In der Hamburger St. Michaeliskirche wird seit mehr als 300 Jahren eine Tradition gepflegt: Täglich spielt der Michel-Türmer mit seiner Trompete einen Choral vom Turm. Ob er auch die 452 Stufen des Turms gehen muss und was er mit dem Amt verbindet.
Um kurz vor zehn ist wochentags vor der Hauptkirche St. Michaelis noch nicht viel los. Einige Radfahrer sind unterwegs, ein paar Touristen studieren stirnrunzelnd ihre Reiseführer und schauen den Kirchturm hinauf. Auf der Michelwiese spielen Kinder Fangen. Es ist keine Wolke am Himmel zu sehen. Ein besonders schöner Tag, um die 452 Stufen des Kirchturms hinaufzusteigen.
Horst Huhn schließt, seine Trompete auf den Rücken geschnallt, die Tür zur Turmhalle auf. Er geht denselben Weg wie die Besucher: durch die Drehschranken, die ersten Treppen hoch, knapp 70 Stufen – dann kann er in den Fahrstuhl steigen. Aber selbst wenn er alle Stufen nehmen müsste, würde das nicht viel ausmachen, sagt er. Der Fahrstuhl ist ja auch mal kaputt. „Ich nehme mir auch regelmäßig vor, immer den ganzen Weg hochzulaufen. Keine drei Tage später ist es mit dem guten Willen aber auch schon wieder vorbei“, sagt er und lächelt verlegen.
Horst Huhn ist einer der zwei Michel-Türmer. Jeden Morgen und jeden Abend spielt einer der beiden einen Choral hoch über den Dächern von Hamburgs Neustadt, sonntags nur einmal zur Mittagszeit. Eingeführt wurde das Amt während der Reformation und wird in der Hauptkirche St. Michaelis, von den Hamburgern liebevoll Michel genannt, seit über 300 Jahren gepflegt. Türmer gibt es in vielen Städten Deutschlands, aber nur auf dem Michel wird täglich gespielt.
Früher war die Funktion des Türmers für umliegende Bauern und Händler wichtig. Das Signal zeigte an, dass die Stadttore geöffnet und abends wieder geschlossen wurden. Aber auch heute noch gibt der Choral dem Alltag von Anwohnern einen Rahmen. Besonders schön findet Huhn es, wenn Kinder ihn auf dem Türmerboden besuchen. „Oft erzählen sie mir, dass sie erst einschlafen können, wenn sie mich spielen gehört haben. Das berührt einen natürlich. Vor allem, weil ich dem Türmer als Kind selbst zugehört habe.“
Die Frage, warum es das Amt bis heute gibt, stellt sich für Huhn gar nicht: „Das ist so und das wird auch immer so sein. Das würde jeder aus dem Stadtteil hier sagen.“ Der Choral soll für die Stadt ein täglicher Segen sein, ein Ritual für alle, um einen Moment innezuhalten. „Die Menschen hier im Viertel hängen sehr daran.”
“Als der Kirchturm mal kaputt war, wurde auf dem Großneumarkt ein Ersatzturm aufgebaut, damit der Choral von dort gespielt werden konnte.“
Die Stadt zu Füßen
Horst Huhn schickt die Töne aus seiner Trompete durch ein kleines Fenster im siebten Stock auf die Reise – nicht von ganz oben, damit sie in der Stadt überhaupt zu hören sind. Der Raum, in dem er dann steht, ist nur spärlich eingerichtet: ein paar Stühle und ein Notenständer mit einem Gesangbuch, in das mit Bleistift einige Notizen gemacht wurden. Über dem Ostfenster hängt eine Uhr. Die Treppe, über die in wenigen Minuten die Besucher der Aussichtsplattform hochkommen, ist mit mehreren Glaswänden abgetrennt. Wenn der Türmer nicht spielt, können hier auch kleine Konzerte stattfinden.
