Ein Kilo Äpfel für 1,49 Euro? Die Apfelbauern im Alten Land kämpfen ums Überleben. Trotz der guten Ernte im vergangenen Jahr könnten manche bald vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen. Ein möglicher Ausweg: Bio-Äpfel.
Text und Fotos: Fiene Meier
Den Motor von Jannis Schröders Lada hört man schon, als er noch einige hundert Meter auf der Francoper Hauptstraße entfernt ist. Der 28-Jährige kommt gerade von einer nahe gelegenen Apfelplantage, die zu dem Obsthof der Köpkes gehört, auf dem Jannis Schröder Betriebsleiter ist. Jannis hat bei den rumänischen Angestellten seines Betriebs vorbeigeschaut, die draußen in den Obstplantagen neue Bäume pflanzen. Im Frühjahr ist Baumschnitt- und Pflanzenschutzsaison. Wenn die Angestellten auf dem Hof nicht gerade damit beschäftigt sind, junge Bäume zu pflanzen, beschneiden sie die neu ausgetriebenen Äste der alten Bäume akribisch von Hand, damit jeder Apfel später genug Luft, Wasser und Sonne zum Reifen abbekommt.
Noch ist kein Apfel am Baum zu sehen. Aber wenn man ganz genau hinschaut, sieht man die Knospen, die bald zu üppigen, weißen und zartrosa Apfelblüten werden, für die das Alte Land so bekannt ist. Bis es so weit ist, haben alle auf dem Hof Köpke noch viel zu tun. Tagsüber müssen Jannis und seine Angestellten die Bäume auf insgesamt 25 Hektar zurückschneiden und die Böden in den Plantagen bearbeiten. In der Nacht sitzt Jannis in der Kabine seines Lieblingstraktors. Über Bluetooth verbindet er sein Handy mit den Lautsprechern in seinem Fendt 210 V Vario und spielt Musik ab, während er die schnurgeraden Baumreihen abfährt. Hinter dem Traktor zieht er einen Anhänger mit einem langen Arm, der die Bäume in insgesamt vier Apfelreihen zeitgleich mit biologischen Pflanzenschutzmitteln bespritzt. Moderne Technik – für Apfelanbau nach Naturland-Richtlinien.
Wenn Jannis nach dem nächtlichen Ausflug wieder auf den Hof fährt, fallen die Scheinwerfer des Traktors auf ein Plakat, das an Metallösen an einer umgedrehten Apfelkiste festgemacht ist. „Nicht mit uns! Keine Öffnung Alte Süderelbe!“, steht gut leserlich auf dem Plakat geschrieben, das zur Hauptstraße ausgerichtet ist. Zehn Meter weiter reflektiert ein grünes Schild mit der Aufschrift „Naturland“ das Scheinwerferlicht. Ein Gütesiegel, das in den Zeiten der Apfelkrise über Bestehen eines Hofes und dessen Untergang entscheiden kann.
Äpfel aus dem Alten Land zum Discounterpreis
Für das gute Gewissen feilscht heutzutage kaum noch jemand mit den Verkäuferinnen und Verkäufern auf dem Wochenmarkt um jeden Cent. Aldi, Edeka, Lidl und Co. bieten schließlich makellose Ware mit vertrauenserweckenden Siegeln zu Spottpreisen an. Nächste Woche im Angebot: ein Kilogramm Äpfel aus Deutscher Ernte für 1,49 Euro. Von einer Krise der Apfelbauern merkt man im Supermarkt nichts – oder etwa doch?
Jannis lenkt den dunkelgrünen Lada auf der schmalen Straße durch eine Kurve, die parallel zur Este, einem kleinen Nebenfluss der Elbe, verläuft. Der Motor des Wagens brummt gleichmäßig und der lange Schaltknüppel vibriert, wenn Jannis aufs Gaspedal tritt. Jannis hat ein freundliches Gesicht und durch die Sommersprossen auf der Nase und seinen Lippen sieht er aus, als käme er grade aus dem Sommerurlaub. Als er die Situation der meisten Obstbetriebe im Alten Land beschreibt, wirkt sein Blick jedoch besorgt. „Der Obstbau steckt momentan in der Krise“, sagt er.
Besonders schlimm sei die Situation für den konventionellen Obstbau – also die Höfe, die keine Bioware produzieren. Jannis vermutet, dass viele dieser Betriebe, die ihre Ware eins zu eins an einen Händler geben, diese Saison dicht am wirtschaftlichen Ruin stehen werden, sollte sich am Kilopreis für Äpfel nichts ändern.
