Im Mittelalter war Plattdeutsch eine Weltsprache. Heutzutage ist sie auch in Hamburg vom Aussterben bedroht. Aber ein paar Retter kämpfen dagegen an. Was motiviert sie und warum lohnt es sich, Plattdeutsch zu retten?

Illustrationen: Marie Lunkenheimer

„Moin, moin! Alle dor?“ Anja Meier schaut in den fast leeren Klassenraum in der Aueschule Finkenwerder und kennt schon die Antwort auf ihre Frage. Fünf Drittklässler*innen sitzen heute in ihrem Plattdeutsch-Unterricht im Stuhlkreis. Mehr sind es zurzeit nie. Immerhin unterrichtet sie heute die „Crème de la Crème“, wie Anja sagt. Die 63-Jährige hat kurzes, dunkelblondes Haar, trägt robuste Schuhe, Jeans und einen blau-weiß gemusterten Pullover. „Ik bün Frau Meier. Wo heetst du?“ Bei richtigen Antworten flüstert sie „gooood“ und klingt dabei fast erstaunt, selbst wenn sie jedes Wort vorgesagt hat. Dabei wechselt sie ständig zwischen Platt- und Hochdeutsch.

Nach der Vorstellungsrunde und den Zahlen „een“ bis „teihn“ geht es weiter mit einem Crashkurs in platt- und norddeutscher Geschichte. Dass plattdeutsche Wörter oft englisch klingen, weiß Ivy schon. Pius meldet sich. Er ist bei der Finkwarder Speeldeel aktiv, einer plattdeutschen Folkloregruppe, trägt heute einen HSV-Pulli und hat seine HSV-Trinkflasche dabei. Warum in England früher Plattdeutsch gesprochen wurde, hat er schon gelernt: „Ich glaub, Klaus Störtebeker ist da mit seinen Piratenschiffen hingefahren“. „Ahaaa, da hast du völlig recht“, flüstert Anja. Laut wird sie meistens nur, wenn sie etwas stört. Dann macht sie klare Ansagen.

Aus ihrer braunen Ledertasche holt sie einen gelben Würfel hervor, der auf jeder Seite ein plattdeutsches Wort zeigt. Louis würfelt „Moin“. „Wann seggst du dat?“, fragt Anja. Ivy: „Morgens, mittags und abends“. „Kannst du jümmer seggen, ne? Gooood“, sagt Anja zufrieden und redet ab jetzt mehr Plattdeutsch mit den Kindern.

Szene aus Anja Meiers Plattdeutschunterricht.
Szene aus Anja Meiers Plattdeutschunterricht.

Von Störtebeker bis Zuckowski

Ihren „Schölers“ bringt sie die Aussprache auf Finkwarder Platt bei, die Schreibweise allerdings auf „Hochplattdeutsch“ gemäß dem Wörterbuch nach Johannes Sass. Fließend wird wohl niemand durch ihren Unterricht Plattdeutsch sprechen können, glaubt Anja. Dafür müsste ihr Wahlpflichtkurs öfter als nur einmal in der Woche stattfinden und dürfte nicht so oft ausfallen. An ihrem Einsatz liegt es nicht: Sie hat ein Schulbuch für Plattdeutsch entwickelt, ist Fachreferentin für Niederdeutsch bei der Hamburger Schulbehörde und setzt sich dafür ein, dass jedes Kind in Hamburg Plattdeutsch-Unterricht in der Schule bekommt. Auch von Plattdeutsch als Abiturfach träumt sie. Dafür fehlen aber oft das Geld und die Lehrer*innen. Momentan wird Plattdeutsch an einigen Hamburger Schulen bis zur siebten Klasse angeboten. Anja führt eine junge Lehrerin ans Plattdeutsch-Unterrichten heran, die sich die Sprache im Laufe ihres Studiums beigebracht hat.