„Ich suche mir mal eben schnell einen Choral aus“, sagt Huhn und blättert in dem Gesangbuch. Favoriten hat er nicht. Auch kann er meistens nicht beantworten, was genau er gerade spielt, weil er sich die Texte nicht merken kann. Aber die Melodien kann er fast alle auswendig. Als er sich entschieden hat, macht Huhn einen Haken an einen Morgenchoral und trägt diesen in eine Liste ein, damit sein Kollege Josef Thöne weiß, was heute bereits gespielt wurde. Danach muss er warten und genießt von oben den Ausblick, noch ganz allein. „Exklusiv, wie nur wir das haben.“
Sein ganzes Leben hat Huhn schon etwas mit dem Michel zu tun gehabt, früher sogar gegenüber gewohnt. Erst war er im Knabenchor, dann im Jugendchor der Kirche. Es folgten Orchesterauftritte und Konzerte in Gottesdiensten, außerdem gründete er das Blechbläser-Ensemble. Als er gefragt wurde, ob er das Amt des Michel-Türmers übernehmen möchte, war er erst unsicher. Mittlerweile spielt er seit fast 26 Jahren die Choräle.
Klarer könnte die Sicht von oben nicht sein. Man kann weit über die Stadt schauen, über die Altstadt mit dem Rathaus im Osten, über die Kräne des Hafens und die Elbphilharmonie im Süden. Im Westen stehen die Tanzenden Türme, das Millerntor-Stadion und davor der Dom. Im Norden sieht man den Heinrich-Hertz-Turm und die Alsterfontäne. Huhn hat keine Lieblingsrichtung, für ihn ist eher die Tages- und Jahreszeit entscheidend. „Ganz toll ist es abends im Sommer zu spielen, besonders, wenn die Sonne gerade untergeht und der Dom leuchtet.“
„Oh, heute muss Mittwoch sein, da unten ist Markt“
Nun aber ist es morgens. Um drei Minuten vor zehn spielt Horst Huhn sich ein, den Blick immer wieder auf die Uhr über dem Fenster gerichtet. Die erste Strophe wird in Richtung Osten gespielt, das hat symbolische Gründe. Im Christentum steht der Sonnenaufgang im Osten als Zeichen für die Auferstehung, deswegen sind die Längsachsen aller Kirchen geostet. Der Zeiger schlägt auf die Zehn. „Gleich geht’s los“, sagt Horst Huhn mit einem Lächeln, während die Glocken des Hamburger Michels die volle Stunde ankündigen. Er tritt auf das kleine Holzpodest unter dem Fenster und wartet, bis die zehn Glockenschläge verklungen sind. Dann öffnet er das kleine Fenster und beginnt zu spielen.
Während er spielt, tritt das Rauschen der Straßen in den Hintergrund. Die Sonne scheint Horst Huhn ins Gesicht und spiegelt sich in seiner Trompete. Nach und nach geht er von Fenster zu Fenster. Ab und zu hält er, nachdem er die Trompete abgesetzt hat, inne und schaut noch einen Moment hinaus. „Hier unten ist ein Kindergarten. Wenn die Kinder mich spielen hören, fangen sie oft an zu winken.“ Auf der anderen Seite sieht Huhn den Großneumarkt, lacht und sagt: „Oh, heute muss Mittwoch sein, da unten ist Markt.“
Nach knapp dreieinhalb Minuten ist der letzte Choral gespielt. Wo es eben noch still war, hört man auf den Treppen nun ein leises Stampfen und Gemurmel. Die ersten Besucher steigen die Stufen zur Aussichtsplattform hinauf. Horst Huhn packt seine Trompete wieder ein. Wann er das Amt an einen Nachfolger abgeben will, weiß er noch nicht. „Sagen wir mal so: Wenn sich die ersten Leute beschweren, vielleicht. Oder wenn ich die Treppen nicht mehr hochkomme. Mal sehen.“