„Wenn man wirklich hart kalkuliert, dann kommt der konventionelle Obstbauer auf einen durchschnittlichen Produktionspreis von 60 Cent. Der Durchschnittspreis den man als Erzeuger vom Händler bekommt, liegt aber 30 Cent pro Kilo“, so Jannis. Noch vor zwei Jahren war der Produktionspreis in Deutschland deutlich geringer. Es seien mehrere Faktoren, die dafür sorgen, dass sich das Geschäft mit Äpfeln im Alten Land zur jetzigen Zeit nicht wirklich lohnt. Der schlecht zahlende Lebensmitteleinzelhandel sei nur ein Faktor von vielen, so Jannis. „Wohl zurecht hört man von jedem der den Bauern gegenüber etwas kritisch eingestellt ist: Wann hatten die Bauen in den letzten 500 Jahren denn mal ein gutes Jahr?”, sagt Jannis.
„so viele politische Baustellen auf regionaler, Bundes und Europäischer Ebene gab es noch nie”
Der Obstbau der Zukunft: Forschung und Beratung in der Esteburg
Die Esteburg liegt nur dreizehn Minuten Fahrzeit von dem Francoper Betrieb der Köpkes entfernt. Die Hofauffahrt verläuft parallel zu einem breiten Graben. Über eine Holzbrücke und das Torhaus dahinter gelangt man auf die kleine Insel, auf der das ehemalige Herrenhaus steht. Etwa 50 Meter weiter auf dem “Festland“ befindet sich das gleichnamige Kompetenzzentrum für den norddeutschen Obstbau – die Esteburg. Das Kompetenzzentrum, das in einem modernen Gebäudekomplex beherbergt ist, vereint Forschung, Beratung und Bildung rund um den Obstbau unter einem Dach. Auf dem Versuchshof entwickeln Forschende Methoden, wie der Obstbau der Zukunft aussehen kann. Artenvielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt, Obstsorten der Zukunft und Alternativen zum konventionellen Obstanbau sind Forschungsbereiche, mit denen sich Dr. Matthias Görgens als stellvertretender Leiter der Obstbauversuchsanstalt täglich beschäftigt.
Görgens und seine Kolleginnen und Kollegen beraten Obstbetriebe im Alten Land, die etwas verändern wollen. In letzter Zeit seien es vor allem die politischen Entwicklungen, die in der Apfelbranche Unsicherheiten schüren. Im Oktober des Jahres 2022 stieg der Mindestlohn auf zwölf Euro die Stunde. „Das bedeutet eine sieben- bis achtprozentige Kostensteigerung“, so Görgens. Gemeinsam mit der Kostensteigerung durch erhöhte Energiepreise, Düngemittel und andere Ressourcen entstünden in diesem Jahr rund ein Drittel mehr Kosten. Wird der sogenannte Green Deal wie geplant umgesetzt, werden noch mehr Pflanzenschutzmittel aus dem konventionellen Anbau verboten. „Dann wird sich die Apfelkrise noch weiter zuspitzen“, befürchtet der 60-Jährige. Einen Ausweg den sowohl Matthias Görgens als auch Jannis Schröder aus dem Dilemma sehen: die Umstellung eines Betriebes auf Bio.
Elbwasser für Äpfel aus dem Alten Land
„Hier hinten ist das Vogelparadies“, sagt Jannis und nickt in die Richtung eines Fleets, über das eine Brücke führt. Eine einfache Holzhütte schützt die Pumpe, die das Wasser aus dem Beregnungsbecken mittels Drainagen auf die Obstplantagen transportiert – so können die Apfelbäume das ganze Jahr über mit Wasser versorgt werden. Unzählige kleine Fleete und Wetter, kleine künstlich angelegte Wasserstraßen, durchziehen die Obstplantagen im Alten Land. Das Wasser kommt zum größten Teil aus der Elbe und den zahlreichen Seitenarmen der Elbe.
Seit der Elbvertiefung hat der Salzgehalt im Elbwasser vor allem im Alten Land deutlich zugenommen. Früher lag die Mischwasserzone bei Cuxhafen, inzwischen liegt die obere Brackwassergrenze zwischen Stade und Hamburg. Sollte sich der Salzgehalt des Wassers im Alten Land noch weiter erhöhen, müssten die Obstbauern sehen, wo sie ihr Wasser für die Obstplantagen herbekommen.
