder, der im feinen Hamburger Stadtteil Rotherbaum wohnt oder arbeitet, kennt diesen Straßenmusiker. Aber wer ist der Mann? Wir haben versucht, es herauszufinden.

Michael steht an einer von 91 U-Bahnhöfen Hamburgs. Es ist die Station Hallerstraße, direkt neben der bekannten Tennisanlage „Am Rothenbaum“ im noblen Stadtteil Rotherbaum. Zwischen der Innenstadt und der Außenalster gelegen, wohnen hier vorrangig wohlhabende Hamburger. Altbauvillen prägen das Straßenbild. Restaurants, Ärztezentren, Sprachschulen, Unternehmen und Konsulate reihen sich aneinander. An der großen Kreuzung Ecke Hallerstraße und Rothenbaumchaussee, direkt am U-Bahn-Eingang, ist sein Platz.

Er steht vor einem City-Light-Poster, eine kleine Überdachung schützt ihn vor dem Regen. Sobald Fährgäste aus der U-Bahn aussteigen und zum Ausgang in Richtung NDR laufen, hören sie bereits am Treppenaufgang seine Stimme singen. Michael spielt keine bekannten Songs, die Melodie ist nicht eingängig und der Songtext kaum zu verstehen. Erst nach Sekunden des aktiven Zuhörens wird deutlich, dass er auf Englisch singt. Trotz des Nuschelns hat er eine markante Stimme, die einen hohen Wiedererkennungswert hat.

Nach ein paar Stufen sehen die Passanten den Musiker. Als erstes fällt der weiß-gräuliche Rauschebart ins Auge, der ansatzlos in die langen, verfilzten Haare übergehen. Seine Haut ist ledrig von der Witterung. Unzählige Falten graben sich durch sein Gesicht. Auf den zweiten Blick fällt auf: Seine Kleidung ist sauber, er trägt ein grünes Palästinensertuch und sein Gitarrenkoffer wirkt relativ neu. Die Hände immer an den Saiten, spielt er Akkord nach Akkord. Unter seinen Fingernägeln klebt Erde – ob er wohl einen Garten hat? Michaels Gestalt wirft viele Fragen auf:

Hat er einen festen Job? Ist er obdachlos? Wieso spielt er an der Hallerstraße?

Um seine volle Aufmerksamkeit zu bekommen, reicht ein kurzes Zeichen und er hört auf zu spielen. Sofort redet Michael ohne Punkt und Komma, als hätte er seit Stunden auf diese Unterhaltung gewartet, um die angestauten Gedanken loszuwerden. Er unterbricht seinen fortwährenden Monolog immer wieder durch lautes Prusten. Gleichzeitig wiegt er den Oberkörper rhythmisch vor und zurück, die Arme auf den Gitarrenkorpus gelehnt, sodass der Gitarrengurt hin und wieder quietscht.

Im Nobelviertel Rotherbaum vor der U-Bahn-Station Hallerstraße spielt er. Foto: Vanessa Fröhlich

Michaels Art zu Reden erinnert an Rap oder Poetry Slam. Dabei stellt er selten Fragen und gibt ungern erwartete Antworten. Auf die Frage, wie alt er ist und wie sein Nachname lautet, sagt er „Viel älter als du und wir duzen uns doch schon. Was zählt heute noch, wer du bist?“. Michael hält nicht viel von Personalien, auch nicht von Telefonnummern oder E-Mail-Adressen. Auch nach drei halbstündigen Interviews bleiben mehr Fragen als Antworten.

„In welchem Stadtteil wohnst du, Michael?“. Ohne zu überlegen, beginnt er zu reden: „…die Rolle der Mutter, ja und auch manchmal des Vaters, die ist wichtig, denn wenn in der Kindheit nicht die Voraussetzungen geschaffen werden, ja dann kann man im Erwachsenenleben, ja heute mit dem ganzen Sein, niemand mehr sein…“.

Wer ihn sucht, findet ihn von Montag bis Freitag, manchmal auch Samstagnachmittag an seinem Stammplatz. Er spielt dort vier bis fünf Stunden und beginnt wochentags ungefähr um 11 Uhr. Jedes Wochenende hilft er einer Bekannten auf dem Flohmarkt Antiquitäten zu verkaufen. Eine feste Struktur sei ihm wichtig, nur so kann er wirklich Musik machen, sagt er. Straßenmusik sei für ihn wie ein fester Job mit Tages- und Wochenzeiten. Während seiner Arbeitszeit grüßt er nur wenige vorbeilaufende Passanten und wenn jemand Geld in seinen Gitarrenkoffer wirft, nickt er nur freundlich.

Ein paar Leute grüßt er jedoch schon von Weitem und pausiert für einen Schnack. Es sind meistens ältere Damen aus der Nachbarschaft oder „hohe Tiere“ vom NDR, wie Michael sagt.

„Es gibt Menschen, die nehmen dich wahr und es gibt Menschen, die wollen einfach nur zur Arbeit. Das ist mir recht“, erklärt er.

Einige haben ihn nach Gitarrenunterricht gefragt, aber das sei nicht sein Ding. Ein Student hat sogar einen Fotowettbewerb im Ausland mit einem Bild von ihm gewonnen, aber so etwas interessiert ihn nicht. Michael will Musik machen und deswegen steht er morgen wieder an der U-Bahn-Haltestelle Hallerstraße, singt und spielt Gitarre.

Lena Frommeyer ist Journalistin und Dozentin für Online-Journalismus am Mediencampus der HAW Hamburg. Sie betreut hier den Newsroom von FINK.HAMBURG. Sie schreibt u.a. für das Mobilitäts-Ressort beim SPIEGEL über Mobilität der Zukunft, Fahrradkultur, öffentlichen Nahverkehr und Verkehrspolitik. Davor hat sie unter anderem für das Stadtmagazin HAMBURG SZENE und die ZEIT gearbeitet.

Vanessa Fröhlich