Was Anja dabei antreibt, die Sprache an Schüler*innen weiterzugeben: „Es ist ja auch identitätsstiftend. Wenn sie anfangen, Plattdeutsch zu lernen, ist es völlig egal, was ihre Muttersprache ist. Das ist eine riesige Chance, sich auch mit dieser Stadt zu identifizieren.“ Wahrscheinlich auch deswegen spielt sie ihren „Schölers“ Lieder wie „Snack mol wedder Platt“ von Rolf Zuckowski vor, dessen Zeilen Anjas Motto sein könnten: „Snack mol wedder Platt, ja, ich würd` so gern, du in Land un Stadt, öfter Plattdeutsch hör`n.“ Zu Hause spricht Anja mit ihren Kindern oft Finkwarder Platt. Drei ihrer vier Kinder waren, wie Pius, bei der Finkwarder Speeldeel und sind mit Rolf Zuckowski aufgetreten.

Während sie zuhören und ab und zu mitsingen, malen die fünf Kinder ein Bild des Lübecker Rathauses aus. Eigentlich möchte Anja ihnen noch das Lied „Liekedeeler“, also Gleichteiler, der Band Santiano über Claus Störtebeker und seine Seefahrer vorspielen. Klappt heute aber nicht. Das Schulinternet streikt mal wieder. Damit sie merken, wie präsent plattdeutsche Wörter in Hamburg sind, macht Anja mit ihren Klassen gerne Exkursionen, zum Beispiel in einen nahegelegenen Edeka. Dort steht „Moin, moin“ oder „Kiek mol wedder in“ auf der Wand oder den Türen, was die Kinder zuerst gar nicht wahrnehmen würden.

Plattdeutscher Michael Jackson 

In einem von Anjas Lieblingsorten, der Niederdeutschen Bibliothek im Hamburger Komponistenquartier, findet ein paar Tage später eine Eröffnung statt. Die Carl-Toepfer-Stiftung, die sich für den Erhalt plattdeutscher Sprache und Kultur einsetzt, hat eingeladen: Etwa 40 Gäste feiern die neue Ausstellung über den plattdeutschen Humoristen und Liedermacher Heinrich, Spitzname „Hein“, Köllisch. Anwesend sind Nachfahren von Köllisch, unter anderem sein Ur-Ur-Urenkel, und „Heiner, de Plattsnacker“. Der heißt im richtigen Leben Heinrich Evers, ist Plattdeutschbeauftragter im Kreis Ostholstein und bezeichnet Hein Köllisch in seiner Rede als „Michael Jackson vun Plattdüütsch“. An einer Wand ist eine Karte von Norddeutschland mit dem Titel „Hier gifft dat Platt“ zu sehen, auf der die regionalen Dialekte der plattdeutschen Sprache eingezeichnet sind.

Zum Einstieg der Veranstaltung singt ein älterer Mann mit Gitarre plattdeutsche Lieder von Köllisch, unter anderen eines über Brombeeren: „Rühmorgens, wenn die Hähne krähen, ziehn wir zum Tor hinaus! Jo, ik dach mi obers, denn geihst du in de Brommelbeern.“ Die Gäste hören aufmerksam zu, lachen bei manchen Zeilen und fragen ihre Sitznachbar*innen nach der hochdeutschen Übersetzung bestimmter Wörter.

Unter 60 ist hier kaum jemand. „Verblüffend viele junge Leute“ seien da, sagt Ulrike Möller, die die Bibliothek leitet. Mehr als fünf sind es nicht. Ungefähr 23.000 Bücher auf oder über Plattdeutsch stehen in der Bibliothek. Entstanden ist sie aus der Büchersammlung von Stiftungsvater und Unternehmer Alfred Toepfer. In Ulrikes Büro steht auf der Wand hinter ihrem Schreibtisch ihr Lieblingszitat aus einem plattdeutschen Gedicht von Waltrud Bruhn: „Reinweg in Dulldrööm, bi all de schönen Dingen in Gardens. Deep galt der Atem.“ Das bedeutet in etwa: „Komplett in einem verrückten Traum, bei all den schönen Dingen im Garten. Tief geht der Atem.“ Wenn sie es vorliest, gerät sie ins Schwärmen: „So sitze ich hier mitten in Hamburg und kann von meinem Garten auf dem Dorf träumen.“

Ulrike Möllers Lieblingspassage aus einem plattdeutschem Gedicht.
Ulrike Möllers Lieblingspassage aus einem plattdeutschem Gedicht.