Wasser ist für die Qualität des Obstes ein essentieller Grundbaustein. „Beim Wasser haben wir hier in Francop einen echten Standortvorteil”, sagt Jannis. In Francop kommt das Wasser aus der Alten Süderelbe – einem stillgelegtem Seitenarm der Elbe. Dadurch, dass die Alte Süderelbe kaum von den Gezeiten der Elbe beeinflusst wird, können sich Schwebstoffe und Sedimente im Gewässer absetzen. Verdrecktes Elbwasser sowie ein erhöhter Salzgehalt sind für die Francoper Höfe kein Problem, zumindest noch nicht. Über die immer wiederkehrende Debatte in der Politik, dass die Alte Süderelbe an die Elbe angeschlossen werden könnte, sind die Obstbauern besorgt. Das Plakat „Nicht mit uns! Keine Öffnung Alte Süderelbe!“ fällt auf dem Weg durchs Alte Land an vielen Hofauffahrten und Privatgrundstücken ins Auge.
“Zwei Jahre finanzielles Risiko”: Auf Bio umzustellen, erfordert Geduld
Das Land des Francoper Betriebs der Köpkes grenzt direkt an das Grundstück eines Nachbarn an. Baum an Baum, Reihe an Reihe – bis hin zum Schlickhügel, der kurz vor dem nächsten Ort Finkenwerder liegt. Ein einfaches Element eines Bauzauns grenzt das Land der benachbarten Höfe ab. Dass sich die Bäume vom Francoper Betrieb der Köpkes von denen der Nachbarn unterscheiden, sieht man den Bäumen auf den ersten Blick nicht an. Alle Bäume stehen in regelmäßigen Abständen in langen Baumreihen. Nur die Erde rund um die Wurzeln der Bäume sieht etwas anders aus.
Der Obsthof Köpke gehört zu einem der größeren Höfe des Hamburger Teils im Alten Land. Denn neben dem Francoper Betrieb, auf dem Jannis Betriebsleiter ist, gehört noch ein Betrieb in Neunfelde zum Obsthof Köpke. Bisher haben die Köpkes hier noch konventionell auf sechzehn Hektar Land Äpfel und Birnen angebaut. In diesem Jahr stellt auch der Neuenfelder Betrieb der Köpkes auf Bio um. Zwei Jahre dauert der Umstellungsprozess von einem konventionellen Betrieb auf Bio. „Die Umstellung von konventionell auf Bio bedeutet zwei Jahre finanzielles Risiko“, sagt Jannis. Die Apfelbäume dürfen zwar stehen bleiben, obwohl an den Bäumen zuvor konventionelles Obst gewachsen ist. Aber die Ernte, die die Bäume hergeben, darf in den nächsten zwei Jahren nur als B-Ware verkauft werden. B-Ware auf einem ohnehin schon übersättigten Markt loszuwerden, sei alles andere als einfach.
Deutsche Apfelbauern ernteten im Jahr 2022 rund 1,1 Millionen Tonnen Äpfel. Damit hätten sie rund 60 Prozent des bundesweiten Bedarfs an Äpfeln abgedeckt berichtet Jannis. Zusätzlich kaufe der Lebensmittelhandel rund 60 Prozent des Bedarfs im Ausland ein – zu deutlich günstigeren Kilopreisen.
„Der deutsche Markt ist komplett übersättigt“
Viele Obstbauern im Alten Land pflegen lang bestehende Familientraditionen. „Du könntest fünf Bauern an denselben Baum stellen und fändest sieben verschiedene Meinungen“, sagt Jannis. Zur Umstellung auf Bio gebe es genauso viele Meinungen. Grade bei Mehr-Generationen-Betrieben ist die Umstellung auf Bio nicht immer einfach. Früher sah das Handwerk und der Obstbau noch ganz anders aus. Damals wurden Pflanzenschutzmittel, die heute verboten sind, im Frühjahr zweimal auf die fünf Meter hohen Bäume gespritzt – das reichte an Pflanzenschutz aus. Heutzutage wird jeder Baum bis zu 25 Mal von Frühjahr bis zur Ernte mit streng kontrollierten Pflanzenschutzmitteln behandelt. „Das, was heute konventioneller Anbau ist, war für ältere Generationen damals Bio“, sagt Jannis. Bio nach heutigen Richtlinien ist eine vollkommen neue Aufmachung des Berufs. „Für die Alten gehört das Land glatt und schier und keinerlei Kraut unter den Baum.“ Beim Bioanbau mähen die Apfelbauern nur jede zweite Reihe, um auf der 10.500 Hektar großen Fläche im Alten Land, im langen Gras, Lebensraum für Tiere zu lassen.
