Nur jede fünfte Person im Hamburger Radsport ist weiblich. Die Kandie Gang und der FC St. Pauli versuchen, etwas daran zu ändern. FINK.HAMBURG hat sie bei ihren Ausfahrten begleitet.
Laut surrende Freiläufe gefolgt von quietschenden Scheibenbremsen kündigen die ersten Teilnehmer*innen der Radausfahrt an. Einige tragen lilafarbene Trikots und schieben gleichfarbige Rennräder mit türkisen und pinken Akzenten – die Farben der Kandie Gang, einer Radsportgruppe, die FLINTA* und BIPOC in einem sicheren Raum die Fahrradkultur näher bringen möchte. Immer mehr Rennradfahrer*innen finden sich in einer kleinen Straße auf St. Pauli zusammen – der Bürgersteig ist bald hoffnungslos überfüllt. Eine Frau mit Lastenrad bahnt sich mit genervtem Gesichtsausdruck ihren Weg durch das Labyrinth aus Fahrrädern und Menschen mit Helmen auf dem Kopf.
Es ist Saisonauftakt. Das erste Mal in diesem Jahr kommen die Mitglieder der Kandie Gang zusammen für einen Social Ride. Die Idee dahinter klingt simpel: in der Gruppe Rennrad fahren. Doch bei der Anmeldung gibt es eine Besonderheit: „Wir reservieren immer mindestens 50 Prozent der Tickets für FLINTA*”, erklärt Katrin Hesse, die den Ride mit organisiert. Zu dieser Gruppe zählen Frauen, Lesben und intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Personen. Damit wolle die Radsportgruppe Frauen und andere benachteiligte Personengruppen fördern, ohne Männer auszuschließen.
Das Tor zur Hamburger Radsportwelt
Die Teilnehmer*innen der Rides werden entsprechend ihrer selbst eingeschätzten Fähigkeiten in vier Gruppen eingeteilt, die unterschiedliche Strecken zurücklegen. Es geht los. Kathi Sigmund führt zum Saisonstart als Guide die Anfängergruppe an. Die 53-Jährige fährt eines der Kandie-Gang-Räder – eine limitierte Sonderproduktion. Ihre verspiegelte Sonnenbrille reflektiert die Abendsonne. Während der Fahrtwind ihre Stimme dämpft, sagt sie: „Es geht nur um den Sport und nicht darum, wo du im Leben stehst”. Die Ampel an der Reeperbahn in Richtung Elbe springt auf Rot. Mit einem ausgestreckten Handzeichen nach oben und dem Kommando „Stopp“ bringt Kathi die zehnköpfige Gruppe zum Stehen. Die Anweisung wird durch die Zweierreihen bis ans Ende weitergegeben.
Gemeinsam mit Kerstin Rose, die das Café Kandie Shop in der Wohlwillstraße betreibt, und mit der Fahrradmechanikerin Janine Buschmeyer hatte Kathi 2019 die Idee, ein eigenes Frauenradsport-Team zu gründen. Schon länger habe sie beobachtet, dass Frauen im Rennbereich viel zu wenig sichtbar seien: Im Frühjahr 2021 entstand aus dieser Vision die Kandie Gang. Sechs Monate später bildete sich ein Rennteam in den Disziplinen Cyclocross und Gravel. Die Social Rides führen häufig entlang der Elbe hin zum Hauptdeich und zur Insel Kaltehofe.
Die Velo Clique vom FC St. Pauli
Diese Route nimmt nicht nur die Kandie Gang bei ihren Rides. Auch Franziska Evers vom FC St. Pauli führt die FLINTA*-Radsportgruppe des Vereins – genannt Velo Clique – regelmäßig über den Asphaltweg am Deich. Acht Teilnehmer*innen sind zum Training der Frauen an diesem Apriltag gekommen. Während sie sich kreisförmig um Franzi versammeln, klackern ihre Fahrradschuhe mit den Metallplatten über die Pflastersteine. Immer wieder fahren Rennradfahrer*innen alleine oder in Gruppen vorbei. Die Oberbaumbrücke ist das Tor zur Hamburger Radsportwelt.
Franzi fragt die Teilnehmenden, welche Handzeichen ihnen bekannt sind. Mit Hilfe von Trinkflaschen demonstriert die freiberufliche Fotografin, wie man in der Gruppe kreiselt. Nach dem Prinzip des belgischen Kreisels rotieren die Fahrer*innen alle paar Minuten innerhalb der Zweierreihen in Richtung des Uhrzeigers und wechseln so ihre Position. Mit scherzhaftem Unterton nennt Franzi den letzten Hinweis: „Wir wollen so wenig Freilauf hören wie möglich!” Dann verschwinden ihre blonden Haare unter dem Helm. Sie will aufbrechen, bevor alle auskühlen – der Wind pfeift.