Frühere Weltsprache

Auf Plattdeutsch fließend unterhalten kann sich Ulrike in Deutschland theoretisch mit 2,5 Millionen Menschen, also rund drei Prozent der deutschen Bevölkerung. Im Vergleich zu Bayrisch, was ungefähr 12 Millionen Menschen sprechen, nicht sonderlich viel. Dabei ist Plattdeutsch, anders als Bayrisch oder Kölsch, kein Dialekt, sondern eine anerkannte Sprache: 1998 wurde sie in die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen aufgenommen. Weil die Niederdeutsch Sprechenden keine nationale Minderheit bilden, zählt Plattdeutsch zu den Regional- und nicht zu den Minderheitensprachen. Circa jede zwölfte Person spricht in Hamburg Plattdeutsch. In Schleswig-Holstein, dem Bundesland mit den meisten Plattschnacker*innen, ist es je nach Quelle jede vierte. Dabei war Plattdeutsch vom 12. bis zum 16. Jahrhundert quasi eine Weltsprache: Als offizielle Handelssprache des hansischen Wirtschaftsraums wurde dank der Seefahrer*innen in den Hansestädten Russlands, Belgiens, Norwegens und Englands Plattdeutsch gesprochen.

Mit dem Niedergang der Hanse verlor Plattdeutsch jedoch zunehmend an Bedeutung und wurde zur Sprache der kleinen Leute. Das entspricht auch der ersten Erwähnung des Wortes Plattdeutsch im Jahr 1524 in einer niederländischen Ausgabe des Neuen Testaments: Dort wird betont, dass das Werk „in gode platten duytsche“, also in klarem bzw. verständlichem Deutsch, verfasst sei. Nach seinem Siegeszug im Mittelalter verschwand das Niederdeutsche zunehmend und wurde teilweise an norddeutschen Schulen verboten. Nur einzelne Begriffe wie „Moin“, was nicht etwa von Morgen, sondern vom plattdeutschen Wort „moi“ für schön kommt, sind auch in Hamburg bis heute geläufig.

Vorlesewettbewerbe fake?

Damit die niederdeutsche Sprache nicht ausstirbt, gibt es Vorlesewettbewerbe, bei denen Schüler*innen plattdeutsche Geschichten vortragen. Anja hält diese Wettbewerbe größtenteils für „fake“, wie sie sagt. Gerade die teilnehmenden Abiturient*innen würden oft kein Plattdeutsch beherrschen. „Die suchen sich dann irgendeine Geschichte raus und lernen das quasi auswendig.“ Bei der Preisverleihung, die meistens im Ohnsorg-Theater stattfindet, könnten viele Schüler*innen gerade so auf Plattdeutsch sagen, wie sie heißen. „Aber egal“, schiebt sie hinterher, „sie lesen immerhin. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit der Sprache.“

Es gibt auch echte Erfolgsstorys von plattdeutschen Vorlesewettbewerben. Zum Beispiel die von einem ukrainischen Mädchen, das im Zuge des russischen Angriffskriegs in den Oldenburger Raum gezogen ist. Schon ein Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland konnte sie den Schulentscheid beim plattdeutschen Vorlesewettbewerb gewinnen und vertrat ihre Schule auf Kreisebene.

Nicht nur lustiger Schlager

Das Vortragen und Vermitteln plattdeutscher Werke ist für Christian Richard Bauer eine Herzenssache. Bei der Ausstellungseröffnung im Komponistenquartier sticht der Schauspieler und Sänger allein schon durch seine Größe und sein vergleichsweise junges Alter aus den Besuchenden heraus. Seine kantigen Gesichtszüge verwandeln sich in ein zugewandtes Lächeln, wenn er mit den anderen Gästen spricht.