Ein dröhnender Klingelton kommt aus Jannis Handylautsprecher. Das Dröhnen klingt, als würde man vor einer heranrollenden Naturkatastrophe gewarnt. In der Pflanzenschutzsaison bedeutet der Klingelton, dass es Zeit ist, die Bäume vor Frost und Schädlingen zu schützen. „So wird man zumindest um vier Uhr nachts wach“, sagt Jannis. Bei diesem Anruf geht nur darum, dass ein Tankfahrzeug kommt und Diesel für den Francoper Betrieb bringt. Auf dem Weg zurück zum Hof brummt der Lada vertraut, der von außen aussieht wie ein Reptil, das sich an seine Umgebung angepasst hat. Hinter den Wolken strahlt die Sonne hervor und in den Pfützen spiegelt sich der Himmel.
Qualität, die der Kunde bestenfalls schätzt
„Unsere Rettung kann letztendlich nur sein, dass wir einen stabileren nationalen Markt bekommen. Und dass der Kunde am Ende auch alles, was über das Produkt Apfel an sich hinweg geht, viel mehr wertschätzt“, sagt Jannis. Dazu gehören der Mindestlohn, eine ansprechende Unterbringung direkt an der Arbeitsstätte, ausreichend Landfahrzeuge für die Arbeiten der Saisonarbeiter*innen, eine Kranken- und Unfallversicherung. Soziale Standards, die im Ausland nicht existieren. „Einen deutschen Apfel zu essen, ist heutzutage ein Statement“, sagt er. Neben den sozialen Faktoren spielen auch Nachhaltigkeit und Effizienz eine wichtige Rolle. Pflanzen werden gezielt mit Präzisionstechnik gespritzt, damit möglichst wenig Pflanzenschutzmittel abdriftet. Die Altländer Bienenverordnung bewirkt, dass alle Altländer Betriebe im Sommer nur nachts spritzen, weil da keine Bienen fliegen und die Bienen geschützt werden müssen. Wanderimker kommen zur Blüte mit 20 bis 25 Völkern pro Betrieb. Jeder Betrieb rüstet nach und nach Technik und Landmaschinen nach – um den Anforderungen der Anbauverbände gerecht zu werden.
Es wird Frühling. Vereinzelt sieht man das Weiß und Rosa der Apfelblüten schon aus den halb geschlossenen Knospen hervorsprießen. Nicht mehr lang und zahlreiche Besucher strömen ins Alte Land, um die Apfelblüte zu bewundern. Große Reisebusse bringen die Menschen zum nächsten Hofcafé, bei dem es hausgemachten Butterkuchen und dazu Kaffee gibt. Jannis sitzt in seinem Lada und ist auf dem Weg zu seinen rumänischen Angestellten. Heute bearbeiten sie den Boden – so schier und glatt wie es eben geht.
Fiene Meier, Jahrgang 1998, hat im Chor von Rolf Zuckowski gesungen, ein Autogramm von Robbie Williams bekommen und Manuel Neuer die Schienbeinschoner angezogen – letzteres, als sie bei den DFL-Media-Days aushalf. Ihre Oma interessierte trotzdem nur, ob sie schon einen „lütten Brödigam“ gefunden hat. Hat sie mittlerweile, genau wie den Weg vom Bachelor in Sportmanagement und -kommunikation in Köln zurück nach Finkenwerder. Als echtes Nordlicht hat Fiene Linnea Sissel nicht nur zwei norwegische Vornamen: Zu Hause schnackt sie Plattdüütsch und ist sonst auf der Fähre, dem Wakeboard oder dem Handballfeld unterwegs. Was sie noch lernen will? Einen Salto aus dem Stand. Kürzel: fie
Bio Äpfel aus dem Alten Land von Fiene Meier:
Ein vielschichtiger, lebendiger Bericht mit interessanten Details. Liest sich hervorragend und ist strukturell sehr gut aufgebaut. Gute Recherche!