Ein Blick auf die Zahlen
In Hamburgs Radsport waren im Jahr 2022 mehr als 80 Prozent der Vereinsmitglieder Männer. Doch neue Angebote vom FC St. Pauli oder der Kandie Gang sorgen für Veränderung. Laut Angaben des Radsportverbands Hamburg (RVH) ist die Anzahl der weiblichen Mitglieder seit 2005 um etwas mehr als ein Viertel gestiegen. Für die Männerdomäne Radsport ein echter Fortschritt. Immerhin jedes fünfte Mitglied ist nun weiblich. Damit liegt Hamburg allerdings unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Im Bund Deutscher Radfahrer ist ein Drittel weiblich.
Dass mehr Frauen den Weg in Hamburgs Radsport finden, liegt vor allem an einer Person: Kathi. Die 53-Jährige hat nicht nur die Kandie Gang mitgegründet. Seit 2008 ist sie auch beim FC St. Pauli aktiv und baute dort die Triathlonabteilung auf. Als sie mit der Idee einer reinen Frauenausfahrt an die männliche Abteilungsleitung herantrat, habe die Herrenrunde dafür keine Notwendigkeit gesehen. Man hätte ihr empfohlen, diese Idee bei anderen Vereinen vorzustellen.
Doch Kathi ließ sich nicht beirren. „Meine Motivation, daran etwas zu ändern, war dann umso größer”, sagt sie grinsend. Schließlich konnte sie sich durchsetzen. Beim FC St. Pauli entstand das Amt der Frauenkoordinatorin. 2016 leitete Kathi dann die ersten Angebote für Frauen. Seit der Verein nun auch FLINTA*-Trainings anbietet, sei der Anteil der Neuzugänge von Frauen und Männern fast ausgeglichen, verkündet sie stolz.
Auch bei der Kandie Gang erfreut sich das Angebot der gemischten Social Rides und der reinen FLINTA*-Rides einer großen Nachfrage. Katrin Hesse muss nicht lange überlegen: „Es hat ziemlich schnell eingeschlagen wie eine Bombe!” Die Leute seien froh gewesen, während der Corona-Pandemie endlich wieder in Gruppen fahren zu dürfen.
Unterschiedliche Ambitionen im Radsport
Der Level-Eins-Ride von Kathi fährt entlang der Dove Elbe durch Ochsenwerder und Reitbrook. Die Gruppe überholt einen Radfahrer, die Gruppenführerin klingelt zusätzlich. Trotz vieler Anfänger*innen in der heutigen Gruppe, bewegt sich das Peloton fast wie eine Einheit und schlängelt sich an den anderen Verkehrsteilnehmer*innen vorbei. Die Fahrräder rattern über eine Holzbrücke. Kathi bemerkt überrascht, dass die Gruppe recht flott unterwegs ist: „Normalerweise sollte das durchschnittliche Tempo bei den Anfänger*innen über 20 Kilometer pro Stunde liegen.” Heute sind es knapp 24.
Annette Eicker und Janine Bartöck radeln vorne mit. Denn die 45-jährige Professorin für Geodäsie und die gleichaltrige Projektmanagerin sind keine Rookies, also Anfänger*innen. Beide fahren seit der vergangenen Saison bei der Kandie Gang mit. Annette schätzt die Gang, weil sie gerne in der Gruppe fährt. „Man ist willkommen, auch wenn man noch nicht so professionell fährt”, sagt sie laut, um vom Fahrtwind nicht übertönt zu werden. Dann muss sie schnell einen Schlenker fahren. Kathi, die Vorne fährt, weist mit ihrem Finger nach rechts unten neben ihr Bike. Der Grund: ein Loch im Asphalt.
Radsportangebote für FLINTA* und Allies in Hamburg
Die Kandie Gang bietet in der Sommersaison wöchentlich dienstags einen Social-Ride an. Treffpunkt um 18 Uhr ist der Kandie Shop. Die Velo-Clique des FC St. Pauli trainiert wöchentlich. Montags von 18.30 bis 20.30 ist der Termin für Anfänger*innen und Fortgeschrittene. Mittwochs zur gleichen Zeit trainiert die Profi-Gruppe der FLINTA*. Treffpunkt ist die Oberbaumbrücke an den Deichtorhallen.