Shakespeare hat der 38-Jährige schon ins Niederdeutsche übersetzt und am Ohnsorg-Theater plattdeutsche Stücke aufgeführt. Mittlerweile spielt er vor allem am Imperial Theater, steht aber auch für das Youtube-Format „Platt2Go“ des Ohnsorg-Theaters vor der Kamera. Dort interviewt er Personen, die sich in der plattdeutschen Szene engagieren. Mit ruhiger Stimme und wachem, fokussiertem Blick erzählt er davon, dass er gerade einen plattdeutschen Liederabend mitgestaltet. Sein Anspruch dabei ist es, „Plattdeutsch wirklich als ernsthafte Kultursprache zu etablieren.“ Deswegen will er „nicht nur lustigen Schlager und plattdeutsche Lieder über Gummistiefel“ präsentieren.

Zusammen mit dem Länderzentrum für Niederdeutsch hat er Videos für den Grundschulunterricht produziert, speziell für Lehrer*innen ohne große Plattdeutschkenntnisse. Christian sieht Plattdeutsch als Chance für ganz Norddeutschland, „da wir aus verständlichen Gründen sehr vorsichtig umgehen mit Heimat und Wurzeln in Deutschland.“ Eigentlich seien diese regionalen Wurzeln sehr wichtig, was sich beispielsweise in Bayern oder beim Karneval im Rheinland zeige. „Das haben wir in Norddeutschland ein bisschen verloren. Ich finde, man merkt, dass da ein sehr großer Wunsch nach Identifikation und Wurzeln ist und da ist Plattdeutsch einfach ein Teil von.“

Schauspieler trägt im Theater plattdeutsches Stück vor.
Christian Richard Bauer bringt plattdeutsche Stücke auf die Theaterbühne.

Plattdeutsch als Integrationshilfe

Christianne Nölting leitet das Länderzentrum für Niederdeutsch und bekommt Gänsehaut, wenn sie von fünf russischen Pflegekräften berichtet, die ihr nach einem Plattdeutschkurs erzählt haben: „Wir haben auf einmal ein ganz anderes Verhältnis zu Pflegenden und wussten gar nicht, dass es hier so eine Sprache gibt. Jetzt wissen wir auch endlich, was die ganzen Straßennamen oder Dat Backhus bedeuten. Jetzt kommen wir nochmal ganz anders in Norddeutschland an.“

Christianne ist Muttersprachlerin und hat Plattdeutsch studiert. Wie sehr die Regionalsprache bei der Integration helfen kann, hätte sie aber durch die russischen Pflegekräfte gemerkt. Wenn sie über Plattdeutsch spricht, wird klar, dass es ihr um mehr als nur das Lernen einer Sprache geht. „Wenn ein Baum feste Wurzeln hat, kann er gut wachsen“, sagt sie. Dann sei auch die Angst vor Fremden nicht so groß.

 Christianne Nölting ist es wichtig, dass Plattdeutsch mehr als nur eine Sprache ist.
Christianne Nölting ist es wichtig, dass Plattdeutsch mehr als nur eine Sprache ist.

Luca Bradley, Jahrgang 1998, hätte fast Louis geheißen, weil sein Vater Louis Armstrong so liebt, doch seine Mutter legte ihr Veto ein. Luca stammt aus Dormagen, aber mindestens eine Hälfte seines Herzens schlägt für das Geburtsland seines Vaters, England. Er liebt eigentlich jede Art von Musik, außer Schlager und Metal. Luca spielt zwar nicht Trompete wie Louis Armstrong (und nur miserabel Horn), singt aber in einer Big Band und auf Hochzeiten, spielt Gitarre und Klavier. In Düsseldorf studierte er Sozialwissenschaften und startete währenddessen seinen eigenen Musik-Podcast – natürlich über alles außer Metal und Schlager. (Kürzel: luc)

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