Warum braucht es exklusive Gruppen?
Vor sechs Jahren kaufte sich Annette ihr Rennrad. Von der Kandie Gang erfuhr sie bei einer anderen Radgruppe. Früher sei sie beim Mountainbiken viel mit Männern zusammen gefahren. Deshalb störe sie eine gemischte Gruppe nicht. Trotzdem könne sie nachvollziehen, warum es den Schutzraum von reinen FLINTA*-Gruppen brauche: „Es setzt die Einstiegshürde in den Radsport herab”, sagt Annette. Darüber hinaus hat die 45-Jährige erlebt, dass Frauen bei zu hohem Tempo in gemischten Gruppen eher aussteigen als sich zu melden. In einer reinen Frauengruppe passiere das nicht.
Janine bestätigt diesen Eindruck: „Das Problem bei Männern ist, die fangen schnell an zu ballern. Und einige fahren ohne Rücksicht auf Verluste”, sagt sie. Als Frau fühle man sich dann schnell schlecht. Das Cyclocross-Rad der 45-Jährigen fällt auf: Ein grüner Frosch dient ihr als Klingel. Ein Überbleibsel davon, dass sie sich das Rad mit ihrem Mann geteilt hat. Die Fahrten mit der Kandie Gang nutzt sie als Vorbereitung für ein Radrennen im August – die Cyclassics Hamburg. Beim Erzählen wird sie unterbrochen: Ein LKW überholt die Radgruppe, ein parkendes Auto verengt die Fahrbahn. Auf Kommando wechseln die Radfahrer*innen von der Zweierreihe zur Einerreihe. Wie die Zähne eines Reißverschlusses rutschen die Rennräder in eine Linie.
“Sobald es ein gemischtes Training ist, verändert sich die Gruppendynamik“
Der FC St. Pauli möchte den Radsport auch noch mehr Personengruppen zugänglich machen. Deshalb bietet der Verein exklusive Fahrten an. „Für alle Personen, die sich der Gruppe der FLINTA* zugehörig fühlen”, ordnet Cecilia Farias Marchant genauer ein. Die Radsportlerin, die schon Südafrika und Israel mit dem Fahrrad bereiste, ist beim Verein seit 2021 für die Diversitätskoordination zuständig. Sie ergänzt beschwichtigend: „Wir sind sicher kein männerfeindlicher Bereich. Aber wir wollen ein Ambiente beibehalten, das geprägt ist durch Akzeptanz, Vertrauen und sportlichen Ehrgeiz. Sobald es ein gemischtes Training ist, verändert sich die Gruppendynamik”, sagt sie. Die 51-Jährige trägt eine gelbe Warnweste über ihrem schwarz-weißen St. Pauli-Trikot.
Der Level-Eins-Ride der Kandie Gang erreicht als erstes den Kandie Shop. Nach und nach trudeln auch die anderen Gruppen ein. Katrin Hesse wirft sich wieder ihre schwarze Radjacke über – es wird langsam kalt. Sie setzt sich auf eine Bank des benachbarten Cafés. Die 44-Jährige schwärmt vom neuen Fahrrad der Marke Open: „Ich finde der Namen passt so gut zu uns”, sagt sie. Und weiter: „Offen sein gegenüber feministischer Vielfalt, also wirklich für alle was anzubieten. Von Anfänger, die noch nie in der Gruppe gefahren sind, bis hin zum Race Team.” Eine Teilnehmerin, die mit einem von ihrem Onkel geerbten Rennrad mitgefahren ist, lächelt glücklich. Sie sei das erste Mal dabei gewesen und wolle beim nächsten Ride wiederkommen.
Wenn Jolan Geusen, Jahrgang 2000, nicht gerade Tofuhack-Bolognese kocht, hört er Fußball-Podcasts. Seit einem Kreuzbandriss fährt er allerdings Rad, statt zu kicken. Als Kind wollte er Archäologe werden, entschied sich dann aber zum Studium der Politik- und Medienwissenschaft in Bonn. Journalistische Erfahrung sammelte er beim ARD MoMa, nebenbei arbeitet Jolan als freier Mitarbeiter beim „Bonner Generalanzeiger“. Der gebürtige Eifler kann bei 150 “Drei ???”-Folgen anhand der ersten 20 Sekunden den Titel benennen. Bis heute würde er gern einmal ein Bier mit den Sprechern der drei Detektive trinken. (Kürzel: lan)